Dr. Kamran Matin, Kurdistan Report 176 | November/Dezember 2014
Der epische Widerstand von Kobanê gegen den völkermörderischen Angriff des Islamischen Staates (IS) geht nun in seinen 30. Tag. Bisher reagierte die Linke im Westen vor allem mit Solidarität. Dennoch scheint sie sich darüber uneins zu sein, wie Kobanê am besten zu unterstützen wäre. Ein großer Teil der Linken schreckte unter Bezug auf antimilitaristische und antiimperialistische Grundprinzipien davor zurück, für die hauptsächlichen VerteidigerInnen der Region, die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), den militärischen Flügel der Partei der Demokratischen Einheit (PYD)1, Waffen- und logistische Hilfe von der US-geführten Anti-IS-Koalition zu fordern. Darüber hinaus haben viele westliche Linke, mit einigen Ausnahmen wie David Graeber, die historische Bedeutung und die politische Transformationskraft eines Erfolges des Widerstands von Kobanê zurückgewiesen.
Im Anschluss werde ich argumentieren, dass es legitim und gerechtfertigt ist, die westlichen Mächte unter Druck zu setzen, damit sie Waffen- und logistische Unterstützung für die YPG/YPJ bieten, und dass die Linke in der Schlacht um Kobanê vor der einmaligen Gelegenheit steht, zugunsten eines egalitären Projektes der radikalen Demokratie mit dem Potential für Auswirkungen auf den gesamten Mittleren Osten zu einer wichtigen Veränderung des regionalen Kräfteverhältnisses beizutragen.
Kobanê, die KurdInnen und der Westen
Im Hinblick auf das Problem vieler Linker mit der Idee von der westlichen Militärhilfe für die YPG/YPJ ist es für mich ein wichtiger Punkt, im Voraus klarzustellen, dass die KurdInnen wiederholt erklärt haben, dass sie weder von den westlichen Koalitionskräften noch von der Türkei eine direkte Intervention wünschen. Sie haben wiederholt erklärt, dass sie nur panzerbrechende Waffen, Munition und die Öffnung eines Korridors für Kämpferinnen und Kämpfer, Nahrung und Medizin nach Kobanê brauchen. Dieses Ersuchen fand seinen Widerhall beim UN-Sondergesandten für Syrien, Staffan de Mistura, er warnte vor einer Wiederholung des Schicksals von Srebrenica in Kobanê, wenn kein humanitärer Korridor errichtet wird.
Wenn die Linke begrenzte militärische, taktische Unterstützung des Westens für die YPG/YPJ fordert, dann hat sie unter keinen Umständen die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass der IS in seiner Wurzel eine faschistische Ausscheidung des westlichen, imperialen Metabolismus darstellt, also ein direktes Produkt der amerikanischen Eroberung des Irak, der bewussten Ausnutzung religiöser Differenzen und der damit zusammenhängenden Zerstörung des sozialen Zusammenhalts der irakischen Gesellschaft. Aber sicherlich sollte nichts davon die Akzeptanz der lebenswichtigen Bedeutung des Schutzes vor der Auslöschung einer tatsächlich existierenden und funktionierenden radikalen linken Erfahrung im Herzen des Mittleren Ostens überflüssig machen, ungeachtet deren unvermeidlicher Mängel und Begrenztheit. Schließlich ist die Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik seit jeher ein Grundelement konkreter sozialistischer Politik. Wenn wir den offenen Widerstand der bösartigen antilinken Regierung der Türkei betrachten und den Widerwillen der US-geführten Allianz, den YPG/YPJ beizustehen, der nur durch den wachsenden Druck der prokurdischen öffentlichen Meinung in Europa teilweise überwunden werden konnte, dann stellt dieser Erfolg der Linken im Westen, die US-geführte Staatenkollektion zur bedingungslosen Unterstützung der Verteidigerinnen und Verteidiger von Kobanê mit militärisch-logistischer Hilfe zu drängen, tatsächlich einen wichtigen taktischen Sieg der Linken in ihrer antiimperialistischen Gesamtstrategie dar.
Des Weiteren zeigt ein kursorischer Rückblick auf historische Beispiele, dass die taktische Nutzung bestimmter geopolitischer Umstände eine gemeinsame Eigenschaft der fortschrittlichsten Bewegungen darstellt. Die meisten der nationalen Befreiungs- und antikolonialen Bewegungen der »Dritten Welt« im letzten Jahrhundert nutzten die Rivalitäten zwischen USA und SU im Kalten Krieg aus. Bis heute hat die palästinensische Befreiungsbewegung Unterstützung von antidemokratischen Staaten der Region wie Iran, Saudi-Arabien und anderen Golf-Staaten erhalten. In Europa selbst bekam die irisch-republikanische Bewegung Unterstützung von diktatorischen Regimes, die mit dem Westen auf Kriegsfuß standen, wie z. B. Libyen unter Muammar Gaddafi.
Also sollte die Linke nicht, bzw. kann sie es sich gar nicht leisten, von vornherein westliche Militärhilfe für die VerteidigerInnen Kobanês ausschließen. Man sollte sich lieber auf die konkreten Bedingungen und Umstände solcher Unterstützung und das umfassende politische Projekt und die Bewegung konzentrieren, für die Kobanê steht, und sorgfältig die voraussichtlichen Implikationen der Bereitstellung einer solchen begrenzten Hilfe für ein demokratisches, linkes Projekt in der Region prüfen, das die Ziele dieser Hilfeanbieter real eigentlich unterminiert. Um diese Frage zu sondieren, müssen wir zuerst die PYD und die mit ihr verbündete ArbeiterInnenpartei Kurdistan (PKK) in der breiten kurdischen Bewegung einordnen.
Bis 1970 waren die kurdischen Bewegungen für nationale Rechte in allen Teilen Kurdistans mehr oder weniger von StammesführerInnen, GroßgrundbesitzerInnen, religiösen Autoritäten oder städtischen Eliten oder einer Kombination davon dominiert. Ihnen fehlte jegliches radikale sozioökonomische Projekt und sie verließen sich übermäßig auf Unterstützung von außen. Die kurdische Autonomiebewegung in Irak während der 1960er und 1970er Jahre ist dafür ein wichtiges Beispiel. Sie verließ sich strategisch und fatalerweise auf die US-persisch-israelische Feindschaft gegen das pro-sowjetische Baath-Regime in Irak. Als aber der Schah von Persien, Hauptquelle militärischer und logistischer Unterstützung für die irakischen KurdInnen, seinen Grenzstreit mit dem Irak 1975 beilegte, erlebte die Bewegung einen schnellen und katastrophalen Zusammenbruch.
Die traditionellen kurdisch-nationalistischen Parteien büßten seit den frühen 70er Jahren zunehmend ihre Hegemonie über die kurdische Politik ein. Das lag vor allem auch am schnellen Voranschreiten der kapitalistischen Entwicklung, welche die soziale Struktur der kurdischen Gesellschaft in den letzten etwa 50 Jahren dramatisch verändert hat. Feudal-tribale soziale Bindungen verloren viel von ihrer Kraft, wenn sie nicht sogar vollständig zerstört wurden. Dennoch haben feudale und tribale Formen sich unterschiedliche Grade kulturellen und politischen Einflusses bewahrt dank der verspäteten, rapiden und hierarchischen kapitalistischen Entwicklung in der Region. Real haben sich solche Einflüsse in einigen Fällen sogar verstärkt, in modifizierter Form unter speziellen ökonomischen Voraussetzungen wie beim Rentencharakter2 der Kurdischen Regionalregierung (KRG) in Irak.
Gleichzeitig hat die Urbanisierung massiv zugenommen, die Alphabetisierungsrate ist signifikant gestiegen und die Intelligenz als soziale Schicht hat sich beträchtlich ausgebreitet. Diese bedeutsamen Veränderungen in verschiedenen Teilen Kurdistans führten zum Aufkommen neuer sozialer und politischer Kräfte, die eine radikale Herausforderung für die alten Muster kurdisch-nationalistischer Politik darstellten. In den Fällen der PKK und PYD in der Türkei und Syrien haben sie tatsächlich in entscheidender Weise die traditionellen konservativen kurdisch-nationalistischen Kräfte ersetzt. Vor dem Aufstieg der PKK zeigte sich in Iranisch-Kurdistan dieser Wandel ebenfalls bei Komala – dem Kurdistan-Flügel der Kommunistischen Partei Irans (KPI).
Eine charakteristische Eigenschaft dieser neuen Kräfte ist, dass sie die Frage der nationalen Befreiung strategisch verbinden mit umfassenderen Projekten, die in geschlechtergleichheitlicher, ökologisch bewusster und sozioökonomischer Hinsicht allgemein sozialistisch sind. Sie haben viel flexiblere und einfallsreichere politische Strategien entwickelt. In diesen wird bewaffneter Kampf mit einer lebendigen bürgerlichen politischen Kultur verbunden, die legale verfassungsmäßige Möglichkeiten im politisch-administrativen Gefüge der Staaten ausnutzt, die sie bekämpfen. Ein außerordentlich erfolgreiches Beispiel für dieses Phänomen ist die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) in der Türkei. Deren Wahlkampf und beachtlicher Erfolg bei Kommunalwahlen haben ein bisher noch nie da gewesenes Niveau der politischen Partizipation und Führung von Frauen und unteren Klassen wie auch radikaldemokratischen Aktivismus mit sich gebracht. Die BDP und ihre Vorgängerparteien haben es geschafft, die kurdische Frage in der Türkei als eine grundlegend demokratische Frage aufzuwerfen.
Das wachsende Gewicht der BDP in der türkischen Politik und die militärische Schlagkraft der PKK, ihre organisatorische Effizienz und ihre Kontrolle über ein Gebiet in den Kandil-Bergen ermöglichten es der kurdischen Bewegung in der Türkei, eine hochgradig autonome und komplexe Diplomatie ins Werk zu setzen, die internationale und regionale Widersprüche vorteilhaft für das eigene progressive soziopolitische Projekt ausnutzt. Das Ergebnis war bemerkenswert. Es hat den Staat mit der zweitgrößten NATO-Armee in einen Friedens- oder »Lösungs«-Prozess gezwungen, dessen Beginn allein eine noch nie da gewesene demokratische Errungenschaft für die Politik in der Türkei bedeutet. Diese Errungenschaft ist nur einer der möglichen Gründe für die aktuelle Syrienpolitik der Türkei.
Der entscheidende Punkt bei der Betrachtung der Beziehung zwischen fortschrittlicher und Geopolitik ist also die Frage, unter welchen spezifischen Umständen sich solche Kräfte mit regionalen und internationalen Mächten einlassen. In der aktuellen Situation haben PKK und PYD als Bewegungen erfolgreich eine populäre radikaldemokratische Bewegung und eine hochinnovative und schlagkräftige Form des bewaffneten Kampfes mit einer bemerkenswert unabhängigen Außen- und Regionalpolitik kombiniert. Infolgedessen ist es unwahrscheinlich, dass sie, abgesehen von eventuellen taktischen Fehlschlägen, für imperiale Machenschaften manipuliert werden. De facto haben PKK und PYD die syrischen Oppositionskräfte, andere kurdische Parteien und die KRG andauernd aufgefordert, ihre kritiklose Anbindung an die US-Außenpolitik in der Region zu revidieren.
Im Falle Kobanês bedeutet also die Forderung von PKK und PYD nach militärischer Unterstützung einfach das taktische Ausnutzen des zufälligen Zusammentreffens ihrer spezifischen Interessen mit denen der US-geführten Anti-IS-Koalition zum Nutzen eines größeren strategisch-politischen Projekts. Denn der Sieg von Kobanê wird wichtige und weitreichende Auswirkungen über Syrisch-Kurdistan hinaus haben.Internationaler Aktionstag für Kobane | Foto: Rojbin Meclîsa Jinên
Folgen eines Sieges in Kobanê
Die PKK war von einer Gruppe kurdischer Studierender gegründet worden, die enttäuscht waren von der Ignoranz der Linken der Türkei gegenüber der kurdischen Frage in den 1970ern. Nach dem Militärputsch 1980 begann die PKK 1984 ihren bewaffneten Kampf für einen unabhängigen kurdischen Staat. Sie nutzte den geopolitischen Konflikt des Kalten Krieges zwischen dem prosowjetischen Syrien und dem NATO-Mitglied Türkei und errichtete ihre militärischen Trainingscamps in Syrien. Ihr Einfluss im syrischen Kurdistan wird deutlich am raschen Aufstieg der PYD zur stärksten Partei. Es ist zum Teil Resultat der PKK-Präsenz in Syrien für mehr als eine Dekade in den 80er und 90er Jahren wie auch der engen historischen, kulturellen und verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen der kurdischen Bevölkerung Syriens und der Türkei.
Das Ende des Kalten Krieges führte zur Wiederannäherung zwischen Hafiz Assad und dem Westen. Zur selben Zeit intensivierte sich der Krieg zwischen Türkei und PKK in den frühen 90er Jahren und die Türkei bedrohte zunehmend Syrien mit militärischen Maßnahmen, wenn nicht dessen Beherbergung der PKK-Führung und -Camps beendet werden würde. Infolgedessen schloss Syrien 1998 PKK-Lager und wies den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan aus, der daraufhin vom türkischen Geheimdienst mit CIA-Hilfe gefangen genommen wurde.
Die Gefangennahme Öcalans und die Verlegung der PKK-Kräfte nach Süd-/Irakisch-Kurdistan führten zu einer politischen und ideologischen Überholung der Partei. Seitdem hat die PKK ihr politisches Programm und ihre Strategie radikal erneuert. Nun vertritt sie, wie auch die PYD, eine Form des libertären Sozialismus, in der die kurdische nationale Frage durch das System der »Demokratischen Autonomie« gelöst wird. Die Demokratische Autonomie schließt eine Absage an den nationalen Dirigismus ein, der letzten Endes zu dem führen kann, was Frantz Fanon als »die Nationalisierung des Ausraubens der Nation« bezeichnete und was die unterdrückerische Klassen- und Geschlechterhierarchie intakt lässt. Demgegenüber beginnt Demokratie mit einer radikalen Dezentralisierung der bestehenden Staaten durch die Etablierung eines geschlechteregalitären und ökologiewahrenden konföderalen Systems der Selbstverwaltung, das auf Volkskommunen als Basisorganen für die Ausübung direkter Demokratie beruht. Die Idee der Demokratischen Autonomie bildet den theoretischen Dreh- und Angelpunkt für die Entstehung und Verwaltung der drei Kantone Afrîn, Kobanê und Cizîrê in Syrisch-/Westkurdistan oder Rojava. Die Kantone wurden von der PYD eingerichtet, nachdem sich das syrische Militär nach der Militarisierung der syrischen Revolution und dem Ausbruch des Bürgerkriegs aus diesen Regionen zurückgezogen hatte.
Der neue »Gesellschaftsvertrag«, der die Grundlage bildet für die Erfahrungen Rojavas mit der Demokratischen Autonomie, ist in der Verfassung von Rojava verankert, die ein wahrhaft bemerkenswertes Dokument der neueren Geschichte des Mittleren Ostens darstellt. Die Präambel der Verfassung beginnt folgendermaßen:
»Wir, die Bevölkerung der Demokratischen Autonomen Regionen von Afrîn, Cizîrê und Kobanê, einer Konföderation von KurdInnen, AraberInnen, Syriani, AramäerInnen, TurkmenInnen, ArmenierInnen und TschetschenInnen, erklären und etablieren frei und einmütig diese Charta. Im Sinne von Freiheit, Gerechtigkeit, Würde und Demokratie und geleitet von Prinzipien der Gleichheit und Umweltverträglichkeit verkündet die Charta einen neuen Gesellschaftsvertrag, der auf gegenseitiger und friedlicher Koexistenz und Verständnis zwischen allen Teilen der Gesellschaft basiert. Sie schützt die fundamentalen Menschenrechte und Freiheiten und bekräftigt das Recht der Völker auf Selbstbestimmung.«
Die Charta schafft die Todesstrafe ab und »schließt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, den Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte, den Internationalen Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte wie auch andere international anerkannte Menschenrechtskonventionen mit ein«.
Angesichts der katastrophalen Ausmaße des aktuell Syrien und Irak erschütternden ethnischen und sektiererischen Konflikts stellt allein schon die Formulierung eines solchen »Gesellschaftsvertrags«, ganz abgesehen von dessen erfolgreicher Umsetzung durch die PYD inmitten eines schrecklichen Bürgerkriegs und unter schweren politischen, diplomatischen und ökonomischen Sanktionen durch westliche und regionale Staaten, insbesondere die Türkei, eine absolut bemerkenswerte Errungenschaft dar, die aller möglichen Unterstützung durch die linken Kräfte aus der Region und weltweit wert ist.
Aber die Bedeutung der nun in Kobanê tödlicher Bedrohung ausgesetzten Praxis von Rojava ist in keiner Weise auf Syrisch-Kurdistan begrenzt. Sie hat Veränderungspotential für alle Teile Kurdistans und durch ihre Auswirkungen für Syrien, die Türkei, Irak und Iran.
In Syrien bietet die Erfahrung der Demokratischen Autonomie in Rojava eine radikal andere Alternative sowohl zu Assads brutaler Diktatur als auch zum gleichermaßen repressiven wie antidemokratischen Projekt der islamischen Opposition. Sie kann auch als Dreh- und Angelpunkt fungieren für verschiedene marginalisierte und zum Schweigen gebrachte säkulare und progressive Kräfte, die auf längere Sicht zur Ausdehnung der Rojava-Erfahrung der Demokratischen Autonomie auf andere Teile Syriens beitragen kann. Wir sollten uns daran erinnern, dass für viele Monate nach dem Ausbruch der Anti-Assad-Proteste säkular-progressive Kräfte wie die lokalen Koordinationskomitees von Syrien an der Spitze der Volksaufstände standen. Sie verloren ihre politische Schlagkraft erst, als die pausenlose Gewalt der Assad-Kräfte gegen friedliche Proteste zur Militarisierung der Opposition führte, die wiederum schnell in eine sektiererische Richtung schwenkte als Resultat der indirekten Intervention der regionalen reaktionären, prowestlichen Anti-Assad-Staaten Jordanien, Qatar, Saudi-Arabien und Türkei. Diese Staaten trachteten alle um jeden Preis nach Assads Sturz. Der Erfolg der Praxis der Demokratischen Autonomie, für die Kobanê steht, kann deshalb säkular-progressive Kräfte im Rest Syriens wiederbeleben und ihnen Raum und Ressourcen zur Organisierung und Kommunikation zur Verfügung stellen, so dass sie gemeinsam zumindest ein Gegengewicht zu den reaktionären islamischen Oppositionskräften bilden können.
Der Erfolg der kurdischen Erfahrung mit der Demokratischen Autonomie in Syrien wird ebenfalls direkt die türkische Politik beeinflussen. Es ist nun zwei Jahre her, dass die Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK zur Beendigung des jahrzehntelangen Konflikts begonnen haben. Während dieser Zeit hat die PKK einen Waffenstillstand eingehalten und den Großteil ihrer Guerillakräfte aus der Türkei abgezogen. Die AKP hat andererseits keinen bedeutenden Schritt getan, um ihre Aufrichtigkeit bei den Verhandlungen zu verdeutlichen. Ja, sie hat das Tabu der öffentlichen Thematisierung der kurdischen Frage gebrochen und den Gebrauch der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit entkriminalisiert. Dennoch hat sie keine größeren Änderungen an der Kurdenpolitik des türkischen Staates insgesamt vorgenommen, nicht einmal symbolische Gesten, wie die Verbesserung von Öcalans Haftbedingungen und die Freilassung kurdischer politischer Gefangener, wie von kurdischer Seite erwartet. Tatsächlich deuten jüngere Äußerungen des türkischen Präsidenten und des Ministerpräsidenten, welche die PKK mit dem IS gleichsetzen, deutlich darauf hin, dass die AKP ihre früheren Versprechen von Frieden und Versöhnung mit den KurdInnen bricht. Diese Annahme wird gestützt durch die gestrigen Luftangriffe auf PKK-Ziele bei der kurdischen Stadt Diyarbakir [kurd.: Amed]. Das Zugehen der AKP auf die KurdInnen 2011–2012 kann daher als taktisches Manöver gesehen werden, um die Unterstützung der konservativeren Teile der kurdischen WählerInnen zu gewinnen im Wahlkampf gegen die kemalistischen und republikanischen Kräfte, die Erdogans immer autokratischeren Führungsstil einzudämmen suchten, der in den Ereignissen um die Gezi-Park-Proteste herum kulminierte.
Unter diesen Umständen wird ein Sieg der KurdInnen in Kobanê die Verhandlungsposition der PKK gegenüber dem türkischen Staat stärken und der Bildung einer Art von Koalition oder Kollaboration zwischen BDP und säkularen und linken Oppositionskräften in der Türkei äußerst förderlich sein, um den autoritären Drang der AKP zu zügeln und Frieden und Versöhnung in Kurdistan zu befördern. Das kontinuierliche Wirtschaftswachstum der Türkei unter der AKP hat die andauernden Wahlerfolge der Partei untermauert. Aber im Falle eines angesichts der auf den Bausektor konzentrierten Wachstumsstrategie der AKP recht wahrscheinlichen wirtschaftlichen Abschwungs wird ihre Unterstützung bei den städtischen Armen und KleinbürgerInnen schnell schrumpfen. In einem solchen Fall kann die gestärkte politische Position der KurdInnen eine entscheidende Kraft sein, um die Politik der Türkei auf eine progressivere und demokratischere Spur zu stellen. Eine erste Maßnahme dafür ist der bescheidene, aber wichtige Wahlerfolg der HDP [Partei der Demokratischen Völker], einer landesweiten, an Minderheiten und feministisch ausgerichteten linken Partei, die der prokurdischen BDP nahesteht, bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Und eine weitere Demokratisierung der Türkei entlang einer weitgehend geschlechter- und sozialegalitären Linie wird eine wichtige Konsequenz für die Nachbarländer und auch für Europa nach sich ziehen.
Der Sieg der KurdInnen in Kobanê wird ebenfalls sofortige und langfristige Auswirkungen auf Irakisch-Kurdistan haben. Konservative politische Parteien, welche die KRG beherrschen, insbesondere Mesûd Barzanîs PDK [Demokratische Partei Kurdistans], betrachteten die Rojava-Erfahrung als Bedrohung für ihr eigenes Modell kurdischer Autonomie, das bis jetzt einen auf Ölerträgen und lukrativen Hinterzimmergeschäften mit türkischen und westlichen Unternehmen basierenden, korrupten und vetternwirtschaftlichen Kapitalismus hervorgebracht hat. Die KRG ging so weit, einen Graben entlang ihrer Grenze mit Syrisch-Kurdistan anzulegen, angeblich um die Infiltration »islamischer Terroristen« aus Syrien zu verhindern. In der Realität war es aber wohl ein Mittel, um die PYD zu einem politischen Kompromiss zu zwingen, der den PDK-Einfluss nach Rojava ausdehnen würde. Die Feindseligkeit der herrschenden Parteien in der KRG, insbesondere der PDK, gegenüber der PKK hat dagegen eine längere Geschichte und wurzelt in den sich widersprechenden soziopolitischen Projekten, die diese beiden Kräfte verfolgen. Das Eintreten der PKK für radikale Demokratie, Geschlechtergleichheit, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz steht in krassem Gegensatz zum konservativen, elitären, vetternkapitalistischen und prowestlichen Projekt der KRG-Regierungsparteien. Einige Personen in diesen Parteien haben offen und stolz erklärt, Irakisch-Kurdistan in ein anderes Dubai verwandeln zu wollen!
Unter diesen Umständen kann ein Sieg der PYD in Kobanê durch die Stärkung der PKK-freundlichen und linken Kräfte in Süd-/Irakisch-Kurdistan eine ernsthafte Herausforderung für die konservativen nationalistischen Parteien in der KRG bedeuten. Aufgrund der Abwesenheit einer hegemonialen linken Alternative ist die massenhafte Unzufriedenheit mit den Regierungsparteien der KRG bis jetzt durch die Bewegung für einen Wechsel (Goran) ausgenutzt worden. Obwohl Goran aus der Korruption in Verwaltung und Wirtschaft in der KRG viel Kapital geschlagen hat, unterscheidet sie sich im Hinblick auf die soziale und ökonomische Moderne grundsätzlich weder von der PDK noch von der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), von der sie sich einige Jahre zuvor abgespalten hatte. In Anbetracht der breiten Unterstützung der Bevölkerung in Irakisch-Kurdistan für den Widerstand von Kobanê und der ernsthaften ökonomischen, diplomatischen, politischen und militärischen Fehlleistungen der KRG kann sich ein militärischer Sieg für die PYD in Kobanê direkt in einen politischen Sieg für die progressiveren und demokratischeren Kräfte in der KRG verwandeln. Das wiederum kann die junge demokratische Erfahrung der KurdInnen im post-baathistischen Irak vertiefen.
In Iranisch-Kurdistan war die Linke historisch sehr stark. Tatsächlich war in den südlichen Regionen Iranisch-Kurdistans oder Rojhilats die radikallinke Komala-KPI die stärkste Oppositionskraft gegen die Islamische Republik Iran (IRI) und ein Refugium für links gerichtete Kräfte auf der Flucht vor nachrevolutionärer Verfolgung und Repression durch das neue islamische Regime. Seit Mitte der 1990er Jahre hat die PKK auch die Bühne der kurdischen Politik in Iran betreten und mit der Gründung der Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK) eine militärisch-politische Zweigorganisation formiert, die sich als hoch effektiv sowohl in militärischen Gefechten mit dem iranischen Militär als auch bei der Organisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen und Aktivitäten innerhalb Irans erwiesen hat – die ein hohes politisches Potential haben werden, sollten sich die heimischen politischen Umstände ändern.
Die PJAK verkündete kürzlich ihr System der »Demokratischen und Freien Gesellschaft des Ostens« (KODAR), dessen Inhalt den kantonalen Projekten der PYD in Syrisch-Kurdistan sehr ähnelt und von diesen inspiriert ist. Der KurdInnen Sieg in Kobanê und der kontinuierliche praktische Bestand und Betrieb der Demokratischen Autonomie in Rojava werden deshalb dem KODAR-Projekt in Ost-/Iranisch-Kurdistan zweifellos Auftrieb geben. Es kann außerdem zu engeren Verbindungen und einer engeren Kooperation zwischen PJAK/KODAR und den wesentlichen radikallinken und anderen nationalprogressiven Kräften in Iranisch-Kurdistan führen, die vor kurzem ein ziemlich seltenes Bild der Einheit in Solidarität mit dem Kobanê-Widerstand zeigten. Es gab ebenfalls in großem Umfang spontane Solidaritätsdemonstrationen in vielen Städten Iranisch-Kurdistans und anderen Teilen des Iran, die ein neues Kapitel in der Volkspolitik seit der Unterdrückung der Grünen Bewegung 2009 markieren. Ein Sieg in Kobanê kann weitere Inspiration und Energie für eine neue Phase des politischen Aktivismus in Iranisch-Kurdistan freisetzen und die breitere Demokratiebewegung in Iran stärken.
Angesichts all dessen ist es dann offensichtlich, dass die Schlacht um Kobanê nicht nur eine Sache des Kampfes der KurdInnen um nationale Anerkennung und die Verteidigung ihrer demokratischen Praxis in Syrien ist. Es handelt sich ebenfalls um einen einzigartigen Moment für die internationale radikale linke Bewegung, um zur Unterstützung einer außerordentlich dynamischen und kreativen Bewegung für Geschlechtergleichheit, radikale Demokratie und soziale Gerechtigkeit im Mittleren Osten strategisch zu intervenieren.
Kamran Matin ist Dozent für Internationale Beziehungen an der Sussex University und Autor von »Recasting Iranian Modernity: International Relations and Social Change« (Routledge, 2013) und »Redeeming the Universal: Postcolonialism and the Inner-Life of Eurocentrism« (European Journal of International Relations 2013). Er lehrt Neuere Geschichte des Nahen Ostens und der internationalen Theorie an der Sussex University und ist designierter Coobmann der BISA Historical Sociology Working Group, Vorstandsmitglied des Centre for Advanced International Theory und Coobmann der Sussex Uneven and Combined Development Working Group. Er forscht zurzeit für eine Arbeit über die Ursprünge der aktuellen Krise im Mittleren Osten und in einem größeren Projekt über die internationale Geschichte der kurdischen nationalen Befreiungsbewegung.
Fußnoten:
1) Anm. d. Red.: YPG/YPJ verstehen sich als bewaffnete Verteidigungskraft des Volksrates von Westkurdistan (MGRK) und werden irrtümlich meist nur der PYD zugerechnet.
2) Anm. d. Üs.: Die Regierungsparteien verteilen den Wohlstand an ihre Klienten und Familienmitglieder.