Kommentar zur Medienberichterstattung bezüglich der Ermordung der drei kurdischen politischen Aktivistinnen
Can Cicek, Mitarbeiter von Civaka Azad, 11.01.2013
Wenige Stunden nach Bekanntwerden des blutigen Mordanschlags an drei kurdischen politischen Aktivistinnen im Pariser Büro des Kurdistan- Informationszentrum bemerkte der stellvertretende Vorsitzende der türkischen Regierungspartei AKP, Hüseyin Çelik, dass er die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) hinter der Tat vermute und äußerte, „es sieht nach einer internen Abrechnung aus“. Unter den drei ermordeten Frauen befindet sich auch Sakine Cansiz, Gründungsmitglied der im Jahr 1978 gegründeten PKK. Die Vermutungen liegen nah, dass sich der Mordanschlag gezielt auf ihre Person richtete.
Der türkische Ministerpräsident Erdogan griff ebenso sehr auf diese These zurück, wie die meisten türkischen und europäischen Medien auch. Als Argumentation wird auf das elektronische Türschloss der Eingangstür des Gebäudes verwiesen, welches nur mit dem Zutrittscode hätte geöffnet werden können.
Christiane Schlötzer und Frederik Obermaier forcierten diese These in ihrem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, „Tatsächlich soll Cansiz in der Gruppe umstritten gewesen sein. Sie war offenbar Verfechterin einer friedlichen Lösung des Konflikts mit der türkischen Regierung. Vom bewaffneten Kampf soll sich die Frau, die alte Bilder in olivgrüner Tarnuniform zeigen, schon vor Jahren abgewandt haben. Von einem Streit mit hochrangigen PKK-Kommandeuren ist die Rede.“
Zugriffscode kein hinreichendes Indiz
Da ohne Zugriffscode die Tür nicht geöffnet werden kann, wird gefolgert, dass die Opfer ihre Täter wohl gekannt haben mussten. Bedauerlicherweise wird hier verkannt, dass dem Zugriffscode nur bedarf, um die Tür von außen zu öffnen. Er dient demnach als Schlüsselersatz. Um aber in das Gebäude zu gelangen, reicht es auch aus, wenn die Tür von einem der im Haus befindenden Büros aus geöffnet wird. Dafür genügt es die Klingel einer dieser Büros zu betätigen. Und da es sich bei dem Büro, in dem die Tat geschehen ist um ein Presse – und Informationszentrum handelte, werden seine Mitarbeiterinnen mit größter Wahrscheinlichkeit die Tür einer Person, die sich hätte beispielsweise als Journalist ausgeben können, geöffnet haben. Keiner dieser Personen wird die Zweifel gehegt haben, dass sie von Mördern heimgesucht werden könnten, zumal auch an solch einem Ort, der an einem der belebtesten Gegenden von Paris liegt und zudem noch von verschieden Kameras bewacht wird.
Verzerrung der Medien
In diesem Zusammenhang sei auch die Frage in den Raum geworfen, ob es denn so schwierig ist, an den Zugangscode des Gebäudes zu gelangen.
Sich die Frage zu stellen, worauf denn die Eile seitens der türkischen Regierung basiere, die vor allen anderen ein Statement mit Täterhinweis äußerte, tätigte kaum jemand.
Fakt ist, dass dadurch die meisten Medien, vor allem aber die ausländischen Medien, so in eine falsche Richtung gelenkt wurden.
Vor 4 Jahren trug sich ein ähnlicher Fall zu, bei dem die politische Konjunktur auffällige Ähnlichkeit mit der heutigen politischen Situation in der Türkei aufwies.
Ähnlicher Fall wie 2008 – Gespräche zwischen Staat und PKK in Kandil
Damals trafen sich am 5. Dezember 2008 türkische Staatsvertreter mit Führungskadern der PKK in den kurdischen Kandil Gebirgen, die unter der Kontrolle der kurdischen Guerillakräfte stehen. 5 Minuten nach der Abreise der türkischen Staatsvertreter wurde das Gebiet um den Treffpunkt heftiger Angriffe der türkischen Luftwaffe ausgesetzt. Am selben Tag erteilte der damalige Staatsminister Abdullah Gül seine Reise in die KurdInnenhochburg Amed (Diyarbakir), ohne einen wirklichen Grund zu nennen, eine Absage. Wäre bei dem Luftangriff auf Kandil einer der Führungskader der PKK getötet worden, dann wären massive Proteste in Amed zu erwarten gewesen.
In diese Richtung ist auch die Aussage der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) zu deuten, die in ihrer Stellungnahme zu der Ermordung der drei kurdischen Aktvistinnen äußerte: „Nachdem die Versuche, die Führungskader unserer Bewegung in der Heimat zu ermorden, erfolglos blieben, sollte dieses Ziel mit der Ermordung unserer Genossin Sakine Cansiz erreicht werden.“
Erneut nur taktisches Manöver
Wie auch heute kam es damals zu Gesprächen zwischen der PKK und dem türkischen Staat. Als Resümee der damaligen Gespräche, die nach den Wahlen des 12.Juni 2011 einseitig von der türkischen Regierung abgebrochen wurden, kann gefolgert werden, dass es sich um ein taktisches Manövrieren im Rahmen eines Liquidationskonzeptes, das auf die Vernichtung der Kurdischen Freiheitsbewegung abzielte, handelte. Dafür spricht die Zahl von tausenden politischen kurdischen Gefangenen, darunter dutzende demokratisch gewählte BürgermeisterInnen, die im Rahmen der sogenannten KCK-Operationen in diesem Zeitraum inhaftiert worden waen. Zudem ist die Intensivierung der Militäroperationen seitens der türkischen Armee aufzuzeigen, aufgrund dieser die kurdischen Guerillakräfte, die einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen hatten, zahlreiche Verluste hinnehmen musste.
Sabotage der Friedensphase von der MIT
Folglich liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Tat des Staates selbst handelt. Zumal die Gespräche mit dem auf Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vom staatlichen Geheimdienst MIT angeführt werden. Dieser könnte die Gespräche als ein taktisches Instrument genutzt haben, um gut getarnt gleichzeitig gezielte Mordanschläge gegen bestimmte VertreterInnen der kurdischen Freiheitsbewegung durchzuführen. Ebenso kann es sich um die Tat einer Gruppierungen innerhalb des MIT handeln, die eine mögliche Friedensphase zu sabotieren versucht. Dabei kann es sich um die Kräfte der alten Garde des MIT handeln, welche Opfer einer grundlegenden Neubesetzung des Geheimdiensts seit der Regierungsübernahme der AKP wurden.
Geheimdienstliche Strukturen der Türkei
Hier gilt ebenfalls anzumerken, dass die Türkei über diverse geheimdienstliche Strukturen verfügt. Sowohl die Polizei, das Militär, als auch der Staats selbst verfügen über unterschiedliche Geheimdienstgefüge. Das ist zwar auch in vielen westlichen Staaten der Fall. Jedoch liegt in der Türkei der Unterschied darin, dass keine gemeinsame Koordination der verschiedenen Geheimdienste besteht. So könnte die Tat auch auf Militärkreise zurückzuführen sein, die durch eine Lösung des bewaffneten Konflikts deutlich an Einfluss in der türkischen Politik einbüßen müssten. Ebenso könnte es sich um eine Handlung des polizeilichen Geheimdiensts handeln, der ebenfalls gute Beziehungen zu den Auslands- und Inlandsgeheimdiensten der europäischen Staaten, insbesondere in Deutschland und Frankreich, verfügt. Weiter gilt anzumerken, dass die Polizei mehrheitlich vom Gülen-Orden kontrolliert wird, und dass somit auch dieser in diesen Fall verstrickt sein könnte. Genauso könnte es sich um eine Tat der rechtsextremistischen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP)handeln. Die MHP stützt ihre politische Legitimation auf eine anti-kurdische, rassistische und äußerst chauvinistische Politik. Bei einer Lösung des Konflikts wird sie sich wahrscheinlich nicht vor der Marginalisierung retten können.
Nicht nur über KurdInnen, sondern auch mit ihnen reden
In einem Interview, das wir als Civaka Azad mit einem Radiojournalisten zu diesem Fall geführt haben, betonte der Radiojournalist die Notwendigkeit nicht nur über die KurdInnen zu reden, sondern auch mit ihnen zu reden. Hätten dies Christiane Schlötzer und Frederik Obermaier bezogen auf ihre These bezüglich des vermeintlichen Umstrittenseins von Sakine Cansiz innerhalb der PKK getan, hätte man ihnen entgegnen können, dass falls dem so wäre, die PKK schon vor wenigen Monaten solch eine Tat hätte vollziehen können. Und zwar als sich Sakine Cansiz noch in den südkurdischen Kandilgebirgen, Sitz der PKK, befand. Es hätte keinem bewachten Büro im Mitten eines der belebtesten Stadteile Paris dafür bedürft.
8 Aussagen über KurdInnen – keine Äußerung von KurdInnen
Bemerkenswert ist auch der Artikel von Jürgen Gottschlich. In seinem Artikel werden neben Aussagen von Regierungssprechern, ebenfalls Statements von Oppositionsführer Kilicdaroglu, verschiedenen Journalisten, dem türkischen Geheimdienstchef, dem französischen Innenminister und dem außenpolitischen Kommentator der Radio France aufgezeigt. So heißt es beispielsweise am Ende seines Artikels „Der militante Separatismus werde wieder aufleben, prophezeit er (Kommentator der Radio-France), trotz der Zugeständnisse Ankaras an die Kurden.“ Der Traum eines geeinten säkularen kurdischen Staates”, sagt Guetta, sei einfach zu groß.“ Hätte Gottschlich in seinem Artikel, eine/n der über 4 Millionen KurdInnen in Istanbul, wo dieser Artikel verfasst wurde, ebenfalls neben den 8 anderen Personen, dessen Aussagen er für den Artikel verwendet hat, befragt, dann würde er die Aussage von Guetta als realitätsferne Annahme auffassen.
Fehlender Anstand
Cigdem Toprak und Ulrich Clauß sprachen in der Überschrift ihres in der Welt erschienen Artikels von der „Hinrichtung von Terrorfrauen“. Hier gilt es neben der Frage, wie sie denn auf solch eine Behauptung kommen, den Anstand der beiden JournalistInnen an sich zu hinterfragen. Handelt es sich etwa bei der Tätigkeit von Fidan Dogan Diplomatie- und Informationsarbeit für den Kurdistan Nationalkongress zu tätigen um einen Terrorakt. Ebenso ist die Behauptung „Ein weiterer Hintergrund könnte die Verstrickung der PKK in den internationalen Drogenhandel sein.“, schlichtweg aus der Luft gegriffen. Während durch solch leere Behauptungen zwar die Artikel der beiden SpringerjournalistInnen an spektakulärerer Essenz gewinnen, werden die Emotionen eines Volkes brüskiert.
Appell an journalistische Ethik
Niemand aus der kurdischen Bevölkerung wird hinter dieser Aktion die PKK vermuten. Entgegen dessen handelt es sich bei der Ermordung der drei kurdischen politischen Aktivistinnen, Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Şaylemez um einen schmerzhaften Verlust für das kurdische Volk. Daher sollte an sämtliche Journalistinnen und Journalisten appelliert werden, Empathie mit der kurdischen Bevölkerung zu entwickeln und nicht die ethische Pflicht ihres Berufs aus den Augen zu verlieren.