Eine Analyse von Michael Knapp, 29.01.2016
In den kurdischen Gebieten der Türkei formieren sich neue Verteidigungseinheiten namens YPS. Friedensverhandlungen sind nicht in Sicht
Der Ausnahmezustand in den kurdischen Städten dauert an. Erst vor wenigen Tagen hatte Ministerpräsident Erdogan jegliche Forderung nach Autonomie von kurdischer Seite zurückgewiesen und Premierminister Davutoglu kündigte an: “Wir werden sie in den Gräben, die sie ausgehoben haben, begraben.”
Abgeordnete der HDP wurden von jedem Treffen mit der Regierung ausgeladen und gegen den Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtash, wurde aufgrund der Autonomie-Forderung ein Verfahren wegen Separatismus (Straftaten gegen die Verfassung bzw. die verfassungsgemäße Ordnung) und wegen “Belobigung von Straftätern” eingeleitet. Als Grund dafür wurden seine Aufrufe zur Unterstützung des belagerten Kobanê angeführt.
2015 hatte Demirtash – wegen der Haltung der AKP nach den Wahlen am 07. Juni – , keine Koalition zustande kommen lassen. Mehrere Landkreise und Stadtteile in der kurdischen Region reagierten im Nachhall der Wahlen mit der Erklärung ihrer Autonomie gegenüber dem türkischen Staat. Sie begründeten ihre Haltung mit “massiver Einschüchterung seitens der AKP”, die ein besseres Wahlergebnis zu erreichen versuchte.
Der Staat reagierte mit Festnahmen, militärischen Angriffen und dem Einsatz von Spezialeinheiten wie den Esadullah-Teams, welche durch Folter und Terror auf den Straßen für Einschüchterung sorgen sollen.
Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in der HDP und DBP betonen immer wieder, dass die Selbstverteidigung eine Reaktion auf diese Angriffe war. Der türkische Staat sprach über 50 Ausgangssperren aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation IHD sollen zwischen dem 16. August und dem 10.Januar 170 Zivilisten durch staatliche Kräfte ums Leben gekommen sein.
Auch die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV geht von einer ähnlichen Größenordnung aus.
Ein ziviler Putsch
Politikerinnen und Politiker der HDP sprechen mittlerweile davon, dass die parlamentarischen Wege verschlossen sind, und werfen der AKP vor, einen “zivilen Putsch” vor. So sagte Besime Konca, Abgeordnete der HDP im Gespräch mit Telepolis:
Die AKP hat alles getan, um die Auseinandersetzungen zu vertiefen, denn dass die HDP die 10% Hürde überschritten hat, bedeutete, dass die Alleinregierung der AKP zu Ende war und eine Demokratisierung der Türkei bevorstehen würde, denn die Struktur der HDP besteht aus den ganzen verleugneten Identitäten und Ethnizitäten. Dass diese Identitäten jetzt im Parlament waren, bedeutet, dass weder AKP noch CHP alleine regieren können würden. Koalitionsregierungen hätten eine Demokratisierung der Türkei bedeutet. Das einzige Ziel nach den Wahlen [vom 7. Juni] war es also, die HDP mit allen Mitteln unter die 10% Hürde zu drücken, zu terrorisieren und die Angriffe auf diese in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit als Notwendigkeit darzustellen.
Obwohl es nicht gelang, die HDP unter die 10-Prozent-Hürde zu drücken, kam es zu einer absoluten Mehrheit für die AKP – und zu einer weiteren Eskalation in den kurdischen Städten. Der Co-Vorsitzende des Volksrats von Cizre, Mehmet Tunc, erklärte am 29.12. (16. Tag der Ausgangssperre):
Der Staat macht nicht mehr den Unterschied zwischen HDP und PKK. Für den Staat reicht es Kurde zu sein… Von nun an gibt es keinen anderen Weg mehr als den des Widerstandes.
Der Aufbau von Selbstverteidigungseinheiten
Im Zusammenhang mit dem andauernden Ausnahmezustand, mit Ausgangssperren und Heckenschützenangriffen wurden so genannte zivile Verteidigungseinheiten, die YPS, gebildet.
Die Verteidigung des Stadtviertels Sur in Diyarbakir, der Stadt Nusaybin, von Cizre, Yüksekova, Silopi und anderen Orten wurde bisher vor allem von den kurdischen autonomen Jugendorganisationen YDG-H und YDG-K getragen, die organisatorisch autonom agieren, aber ideologisch im Sinne des “Projekts der demokratischen Autonomie” ausgerichtet sind.
Das Projekt wurde vom inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan entwickelt. Außer der PKK wird es laut Aussagen von Kurden auch von großen Teilen der kurdischen Zivilgesellschaft und Parteien wie der HDP und der DBP getragen. Kämpferinnen und Kämpfer der HPG (Guerilla der PKK) befinden sich nach übereinstimmenden Angaben aus den umkämpften Stadtteilen, wie auch Verlautbarungen der PKK nicht oder kaum in den Städten und führen höchstens spezialisierte Kommandoaktionen durch.
Der Soziologe und Konfliktforscher Harun Ercan bestätigte gegenüber BasNews, dass die PKK-Guerilla noch nicht von den Bergen in die Städte gekommen sei, sondern dass der Staat versuche, an Orten wie Cizre, wo es 96% Zustimmung für die HDP gibt, den Willen der Bevölkerung zu brechen und damit einen Präzedenzfall für die ganze Region zu schaffen – die aktuellen Auseinandersetzungen seien darin begründet.
Andererseits stellen die erfolgreichen Verteidigungen der Stadtviertel, neben der absoluten Überlebensnotwendigkeit, für viele eine Befreiung aus der Ohnmacht gegenüber den Operationen des türkischen Staates dar. Dies betont auch Nuda Yadigar, Sprecherin der YPS in Nusaybin:
Alle Stadtviertel werden, wenn es nötig sein sollte, in den Widerstand gehen. Denn wir lassen unser Schicksal nicht vom Staat bestimmen. Darüber bestimmt das Volk. Wenn es nötig ist, werden in ganz Nusaybin Gräben ausgehoben und Barrikaden gebaut. Wir haben hier in einer Straße mit unserem Widerstand begonnen. Wir versuchen ihn auszuweiten. Indem er sich hier ausbreitet, breitet er sich auf ganz Kurdistan aus. …Den Menschen reicht es jetzt. Deswegen machen sie mit. Sie wollen frei leben… Die Menschen werden ihre eigene Kraft erfahren.
Während zu Anfang vor allem die genannten Jugendgruppen in der Verteidigung der Stadtviertel aktiv waren, soll nach kurdischen Angaben mittlerweile an vielen Orten ein “Querschnitt der Bevölkerung” auf den Barrikaden stehen, um das “Eindringen des türkischen Militärs zu verhindern”.
Die Gründung der YPS-Botan, einem Zusammenschluss der Verteidigungseinheiten der gesamten kurdischen Botan-Region, bezieht sich ebenfalls auf eine breite Front des Widerstands. So betont auch deren Gründungserklärung dass der Widerstand umfassend organisiert werden müsse, da “den Kampf nicht nur die jungen Frauen und Männer führen, sondern die gesamte Bevölkerung von Botan”.
Betont wurde in der Gründungsrede Ende Dezember das Selbstverständnis als Selbstverteidigungseinheit. Hervorgehoben wird ein “aus den Kriegserfahrungen der Vergangenheit resultierendes” Prinzip der demokratischen Autonomie, wonach Gewalt nicht als strategisches Moment, sondern als ultima ratio anzusehen sei und die politische Lösung, die frei von physischer Gewalt sein sollte, im Vordergrund zu stehen habe.
Der Ethnisierung des Konflikts wird eine Absage erteilt. In der Gründungserklärung der YPS-Nusaybin heißt es: “So sehr dieser Kampf ein Kampf des kurdischen Volkes ist, so sehr ist er auch ein Kampf des türkischen Volkes und der ganzen Menschheit.”
An den Tagen nach der Gründung der YPS-Botan folgten die öffentlich bekannt gemachte Gründungungen von YPS-Einheiten in Amed, Cizre und Silopi und in anderen Orten, so dass mittlerweile in vielen kurdischen Städten YPS Strukturen bestehen. Aus vielen belagerten Städten werden bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Militär, Polizei und YPS gemeldet.
Formierung von Fraueneinheiten
Mittlerweile haben sich nicht nur die allgemeinen YPS-Einheiten gebildet, sondern, typisch für die kurdische Selbstorganisierung, autonome Fraueneinheiten, die unter dem Namen YPS-Jin auftreten – mit einem kämpferischen Selbstverständnis:
Das patriarchale System versucht das Freiheitsstreben der Frauen zu massakrieren… sich selbst zu verteidigen, ist das natürlichste Recht und die Aufgabe der Frau. Kein Angriff auf Frauen wird ohne Vergeltung bleiben. Wir versprechen, dass wir gegen jeden Vernichtungsangriff des Staates unseren Widerstand verstärken werden und entschlossen Widerstand gegen Zwangsprostitution, Belästigung, Vergewaltigung und anderer Mittel des Staates, um den Willen der Frauen und der Gesellschaft zu brechen, leisten werden.
Zuvor hatten Einheiten der Jugendbewegung der Frauen, der YDG-K, unter anderem zuvor dadurch auf sich aufmerksam gemacht, dass sie beispielsweise Zwangsehen verhinderten. In mehreren Städten sollen sichmittlerweile YPS-Jin Einheiten gebildet haben.
Parallelen zu Rojava – Vorbild: “Demokratischer Konföderalismus”
Die YPS veranschaulichen eine für die kurdische Bewegung typische “Kommunalisierung aller Strukturen”, Selbstverteidigung eingeschlossen. Ähnlich wie in Nordsyrien/Rojava gründeten sich auch in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei autonome basisdemokratische Rätestrukturen, die insbesondere seit den Wahlen am 7. Juni eine immer breitere Basis gefunden haben.
Die YPS organisieren sich nach einem ähnlichen Prinzip mit Schwerpunkten auf lokaler Ebene, aber mit einer Reichweite bis hin zur Großregion. Nach eigenen Angaben und ihrem Anspruch sind sie vielerorts “tief in der Bevölkerung verankert”. Gerade in Orten wie Gever (Yüksekova), Nusaybin, Amed (Diyarbakir) hat insbesondere der direkte Bruch mit dem Staat zu einer rapiden Ausbreitung der YPS geführt.
In Rojava, wo ein ähnliches System verfolgt wird, sind zivile Verteidigungseinheiten, sie heißen dort HPC, direkt mit der Basisorganisierung in Form von Räten verbunden. Ob dies in der Türkei aufgrund der staatlichen Repression und staatlichem Schießbefehl möglich ist, bleibt abzuwarten.
Die Bildung der YPS und die breite gesellschaftliche Beteiligung macht allerdings deutlich, dass der türkische Staat durch sein militärisches Vorgehen immer mehr an Legitimität einbüßt. Während im Frühjahr und im Sommer dieses Jahres friedliche Ausrufungen ziviler Selbstverwaltungen erfolgt waren, hat der türkische Staat mit dem Schießbefehl und dem faktischen Ausnahmezustand eine Situation herbeigeführt, in der ihm nicht nur die PKK-Guerilla HPG in den Bergen gegenübersteht, sondern auch bewaffneten Selbstverteidigungsmilizen in den kurdischen Städten.
Vielerorts kann die YPS anscheinend das Vordringen des Militärs und der Polizei in die belagerten Stadtviertel verhindern. Ziel der Aktivisten ist die Autonomie der Stadtviertel und der systematische Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen. Die Parole gegen den türkischen Staat lautet: “So sehr ihr IS werdet, so werden wir Kobanê”
Auch die YPS-Verantwortliche für Nusaybin, Nuda Yadigar, stellt den Bezug zu Rojava her:
Wir haben hier jetzt ein System wie in Rojava. Wir sind zu Rojava und Kobanê geworden…Sie haben sich alle begonnen, selbst zu verwalten. Ab jetzt wird der bewaffnete Kampf über die YPS geführt. Der Krieg ist nun in den Städten angekommen.
Allerdings führt mittlerweile auch die PKK-Guerilla, die HPG, anscheinend explizite Kommandoaktion in den Städten durch. So zum Beispiel einen Vergeltungsangriff aufgrund der gezielten Erschießung von zwölf Guerillakämpfern in Van/Edremit. Der PKK-Angriff galt einem Polizeihauptquartier in Amed Cinar. Nach Angaben der HPG und von Augenzeugen wurden dabei mehr als 30 Polizisten und mehrere Zivilisten getötet.
Die HPG gab sich in ihrer Reaktion selbstkritisch:
Es muss klar sein, dass sowohl in der Gesamtstrategie, als auch aufgrund ihrer politischen Ziele niemals Zivilistinnen und Zivilisten unser Ziel sein können. Das Ziel dieser Aktion waren die Sicherheitskräfte. Wir haben uns auf jede Weise darum bemüht, dass keine Zivilpersonen zu Schaden kommen. Aber weil dennoch Zivilistinnen und Zivilisten gestorben sind möchten wir hier unsere Trauer betonen und den Familien der zivilen Opfer unser tiefstes Beileid mitteilen.
Die türkischen Medien betonen, es habe nur einen toten Polizisten und fünf getötete Zivilpersonen gegeben. Anhand der Bilder der Zerstörung ist aber die Möglichkeit gegeben, dass die offiziellen Angaben untertreiben. Feststeht, dass es zu immer heftigeren Auseinandersetzungen um die Stadtviertel kommt, in Folge dessen Polizisten und Militärs getötet werden. Die meisten Angaben über gefallene Militärs und Polizisten stammen aus Berichten der YDG-H oder der HPG. Die türkische Regierung bevorzugt Schweigen.
Damit verfolgt sie eine traditionelle Politik des Verheimlichen eigener Verluste und der punktuellen Nutzung dieser, um nationalistische Stimmung anzuheizen. Sie scheint dabei von der Logik getragen zu sein, dass wenige stark thematisierte Verluste die nationalistische Stimmung anheizen, während viele, kontinuierliche Verluste Kriegsmüdigkeit und Zweifel erzeugen. In diesem Kontext ist das implizite Eingeständnis von Davutoglu bezeichnend:
Wir sind hier in keinem Filmdrehbuch. Die Türkei befindet sich in einem Ring aus Feuer, wir haben hunderte Soldaten und Polizisten als Märtyrer verloren.
Es wäre an der Zeit, vielleicht schon der letzte Moment, eine völlige Eskalation durch Friedensverhandlungen zu verhindern. Während die kurdische Seite immer noch ihre Bereitschaft zu Verhandlungen und Gesprächen betont, müsste die AKP Regierung von ihrem Kriegskurs abgebracht werden. Wie es scheint stellt dies aber keine der Prioritäten der NATO Staaten dar.
Diese Beitrag wurde im Vorfeld bei Telepolis veröffentlicht