Öcalan: „Großer Patriotismus bedeutet Wiederaufforstung und das Pflanzen von Bäumen“

Abdullah Öcalan über die Rückkehr zur Sozialökologie, 04.12.2017

So wie das System die gesellschaftliche Krise in das Chaosintervall geführt hat, so hat auch die Umwelt begonnen, in Form von lebensbedrohen­den Katastrophen S.O.S.-Signale auszusenden. Krebsartig wuchernde Städte, verschmutzte Luft, die durchlöcherte Ozonschicht, das rapide beschleunigte Aussterben von Tier-und Pflanzenarten, die Zerstörung der Wälder, die Verschmutzung der Gewässer durch Abfälle, sich auftürmende Müllberge und das unnatürliche Bevölkerungswachstum haben die Umwelt ins Chaos und zum Aufstand getrieben. Es geht nur um den maximalen Profit, ohne Rücksicht darauf, wie viele Städte, Menschen, Fabriken, Verkehrsmittel, syn­thetische Stoffe, verschmutzte Luft und verschmutztes Wasser unser Planet verkraften kann. Diese negative Entwicklung ist kein Schicksal. Sie ist das Ergebnis eines unausgewogenen Gebrauchs von Wissenschaft und Technik in der Hand der Macht. Es wäre falsch, Wissenschaft und Technik für diesen Prozess verantwortlich machen zu wollen. Wissenschaft und Technik für sich genommen tragen keine Schuld. Sie funktionieren entsprechend den Kräften des gesellschaftlichen Systems. Genauso, wie sie die Natur vernich­ten können, können sie sie auch heilen. Das Problem ist ausschließlich ein gesellschaftliches. Es gibt einen großen Widerspruch zwischen dem Niveau von Wissenschaft und Technik und dem Lebensstandard der überwältigen­ den Mehrheit der Menschen. Diese Situation ist das Ergebnis der Interessen einer Minderheit, die die Verfügungsgewalt über Wissenschaft und Technik besitzt. In einem demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftssystem dagegen werden Wissenschaft und Technik eine ökologische Rolle spielen.

Die Ökologie selbst ist ebenfalls eine Wissenschaft. Sie untersucht die Beziehung der Gesellschaft zu ihrer Umwelt. Zwar ist sie noch eine sehr junge Wissenschaft, aber sie wird eine führende Rolle spielen, wenn es darum geht, gemeinsam mit allen anderen Wissenschaften den Widerspruch zwischen Gesellschaft und Natur zu überwinden. Das schon stellenweise entwickelte Umweltbewusstsein wird durch eine so verstandene Ökologie einen revolutionären Sprung nach vorne machen. Das Band zwischen der kommunalen Urgesellschaft und der Natur ist wie das Band zwischen Kind und Mutter. Die Natur wird als etwas Lebendiges verstanden. Die goldene Regel der Religion dieser Zeit war, nichts gegen sie zu unternehmen, um von ihr nicht bestraft zu werden. Die Naturreligion ist die Religion der kommunalen Urgesellschaft. Bei der Entstehung der Gesellschaft gibt es keinen Widerspruch zur Natur, keine Anomalie. Die Philosophie selbst definiert den Menschen als „sich selbst bewusst werdende Natur.“ Der Mensch ist im Grunde der am weitesten entwickelte Teil der Natur. Dies belegt die Widernatürlichkeit und Anomalie dieses Gesellschafts­systems, welches den am weitesten entwickelten Teil der Natur in einen Widerspruch zu ihr setzt. Dass dieses Gesellschaftssystem den Menschen, der sich in Festen begeistert mit der Natur vereinigte, zu einer solchen Plage für die Natur hat werden lassen, zeigt, dass es selbst die Plage ist. Die Ganzheitlichkeit von Mensch und natürlicher Umwelt bezieht sich nicht nur auf Wirtschaft und Soziales. Es ist auch eine unverzichtbare phi­losophische Leidenschaft, die Natur zu verstehen. Das beruht eigentlich auf Gegenseitigkeit. Die Natur beweist ihre große Neugier und ihre schöpferi­sche Kraft, indem sie zum Menschen wird. Der Mensch hingegen erkennt sich selbst, indem er die Natur begreift. Bemerkenswert, dass das sumeri­sche Wort für Freiheit, „Amargi“, Rückkehr zur Mutter – also zur Natur – bedeutet. Zwischen Mensch und Natur besteht quasi eine Liebesbeziehung. Es ist dies eine große Liebesgeschichte. Diese Liebe zu zerstören ist, religi­ös ausgedrückt, eine Todsünde. Denn man kann keine größere Sinnkraft erschaffen als diese. In diesem Zusammenhang zeigt sich noch einmal die bemerkenswerte Bedeutung unserer Interpretation der weiblichen Blutung. Sie ist sowohl ein Zeichen für die Entfernung von der Natur als auch für die Herkunft aus ihr. Die Natürlichkeit der Frau rührt von ihrer Nähe zur Natur her. Darin liegt auch die eigentliche Bedeutung ihrer geheimnisvollen Anziehungskraft.

Kein Gesellschaftssystem, das nicht im Einklang mit der Natur steht, kann für sich Rationalität und Moralität beanspruchen. Daher wird das System, das am meisten im Widerspruch zur Natur steht, auch im Hinblick auf Rationalität und Moralität überwunden werden. Wie schon aus dieser kurzen Definition des Widerspruchs zwischen dem kapitalistischen Gesell­schaftssystem und seinem jetzigen chaotischen Zustand und der katastro­phalen Umweltzerstörung hervorgeht, handelt es sich um eine dialektische Beziehung. Der grundsätzliche Widerspruch zur Natur kann nur durch eine Abkehr vom System überwunden werden. Alleine durch Umweltschutzbe­wegungen kann er nicht gelöst werden. Auf der anderen Seite erfordert eine ökologische Gesellschaft auch eine moralische Wende. Das Amoralische am Kapitalismus kann man nur durch eine ökologische Vorgehensweise überwinden. Der Zusammenhang von Moral und Gewissen verlangt nach einer empathischen und sympathischen Spiritualität. Das wiederum ist nur sinnvoll, wenn es auf ökologischer Kompetenz beruht. Ökologie bedeutet Freundschaft mit der Natur, Glaube an die natürliche Religion. Insofern steht die Ökologie für einen erneuten, bewussten und aufgeklärten Zusam­menschluss zu einer natürlichen, organischen Gesellschaft.

Auch die praktischen Probleme einer ökologischen Lebensweise sind durchaus aktuell. Zu den Aufgaben der Aktivisten gehört es, die vielen bereits bestehenden Organisationen in jeder Hinsicht zu erweitern und zum integralen Bestandteil der demokratischen Gesellschaft zu machen. Dazu gehört ebenso die Solidarität mit der feministischen und der freiheitlichen Frauenbewegung. Eine der wichtigsten Aktivitäten bei der Demokratisie­rung ist die Förderung und Organisierung des Umweltbewusstseins. So wie es einmal ein ausgeprägtes Klassen-oder Nationalbewusstsein gab, so müssen wir durch intensive Kampagnen ein Bewusstsein für Demokratie und Umwelt schaffen. Ob es sich um die Rechte der Tiere, den Schutz der Wälder oder die Wiederaufforstung handelt – solche Aktionen sind, wenn sie richtig durchgeführt werden, unverzichtbares Element eines ge­sellschaftlichen Aktionismus. Denn Menschen, die kein Empfinden für das Biologische haben, können nur ein gestörtes gesellschaftliches Empfinden besitzen.

Wer die Beziehung zwischen beidem wahrnimmt, kann wahr und mit allen Sinnen empfinden. Die Natur, die bisher ausgeplündert und entblößt wurde, muss und wird Zeuge eines großen Kampfes für die Wiederher­stellung ihrer Decke aus Flora und Fauna werden. Man wird dem Wald wieder eine Chance geben müssen. „Großer Patriotismus bedeutet Wiederaufforstung und das Pflanzen von Bäumen.“ Dies ist eine wertvolle Parole.

Wer Tiere nicht liebt und schützt, wird auch Menschen nicht schützen und lieben können. Der Mensch gewinnt an Wert, wenn er begreift, dass ihm Tiere und Pflanzen nur anvertraut sind. Ein gesellschaftliches „Bewusstsein“, dem es an ökologischem Bewusstsein fehlt, wird zwangsläufig korrumpieren und zerfallen, wie man am Realso­zialismus gesehen hat. Das ökologische Bewusstsein ist ein fundamental ideologisches Bewusstsein. Es gleicht einer Brücke zwischen Philosophie und Moral. Eine Politik, die Rettung aus der gegenwärtigen Krise verspricht, kann nur dann zu einem richtigen gesellschaftlichen System führen, wenn sie ökologisch ist. Wie beim Problem der Freiheit der Frau hat das patriarchale und etatistische Machtverständnis auch Anteil daran, dass die ökologischen Probleme so lange verschleppt und noch immer nicht richtig gelöst worden sind. Wenn Ökologie und Feminismus sich weiter entwickeln, gerät das pa­triarchale und etatistische System völlig aus dem Gleichgewicht. Der wahre Kampf für Demokratie und Sozialismus wird erst dann zu einer kompletten Angelegenheit, wenn er sich die Freiheit der Frau und die Rettung der Natur auf seine Fahnen schreibt. Nur ein derart vervollständigter Kampf für ein neues gesellschaftliches System kann zu einem sinnvollen Ausweg aus dem aktuellen Chaos führen.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.


Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.