Offener Brief an die Bundesregierung über die Auswirkungen der Luftangriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien

In Nord- und Ostsyrien tätige deutsche NGOs und Einzelpersonen fordern die Bundesregierung zur Verurteilung der türkischen Angriffe auf die Autonomieregion auf. In einem offenen Brief informieren die Organisationen über die jüngste Angriffswelle der Türkei auf die kritische Infrastruktur im Norden Syriens und weisen darauf hin, dass die gezielte Bombardierung von medizinischen Einrichtungen, Kulturgütern und der Wasser- und Lebensmittelversorgung international als Kriegsverbrechen gilt.

Bereits Anfang Oktober 2023 habe die Türkei innerhalb weniger Tage große Teile der zivilen Infrastruktur zerstört, heißt es in dem offenen Brief: „Zu den Zielen gehörten Wasserwerke, Ölraffinerien, Elektrizitätswerke, aber auch Geflüchtetencamps und Krankenhäuser. Die Reparaturarbeiten hatten gerade erst begonnen, aber es mangelte nach wie vor an Wasser, Elektrizität und Gas.“

Das türkische Verteidigungsministerium rechtfertige die Luftangriffe als „Vergeltung“ für den Tod türkischer Soldaten bei Guerillaaktionen in der Kurdistan-Region des Iraks (KRI), so die NGOs: „Die Zivilbevölkerung in Nord- und Ostsyrien hat nichts mit den Kämpfen der Guerilla im Irak gegen die zunehmende Okkupation irakischen Territoriums durch die Türkei zu tun. Die Angriffe haben dramatische Folgen: Angesichts des umfassenden Embargos gegen Nord- und Ostsyrien sind zerstörte bzw. beschädigte Kraftwerke, Fabriken, Nahrungsmitteldepots und vor allem medizinische Einrichtungen nicht zu ersetzen.“

Weiter heißt es in dem offenen Brief:

Auch von deutschen NGOs getragene Einrichtungen zerstört

Das durch die Angriffe vollkommen zerstörte ‚Kobani Medical Center‘ umfasste eine kostenlose Notfallambulanz für die Stadtbevölkerung, eine Ambulanz für Diabetiker:innen und ein Kinderimpfzentrum. Der deutsche Verein „Armut und Gesundheit“ hat es zusammen mit „Ärzte ohne Grenzen“ gegründet und trägt die laufenden Kosten. Nach den schweren Erdbeben im Februar 2023 wurde es u.a. mit Spendengeldern der „Kinderhilfe Mesopotamien e.V.“ und der „Initiative Kölner Helfen“ wieder Instand gesetzt. In Qamishlo wurde ein Behandlungszentrum für Dialyse-Patienten und eine Produktionsstätte für medizinischen Sauerstoff zerstört, die auch mit Spendengeldern von deutschen Organisationen errichtet wurden. Die Mobile Klinik der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V., die gemeinsam mit der Frauenstiftung WJAS für Frauen und Kinder im Umland von Dêrik betrieben wird, musste aufgrund der Angriffe ihre Arbeit erneut vorübergehend einstellen, um nicht selbst zum Ziel türkischer Drohnen zu werden. Ein von der „Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan“ und anderen deutschen Initiativen initiiertes Bildungsprojekt für behinderte Kinder und Jugendliche in Kobanê musste die Arbeit unterbrechen, weil die Kinder und das Personal evakuiert werden mussten. Mediziner:innen der Internationalen Nothilfe IEH aus Europa können wegen der anhaltenden Angriffe vor Ort keine medizinische Hilfe leisten. 712 grenznahe Schulen wurden geschlossen, 90.000 Schüler:innen sind davon betroffen.

Die Türkei initiiert neue Fluchtbewegungen

Die multiethnische und multireligiöse Bevölkerung vor Ort, die sich seit Jahren nach demokratischen, ökologischen und feministischen Werten selbstverwaltet, verliert durch die dauernden Angriffe der Türkei jede Sicherheit und Stabilität. Die Menschen dort, die in unser aller Interesse den IS besiegt haben, stehen heute unter ständiger Bedrohung und haben keinerlei Mittel, sich gegen die allgegenwärtigen Drohnen und die Kampfflugzeuge zu verteidigen. Die ökonomische Basis bricht zusammen, von wirtschaftlicher Entwicklung ganz zu schweigen. „Nord- und Ostsyrien hat sich seit über einem Jahrzehnt zu einer Demokratie mit starken Frauen- und Minderheitenrechten entwickelt. Nachdem der sog. IS zu großen Vertreibungen aus der Region geführt hatte, ist es nun die Türkei, die neue Flüchtlingsströme zu verantworten hat. Die vielen intensiven Bombardierungen, sowie die Besetzungen von Teilen Nordsyriens durch die Türkei haben zu neuen Fluchtbewegungen – auch nach Europa – geführt. Allein am 24.12.23 flohen mehrere hundert Menschen über die Grenze in den Nordirak.

Deutschland sollte im eigenen Interesse Fluchtursachen bekämpfen und den Menschen Stabilität, Sicherheit und eine Perspektive in ihrer Heimat Nord- und Ostsyrien ermöglichen. Darum muss die Bundesregierung die Bombenangriffe des NATO-Partners Türkei auf die zivile Infrastruktur klar verurteilen. Lassen Sie Erdogan nicht einfach gewähren, wenn er die Region weiter destabilisiert: Denn die Intention der türkischen Regierung ist es, durch die fortdauernden Angriffe und Zerstörungen die dort ansässige Bevölkerung zu zermürben, zur Flucht zu zwingen, um letztendlich durch eine dauerhafte Änderung der Bevölkerungsstruktur zugunsten der Türkei eine Ausweitung des türkischen Staatsgebiets auf die von Erdogan angestrebte „Sicherheitszone“ zu erreichen. Dabei gibt es bisher keinen Hinweis, dass Angriffe aus Nord- und Ostsyrien auf die Türkei jemals stattgefunden haben.

Uns als in Nord- und Ostsyrien tätige deutsche NGOs und Einzelpersonen ist wichtig, dass die Bundesregierung sich deutlich zu den türkischen Angriffen äußert.

Daher fordern wir:

  • Eine Verurteilung der Angriffe auf die Infrastruktur und Zivilbevölkerung durch die Außenministerin und die Bundesregierung
  • Schnelle Hilfe für Wiederaufbaumaßnahmen der zerstörten Infrastruktur durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Gebiet der Selbstverwaltung
  • Freigabe von BMZ-Mitteln auch für uns als kleine NGOs
  • Einsatz bei der NATO und dem UN-Sicherheitsrat für eine Flugverbotszone gegen die Türkei über Nord- und Ostsyrien sowie den Nordirak und das ezidische Siedlungsgebiet in Shengal
  • Keine Waffenlieferungen oder Drohnenkomponenten an die Türkei

Lassen Sie uns gemeinsam auf die Lage und die Zerstörungen in Nord- und Ostsyrien aufmerksam machen! Wir werden alles versuchen, um die Zivilbevölkerung beim Wiederaufbau der zivilen Infrastruktur zu unterstützen!

Erstunterzeichner (in alphabetischer Reihenfolge):

Adopt a revolution

Akram Naasan: Arzt für Notfallmedizin

Dialogkreis e.V. (Mail: dialogkreis@web.de)

Dr. Michael Wilk: Notarzt, Psychotherapeut

Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. (GfbV)

Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan e.V.

Initiative Kölner helfen

Internationale Nothilfe (IEH)

Kinderhilfe Mesopotamien e.V.

Kölner Spendenkonvoi e.V.

medico international

Projekt für Bildung e.V.

Städtefreundschaft Frankfurt – Kobanê e.V.

Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V.

Städtepartnerschaft Köln – Qamishlo

Städtepartnerschaft Oldenburg – Raqqa e.V.

Verein Armut und Gesundheit e.V.

Welle – Zentrum für Traumapädagogik

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Weitere Unterzeichnende

Weitere Unterzeichnende sind Çiler Fırtına, Dolmetscherin; Flamingo e.V.; Förderverein der Kreispartnerschaft Herford – Kobane/Nordsyrien e.V.; Hevrin Khalev Heilkräutergarte; Jinwar Komitee Europa; Heidi Merk, Niedersächsische Landesjustizministerin a. D.; Ruben Neugebauer; Dr. h. c. Herbert Schmalstieg, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover a. D., Sprecher des Freundeskreises Hannover-Diyarbakir; Stiftung der Freien Frau in Syrien (WJAS) in Deutschland. Wer den offenen Brief unterstützen will, kann weitere Unterschriften schicken an: frankfurt-kobane[at]gmx.de