Martin Dolzer, Soziologe
Warum das Leben einer ukrainischen Politikerin der Bundesregierung offenbar mehr bedeutet als das Leben von 7000 kurdischen PolitikerInnen und der gesamten kurdischen Bevölkerung
Im Vorfeld und während der Fußball-Europameisterschaft wurde viel über einen Boykott der Spiele in der Ukraine geredet. Viele PolitikerInnen, u. a. die Bundesregierung und die EU-Kommission, entschlossen sich, die Ukraine zur EM nicht zu besuchen. Begründet wurde das mit der Inhaftierung und den Haftbedingungen der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Timoschenko. Sie war wegen Bandscheibenproblemen im Gefängnis nicht von einem Arzt ihrer Wahl, sondern vom Gefängnisarzt untersucht worden und trat in einen Hungerstreik. Fotos, auf denen Timoschenko mit einem blauen Fleck am Arm zu sehen war, gingen um die Welt. Der Vorwurf von Misshandlungen wurde nicht erhoben. Das Schicksal etwaiger weiterer politischer Gefangener nicht thematisiert.
Die Politikerin verbüßt derzeit eine siebenjährige Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs. Sie hatte während ihrer Amtszeit, schlicht gesagt, ukrainisches Staatseigentum verscherbelt und den Gewinn in die eigenen Taschen gewirtschaftet. Unter anderem ein US-amerikanisches Anwaltskonsortium hatte die Anklage geprüft und kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Handlungen Timoschenkos um einen gewöhnlichen Fall von Wirtschaftskriminalität handelte, der gemäß rechtsstaatlichen Normen bestraft wurde. Gegen ihre Haftbedingungen protestierte die ehemalige Regierungschefin eine Zeit lang mit einem Hungerstreik. Timoschenko wirft Präsident Janukowytsch vor, dass die Prozesse gegen sie ausschließlich politisch motiviert wären. „Wir wollen, dass möglichst bald eine Behandlung und Untersuchung durch deutsche Ärzte stattfinden kann. Daran arbeiten wir derzeit. Aber wir gehen davon aus, dass eine dauerhaft erfolgreiche medizinische Behandlung nur in einem anderen Land möglich sein wird“, kommentierte Guido Westerwelle die über den Boykott hinausgehenden Absichten der Bundesregierung.
Fraglich ist, warum z. B. die Hallen-Leichtathletikweltmeisterschaften 2012 oder ähnliche Ereignisse in der Türkei nicht zu solch einer Reaktion führten und führen. In der Türkei befinden sich 2 300 Minderjährige im Gefängnis. Viele von ihnen wurden gefoltert und wie in Pozanti systematisch vergewaltigt. Zudem wurden seit 2009 mehr als 7 000 PolitikerInnen, MenschenrechtlerInnen, AnwältInnen und JournalistInnen inhaftiert. Darunter 6 ParlamentarierInnen und 33 BürgermeisterInnen. Der Mehrheit wird seit Jahren angemessene medizinische Versorgung verweigert. Die Gefängnisse sind meist 3- bis 4-fach überbelegt. Seit Jahren nimmt die Zahl der Fälle von Folter in der Türkei wieder zu. 2011 zeigten Betroffene 1555 Fälle von Folter an. Zudem wird in den türkischen Gefängnissen systematisch gefoltert und vergewaltigt. Unzählige Wärter wurden gemäß der „Panamaschule“, einer Schule der Foltermethoden, ausgebildet. All das veranlasst die „verantwortlichen“ PolitikerInnen in Deutschland und der EU allerdings eher zu einem Verhalten ähnlich dem der drei Affen von Gibraltar: „Nichts sehen – Nichts hören – Nichts sagen.“ Dementsprechend wird das Schicksal der kurdischen Bevölkerung genauso ausgeblendet und weitgehend ignoriert wie der mehr als 50-tägige Hungerstreik von ca. 1500 politischen Gefangenen im Frühjahr 2012, die Verurteilungen von kurdischen PolitikerInnen wie Leyla Zana und Aysel Tuğluk oder die seit mehr als 300 Tagen andauernde Totalisolation Abdullah Öcalans auf Imralı. Eine solche Doppelmoral ist ekelerregend – aber leicht analysierbar.
Die Antwort darauf warum derart erschreckende Menschenrechtsverletzungen und sogar Berichte über Chemiewaffeneinsätze durch das türkische Militär die Bundesregierung und die EU-Kommission nicht zu Sanktionen bewegen, ist im Grunde genommen sehr einfach. Die Türkei ist ein NATO-Partner. Darüber hinaus gilt die Türkei den EU-Strategen als Energiedrehscheibe für den Mittleren Osten. Es geht um die Kontrolle der Ressourcen Öl, Gas und Wasser und die Absicherung der Transportwege. Die AKP wird in diesem Rahmen als positives Rollenmodell zur Öffnung der Märkte und der Unterdrückung von linksoppositionellen Bewegungen im Mittleren Osten betrachtet. Eine emanzipatorische Bewegung wie die kurdische Bewegung, die die Bevölkerung demokratisch organisiert und von tragfähigen Mehrheiten unterstützt wird, wird in Bezug auf die kolonialpolitischen Begehrlichkeiten eher als Hindernis gewertet. Zudem wäre eine real demokratische Organisierung, wie sie in den Kommunen in den kurdischen Provinzen der Türkei umgesetzt wird, eher ein nicht „gewünschtes“ Rollenmodell für die Neugestaltung des Mittleren Ostens.
In der Ukraine ist die Situation dagegen eine andere. Mit der hauptsächlich aus den USA und seitens der EU-Regierungen geförderten „Orangenen Revolution“ im Jahr 2004 wurde versucht, das Land an die „westliche Wertegemeinschaft“ und die NATO zu binden. Julija Timoschenko war die seitens der EU geförderte reaktionäre Politikerin, die diesen Wandel verkörpern sollte. Es kam zu einer von den Medien weltweit gehypten Protestbewegung – und die ultrakonservative Timoschenko wurde Regierungschefin. Vorbereitet wurde das Szenario u. a. von der „Umsturzagentur“ OTPOR, einer hauptsächlich von CIA-nahen Kreisen finanzierten und geschulten „Studentenorganisation“, die bereits in Jugoslawien maßgeblich an der Destabilisierung des Landes und den Vorbereitungen des Krieges beteiligt gewesen war. Auch in Georgien verhalfen die auf die Inszenierung von zivilem Ungehorsam trainierten „Studenten“ dem NATO-freundlichen Michael Sakaschwili zur Macht. Die Süddeutsche Zeitung berichtete kürzlich, dass OTPOR auch an den mehr oder weniger „friedlichen“ Aufständen in Ägypten und Libyen beteiligt war.
Nach nur einer Legislaturperiode bemerkte ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung jedoch, dass die AkteurInnen der „Orangenen Revolution“ hauptsächlich ihr eigenes Wohl und nicht das Schicksal der Mehrheit der Menschen im Sinne hatten. Die Regierung wurde abgewählt. Der jetzige Ministerpräsident Jaukowytsch ist eher prorussisch eingestellt. Wenn man sich verdeutlicht, dass Julija Timoschenko eine Machthaberin nach dem Willen der USA und der EU war, die durch eine medial aufgebauschte Inszenierung an die Macht gekommen war, wird nachvollziehbar, dass diejenigen, die sie an die Macht gebracht haben, sie auch weiterhin protegieren. Noch immer gilt dasselbe Ziel – die Ukraine soll an die EU gebunden werden. Falls demokratische Mehrheiten eine andere Entwicklung anstreben oder bewirken, wird das negativ sanktioniert und wenn notwendig auch versucht, dies zu sabotieren. Dazu passt der Zeitpunkt der „Inszenierung“ der Haftbedingungen Timoschenkos perfekt.
Wir haben es hier mit einem Baustein der neokolonialen Ausrichtung der Politik der EU zu tun. Die Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik der EU entwickelt sich seit geraumer Zeit, besonders seit dem 11.9.2001, zunehmend aggressiver. In sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen und internationalen Beziehungen spielen autoritäre und gewaltförmige „Lösungsansätze“ und politische Vorgehensweisen eine immer größere Rolle. Gemeint ist damit einerseits direkte körperliche Gewalt – z. B. durch die Polizei auf Demonstrationen oder im öffentlichen Raum, wie kürzlich gegen KurdInnen, die in Berlin und Frankfurt demonstrierten, oder kriegsförmige Gewalt, wie z. B. im Rahmen einer immer offensiver propagierten und umgesetzten EU-Militär- und Kolonialpolitik, oder die Gewalt anderer Sanktions- und Interventionsformen (wie im Fall der Ukraine). Andererseits umfasst das auch juristische Gewalt, wie z. B. die der § 129b-Verfahren gegen kurdische Politiker in der Bundesrepublik sowie soziale, wirtschaftliche oder strukturelle Gewalt.
In diesem Gesamtkontext planen die Strategen des maßgeblichen Think Tanks der EU-Außen- und Sicherheitspolitik, des EUISS (European Institute for Secdurity Studies), die zukünftigen Kriege nicht mehr zwischen Staaten, sondern zwischen ungleichen sozioökonomischen Klassen, den metropolitanen Eliten und den bottom billion (dem Bodensatz der rechtlosen Milliarden). Die Kontrolle der Ressourcen soll diesem Konzept zufolge durch militärische Interventionen, durch die Förderung willfähriger Bewegungen oder finanzpolitische Maßnahmen, wenn es sein muss auch gegen demokratische Mehrheiten in der Bevölkerung oder mehrheitsfähige Bewegungen oder auch gegen gewählte Regierungen, durchgesetzt werden – wie jetzt in Syrien geplant. Alles andere muss von starken in der Bevölkerung verankerten politischen Bewegungen erstritten werden.
entnommen aus Kurdistan Report Nr. 162