Polizeigewalt und Festnahmen bei Protesten gegen Zwangsverwaltung

Die Proteste gegen die türkische Regierung wegen der Absetzung von drei kurdischen Bürgermeister:innen und ihre Ersetzung durch regierungstreue Zwangsverwalter dauern ununterbrochen an. Bei den Protesten kommt es zu schwerer Polizeigewalt und Festnahmen. In der Stadt Êlih (tr. Batman) setzte die türkische Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen Demonstrierende ein. Es gibt zahlreiche Verletzte. Unter den Demonstrierenden befinden sich auch die abgesetzte Bürgermeisterin Gülistan Sönük und der DBP-Ko-Vorsitzende Keskin Bayındır.

Auch in Mêrdîn (tr. Mardin) gehen die Proteste gegen die erneute Zwangsverwaltung weiter. Dort begann vor dem Rathaus eine „Mahnwache für Gerechtigkeit“, die noch andauert. Auch der abgesetzte Bürgermeister von Mêrdîn, Ahmet Türk, war vor Ort. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel nahm ebenfalls teil.

Weitere Proteste fanden unter anderem in Amed (tr. Diyarbakır), Mersin, Istanbul sowie in Xelfetî (tr. Halfeti) statt. In Xelfetî und Mêrdîn stürmten Polizeieinheiten zudem mehrere Stadtviertel und führten Hausdurchsuchungen durch. Im kurdischen Wan (tr. Van) griff die Polizei eine Sitzblockade an, es kam zu gewaltsamen Festnahmen. Für die nächsten Tage sind weitere Proteste angekündigt. Dazu haben verschiedene politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen aufgerufen, darunter der Gewerkschaftsbund KESK und die kurdische Frauenbewegung TJA.

Was war geschehen?

Nachdem in der vergangenen Woche der Istanbuler Stadtteil Esenyurt unter Zwangsverwaltung gestellt und der kurdische Bürgermeister, Ahmet Özer (CHP), als angebliches Mitglied einer Terrororganisation verhaftet worden war, wurden am Montagmorgen in den nordkurdischen Provinzhauptstädten Mêrdîn (tr. Mardin) und Êlih (tr. Batman) sowie in der Kreisstadt Xelfetî (tr. Halfeti) die demokratisch gewählten Ko-Bürgermeister:innen der DEM-Partei abgesetzt und durch regimetreue Zwangsverwalter ersetzt. Begründet wurde der Vorgang, wie bereits bei früheren Amtsenthebungen und Masseninhaftierungen kurdischer Politiker:innen, mit einer angeblichen Mitgliedschaft oder Verbindung zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

In Mêrdîn umstellte die Polizei in den frühen Morgenstunden das Rathaus. Gleichzeitig wurde dem mit 57,4 Prozent der Stimmen gewählten Ko-Bürgermeister der Provinzhauptstadt, Ahmet Türk, mitgeteilt, dass er auf Anordnung des Innenministers seines Amtes enthoben werde.

Auch in Êlih wurde die Stadtverwaltung umstellt, ein Zwangsverwalter eingesetzt und die mit 64,52 Prozent der Stimmen gewählte Ko-Bürgermeisterin Gülistan Sönük abgesetzt.

In der Kreisstadt Xelfetî wurde das Rathaus von der Polizei abgeriegelt. Hier wurde der Ko-Bürgermeister Mehmet Karayılan festgenommen.

Die DEM-Partei bezeichnet die Amtsenthebungen als „Staatsstreich“ und sieht darin einen Angriff auf das Recht des kurdischen Volkes, zu wählen und gewählt zu werden. Die DEM-Partei hatte bei den Kommunalwahlen Ende März in dutzenden kurdischen Gemeinden gewonnen. Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan erlebte hingegen ein Wahldebakel.

Türkei-Berichterstatter der EU kritisiert Amtsenthebungen

Der Türkei-Berichterstatter des Europäischen Parlaments, Nacho Sánchez Amor, hat die Einsetzung von Zwangsverwaltern in drei kurdischen Städten scharf kritisiert. Das „Treuhandsystem“ der türkischen Regierung stelle einen „eklatanten Angriff“ auf die Demokratie dar, schrieb der sozialdemokratische EU-Abgeordnete am Montag auf der Plattform X. Dieser Angriff sei darauf ausgerichtet, den Willen des Volkes zu usurpieren, und erfordere eine klare Antwort der EU, so Sánchez Amor.

Bundesregierung hüllt sich in Schweigen

Die Bundesregierung hat sich bislang nicht zu den undemokratischen Praktiken ihres NATO-Partners Türkei geäußert. Sie schweigt weiterhin zu der Tatsache, dass die Türkei die Anerkennung der Wahlergebnisse verweigert, kurdische Bürgermeister:innen durch Zwangsverwalter ersetzt und unter Gewalt festnimmt. Seit Jahrzehnten wird Kurd:innen in der Türkei die Möglichkeit verwehrt, sich frei an politischen Prozessen zu beteiligen. Ein Ausschluss von Kurd:innen aus sämtlichen Lebensbereichen sowie eine Bestrafung ihres politischen Engagements mit hohen Haftstrafen, Verfolgung und Gewalt sind an der Tagesordnung.

Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Baerbock äußerten sich zuletzt zufrieden über die enge Zusammenarbeit mit der Türkei. Des Weiteren genehmigte die Bundesregierung kürzlich Waffenlieferungen im Wert von 336 Millionen US-Dollar an die Türkei. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund skandalös, dass die Türkei in Zusammenarbeit mit islamistischen Milizen im Norden und Osten Syriens sowie im Nordirak immer wieder zivile Ziele und kritische Infrastruktur bombardiert,  Kriegsverbrechen begeht und Menschenrechte im eigenen Land mit Füßen tritt.