Präsidialsystem in der Türkei: Ein Blick auf die geplanten Verfassungsänderungen

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 19.01.2017

Recep Tayyip Erdoğan, Staatspräsident der Türkei, hat die Zeit nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli als ideale Gelegenheit für den Übergang zum von ihm herbeigesehnten Präsidialsystem zu nutzen verstanden. In einem Bündnis mit der ultranationalistischen MHP ist es nun der regierenden AKP gelungen, die geplanten Verfassungsänderungen Paragraf für Paragraf durch die Abstimmungen der ersten Debattenrunde am 13. Januar durchzuwinken. Seit gestern, dem 18. Januar debattiert das Parlament in der zweiten Runde über die Verfassungsänderungen. Wenn das Parlament auch in dieser Runde sich im Sinne der Verfassungsänderungen entscheidet, was zu erwarten ist, kommt es noch zu einer dritten Debattenrunde, in welcher über Verfassungspaket als Ganzes abgestimmt wird, bevor es dann zu einem Referendum über die Verfassungsänderung käme. Das Referendum soll dann Anfang April dieses Jahres stattfinden.

Doch was hat es mit der geplanten Verfassungsänderung eigentlich auf sich? Warum wird es so heftig kritisiert? Und stimmt es, dass durch die neue Verfassung der Weg zu einer Ein-Mann-Diktatur in der Türkei geschaffen wird?

Um eine Antwort auf die Fragen zu finden, wollen wir uns die geplanten Veränderungen der türkischen Verfassung, die das „Staatspräsidenten-System“, wie es von den Regierungsanhängern genannt wird, einführen soll, genauer anschauen. So wird uns klarer, welche Form die türkische Verfassung, die nicht nur bis zur Republikgründung 1923 sondern eigentlich bis 1876 (Einführung der ersten Verfassung des Osmanischen Reiches) zurückgeht, unter der AKP annehmen soll:

  • Das Ministerpräsidialamt wird abgeschafft: Alle Kompetenzen des Ministerpräsidenten und des Ministerrates werden direkt an den Staatspräsidenten übertragen. Alle Funktionen, die dem Ministerrat laut Verfassung und den bestehenden Gesetzen zukommen, werden auf den Staatspräsidenten umgemünzt. Das bedeutet der Begriff „Ministerrat“ wird aus den Gesetzestexten getilgt und durch den Begriff „Staatspräsident“ ersetzt. Die Minister werden fortan nur aus dem Kreis der Personen, die vom Staatspräsidenten festgelegt werden, ernannt. Dem Parlament wird das Recht, die Minister zu bestimmen, entzogen. Auch wird das Parlament nicht mehr die Möglichkeit haben, die Minister zu kontrollieren oder sie abzusetzen. Das Recht Misstrauensanträge oder die Vertrauensfrage zu stellen, wird dem Parlament ebenfalls entzogen.
  • Die Legislative wird durch den Staatspräsidenten kontrolliert: Während zuvor der Staatspräsident kein Mitglied einer politischen Partei sein durfte, so soll er fortan sogar gleichzeitig Parteivorsitzender sein dürfen. Wenn man nun bedenkt, dass der Parteivorsitzende in der Türkei das Recht hat, in die Kandidatenlisten seiner Partei für die Parlamentswahlen eingreifen zu dürfen, so wird der Staatspräsident, der übrigens laut neuer Verfassung am gleichen Tag wie das Parlament gewählt werden soll, auch die gesamte Abgeordnetenliste seiner Partei bestimmt haben.
  • Der Staatspräsident kann das Parlament auflösen: Dem Staatspräsidenten wird das Recht zugestanden, das Parlament einseitig und nur mit einem Entschluss aufzulösen. Von diesem Recht kann der Staatspräsident sofort Gebrauch machen, wenn er das Gefühl hat, dass das Parlament außer seiner Kontrolle gerät.
  • Der Haushalt wird durch den Staatspräsidenten erstellt: Wenn der Haushalt aus irgendeinem Grund vom Parlament abgelehnt wird, so kann der Staatspräsident auf Grundlage des Haushaltes des Vorjahres alleine den neuen Haushalt bestimmen. So wird die wichtige „Waffe“ einer demokratischen Opposition, durch die Haushaltsdebatte die Regierung zu kontrollieren und sie ggf. zu stoppen, ihr entrissen.
  • Der Staatspräsident hat das Recht Dekrete zu erlassen: Das in Ausnahmezuständen zugelassene Recht, Dekrete mit Gesetzescharakter (kurz KHK, Kanun Hükmünde Kararname) zu erlassen, soll fortan ständig möglich sein. Mit diesen Dekreten wird in der Person des Staatspräsidenten eine zweite gesetzgebende Kraft erschaffen. Wenn ein Gesetzentwurf aus irgendeinem Grund durch das Parlament abgelehnt wird, so kann der Staatspräsident einseitig dieses Gesetz dennoch erlassen.
  • Das Veto-Recht des Staatspräsidenten wird ausgeweitet: Das bestehende Veto-Recht des Staatspräsidenten soll fortan mehr Gewicht erhalten. Denn wenn der Staatspräsident bislang von seinem Veto-Recht gegenüber einem im Parlament verabschiedeten Gesetz Gebrauch gemacht hat, so konnte das Parlament mit einer einfachen Mehrheit im Parlament (auch wenn nicht alle Abgeordneten bei entsprechender Sitzung anwesend waren) das Veto-Recht des Staatspräsidenten umgehen. Fortan müssen laut vorgesehener Verfassung mind. 301 Abgeordnete für einen Gesetzentwurf stimmen, wenn dieses trotz Veto des Staatspräsidenten verabschiedet werden soll (Laut der geplanten Verfassung wird die Zahl der gewählten Abgeordneten von 550 auf 600 steigen).
  • Der Staatspräsident kann nach Belieben öffentliche Einrichtungen öffnen und schließen: Während bislang der Ministerrat für die Eröffnung einer öffentlichen Einrichtung einen entsprechenden Gesetzesentwurf an das Parlament übermitteln musste, soll der Staatspräsident fortan mit Hilfe eines Dekretes selbst öffentliche Einrichtungen eröffnen oder schließen dürfen. So kann der Staatspräsident bspw. auch alleine neue Ministerien oder Rechts- und Verwaltungsinstanzen. Wenn man den Gedanken weiter denkt, so wird der Staatspräsident sogar paramilitärische Verbände im Dienste des Staates für den Krieg gegen die Kurden gründen können.
  • Keine Kontrolle über die Gesetzesdekrete des Staatspräsidenten: Wie oben beschrieben soll der Staatspräsident zur zweiten gesetzgebenden Kraft im Staate werden. Im Ausnahmezustand und in Kriegsfällen soll der Staatspräsident diese Dekrete direkt ohne Aufsicht des Verfassungsgerichts erlassen dürfen. In den übrigen Fällen soll das Verfassungsgericht diese Dekrete zwar prüfen dürfen. Doch wenn man bedenkt, dass 12 der 15 Verfassungsrichter wiederum vom Staatspräsidenten selbst ernannt werden sollen, so gerät dieser Kontrollmechanismus auch zur Farce.
  • Alle hochrangigen Staatsbediensteten werden durch den Staatspräsidenten ernannt: Ebenso wie alle Minister sollen auch die hochrangige Staatsbedienstete und Bürokraten durch den Staatspräsidenten ernannt werden dürfen. In welcher Form diese Ernennungen ablaufen sollen, das bestimmt wiederum auch der Staatspräsident mittels seiner Dekrete. So gesehen wird also der Staat von oben bis unten im Sinne und nach den Vorstellungen einer Person gestaltet.
  • Das Bildungssystem unter Kontrolle des Staatspräsidenten: Die ohnehin nur schwach ausgeprägte Autonomie der Hochschule in der Türkei wurde bereits mit einem Gesetzesdekret des Staatspräsidenten abgeschafft. Denn die Wahl der Hochschulrektoren wurde bereits abgeschafft, sie werden bereits vom Staatspräsidenten direkt ernannt. Mit den vorgesehenen zusätzlichen Änderungen sollen neben den Hochschulrektoren auch die Mitglieder des Hochschulrates YÖK (Yüksek Ögretim Kurulu) durch den Staatspräsidenten ernannt werden. Da zusätzlich auch der Bildungsminister durch den Staatspräsidenten ernannt wird, steht somit das gesamte Bildungssystem unter der direkten Kontrolle des Staatspräsidenten.
  • Das Militär steht unter dem Befehl des Staatspräsidenten: War bisher die Rede davon, dass die AKP im Sinne demokratischer Maßstäbe den Generalstab an das Verteidigungsministerium anbinden wolle, so verwirft sie diesen Gedanken mit dem neuen Verfassungsentwurf vollständig und unterstellt den Generalstab dem Staatspräsidenten. Während der Oberbefehl über die Streitkräfte zuvor zu den Kompetenzen des Parlaments gehörte, soll dieses auch dem Staatspräsidenten übergeben werden. In der Geschichte des türkischen Parlaments gab es einen solchen Fall nur einmal und das nur für drei Monate. Am 5. August 1921 wurde dieses Recht für drei Monate Mustafa Kemal Atatürk übertragen. Nun soll der Oberbefehl permanent an das Amt des Staatspräsidenten gebunden werde. Zudem kann der Staatspräsident mittels seiner Dekrete bestimmen, wie, wann und unter welchen Umständen er den Oberbefehl über die militärischen Kräfte des Landes ausüben möchte.
  • Der Staatspräsident kann den Ausnahmezustand ausrufen: Während zuvor auf Empfehlung des Nationalen Sicherheitsrates und Beschluss des Ministerrates der Ausnahmezustand (OHAL) erklärt werden konnte, soll mit dem Dahinscheiden des Ministerrates auch diese Kompetenz an den Staatspräsidenten übertragen werden.
  • Der Staatspräsident ernennt die türkischen Botschafter: Auch dieses Recht wird dem Amt des Staatspräsidenten übertragen. Damit einhergehend werden auch die Personen, die im Namen der Türkei internationale Abkommen schließen dürfen, durch den Staatspräsidenten bestimmt.
  • Die Unabhängigkeit der Justiz existiert nicht mehr: Sechs von zwölf Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) sollen vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Unter ihnen befindet sich auch der Justizminister. Mit den Richtern, die nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli beiseite geschafft wurden und der per Dekret eingeleiteten Aufhebung der gesonderten Prüfungspflicht für Richter, haben wir es endgültig mit einem Justizwesen zu tun, das vollständig unter dem Einfluss des Staatspräsidenten steht.
  • Der Staatspräsident kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden: Trotz der breiten Kompetenzen, die dem Staatspräsidenten aufgetragen werden sollen, ist keine Instanz vorgesehen, welche das Amt des Staatspräsidenten überprüfen, kontrollieren und zur Rechenschaft ziehen kann. Dasselbe gilt auch für die Vertreter des Staatspräsidenten und die Minister, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Durch die Abschaffung des Misstrauensvotums werden Amtsmissbrauch und Korruption Tür und Tor geöffnet. Da auch 12 von 15 Mitgliedern des Verfassungsgerichtes vom Staatspräsidenten ernannt werden sollen, wäre die Erwartung, dass der Staatspräsident durch das Verfassungsgericht kontrolliert wird, schlichtweg Selbstbetrug.
  • Die Voruntersuchung von Gesetzestexten wird abgeschafft: Aktuell werden die Gesetzesentwürfe durch den Staatsrat geprüft, um ihre Formulierung und Auslegung zu prüfen. So soll verhindert werden, dass Gesetze zweideutig ausgelegt werden können. Das soll es aber nicht mehr geben, wodurch die Anwendung von neuen Gesetzen möglicherweise je nach Interessenslage sich unterschiedlich gestalten kann.
  • Der Staatspräsident soll dreimal gewählt werden können: Mit den geplanten Änderungen soll der Staatspräsident im Normalfall zwei Amtsperioden zu je fünf Jahren regieren dürfen. Wenn der Staatspräsident allerdings in seiner zweiten Amtszeit das Parlament auflöst, kann er auch für eine dritte Amtsperiode antreten. Im Falle von Staatspräsident Erdoğan wird selbstverständlich die aktuelle Amtszeit nicht mit eingerechnet.
  • Die einzige Kontrollinstanz: Die einzige Kontrollinstanz die gegenüber dem Amt des Staatspräsidenten geschaffen werden soll, besteht aus einem Zusammenspiel von 400 Abgeordneten und dem Verfassungsgericht. Doch wenn man bedenkt, dass der Staatspräsident wohlmöglich die Kandidaten seiner eigenen Partei aufstellen kann und zusätzlich den größten Teil der Verfassungsrichter ernennt, so bleibt einem nichts anderes übrig, als diese Kontrollinstanz als Farce zu bezeichnen.

Im Ergebnis bedeuten diese Änderungen also nichts anderes, als dass das  geplante Präsidialsystem in der Türkei den Weg in eine Diktatur eröffnet. Die Funktion des Parlaments wird praktisch außer Kraft gesetzt, während die Macht in den Händen des Staatspräsidenten konzentriert wird.