Strahlende Sieger sehen anders aus

Am 1. November war es so weit: Russische und türkische Soldaten begannen mit ersten gemeinsamen Patrouillen; sie starteten an der Grenzstadt Dirbêsiyê‎ (al-Darbasiyah), nach knapp 110 Kilometern in Richtung Westen war erst einmal Schluss. Nicht gerade freundlich wurden die türkischen Panzer von den kurdischen Bewohner*innen des Gebietes empfangen. Videos in den sozialen Medien zeigen, wie faules Obst und Gemüse, ja sogar ein Schuh (eine Hommage an Montazer al-Zaidis Schuhwurf auf George W. Bush aus dem Jahr 2008) auf die patrouillierenden türkischen Panzer flogen.

Als die türkische Regierung am 9. Oktober den völkerrechtswidrigen Krieg mit dem Namen »Operation Friedensquelle« auf Rojava startete, war ihr Plan, eine 32 Kilometer tiefe und 444 Kilometer breite Region unter türkische Kontrolle zu bringen und in dieser »Friedenszone« Millionen syrischer Geflüchteter anzusiedeln, die derzeit in der Türkei leben. Mit dem Memorandum, das Russland und die Türkei am 22. Oktober unterzeichneten, hat das Gebiet, das der türkischen Besatzung überlassen wurde, nun zwar auch eine Tiefe von 32, allerdings nur eine Breite von rund 110 Kilometern. Der türkischen Armee und einem Bündnis islamistischer Gruppierungen war es nach mehreren Wochen intensiver Kämpfe mit den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) und der Unterstützung durch die türkische Luftwaffe gelungen, die Grenzstädte Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) einzunehmen. Das Gebiet soll nun vorerst unter türkischer Obhut bleiben. Für die Türkei ist das ein Teilerfolg, denn sie hat eine Schneise mitten in jene Region geschlagen, die von den SDF-Einheiten kontrolliert wird. Ob dieser Erfolg allerdings ein langfristiger sein wird, ist fraglich. Denn nicht nur der Widerstand der SDF geht weiter. Auch politisch hat der türkische Angriffskrieg neuen Entwicklungen den Weg geebnet, die sich auf lange Sicht als Nachteil für die Türkei erweisen könnten.

Annäherung mit dem Assad-Regime

Eine der Folgen des türkischen Besatzungsbestrebens ist die Annäherung zwischen dem Assad-Regime und der Leitung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens. Vermittelt durch Russland ist es zu einem militärischen Abkommen zwischen beiden Seiten gekommen, das die Verlegung syrischer Truppen an die Grenzgebiete zur Türkei vorsieht. Damit ist ein weiterer politischer Akteur ins Zentrum des Konflikts zwischen den SDF-Einheiten und dem türkisch-islamistischen Bündnis gerückt. Seitdem ist es vielfach zu direkten Gefechten zwischen der syrischen Armee und den türkischen Soldaten und ihren Proxys in den umkämpften Gebieten gekommen. Für den Fall einer politischen Lösung zwischen dem Regime und der Föderation ist auch eine Einbindung der SDF in die syrische Armee im Gespräch. Zwar werden noch schwierige Verhandlungen zwischen beiden Seiten nötig sein, bei denen es zentral darum gehen wird, inwieweit die demokratisch-autonomen Verwaltungsstrukturen auch in Zukunft aufrecht erhalten werden können. Doch eine politische Lösung im langen syrischen Bürgerkrieg scheint nun zumindest näher zu sein als noch vor dem Einmarsch der türkischen Armee.

Auch im Wortlaut des Memorandums zwischen Russland und der Türkei scheinen einige Hinweise versteckt zu sein, die darauf hindeuten, dass die Besatzung der türkischen Armee von kürzerer Dauer sein könnte als von den türkischen Machthabern erhofft. Bereits der erste von insgesamt zehn Punkten der Vereinbarung betont die politische Einheit und territoriale Integrität Syriens. Diese Übereinkunft steht nicht nur im Widerspruch zur Besatzung des Gebietes zwischen Girê Spî und Serêkaniyê durch die Türkei, sondern stellt auch die türkische Hoheit über die Regionen Azaz und Efrîn in Frage.

Punkt fünf des Memorandums soll sicherstellen, dass die Kräfte der YPG sich – mit Ausnahme von Qamishlo – entlang der türkischen Grenze samt ihrer Waffen 30 Kilometer zurückziehen. Interessant ist, dass hier von der YPG und nicht den SDF die Rede ist. Dies könnte als Schlupfloch für den Einsatz von SDF-Einheiten (ggf. als zukünftiger Teil der syrischen Armee) in den betreffenden Gebieten gelesen werden. In Punkt sechs ist der vollständige Rückzug der YPG aus den Gebieten Minbic (Manbidsch) und Tel Rifat (Tall Rifat) im Osten des Euphrats vorgesehen. Zumindest in Minbic befinden sich allerdings schon seit längerer Zeit keine YPG-Einheiten mehr. Sie hatten sich schon kurz nach der Befreiung der Stadt vom IS zurückgezogen, die militärische Kontrolle über dieses Gebiet übt seit dem 13. August 2016 der Militärrat von Minbic aus.

Der Verweis auf das Adana-Abkommen in Punkt vier des russisch-türkischen Memorandums rechtfertigt ebenfalls keine dauerhafte Besatzung Nordsyriens durch die Türkei. Das besagte Abkommen wurde am 20. Oktober 1998 zwischen dem syrischen Regime und der türkischen Regierung abgeschlossen, elf Tage nachdem der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan aus Syrien verwiesen worden war – der Beginn einer Odyssee durch verschiedene europäische Länder, die am 15. Februar 1999 mit der Auslieferung aus der griechischen Botschaft in Nairobi an die Türkei endete. Das Adana-Abkommen sollte gewährleisten, dass vom syrischen Territorium aus keine »Bedrohung« durch die PKK für die Türkei ausgehe. Die Türkei versuchte mit Hinweis auf diese Übereinkunft ihren aktuellen Einmarsch in Nordsyrien zu rechtfertigen. Dass aber auch das besagte Adana-Abkommen keine Rechtfertigung für eine grenzübergreifende Militärinvasion oder gar einer Besatzung nordsyrischer Gebiete liefert, hat jüngst der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages festgestellt.

Ölquellen als Faustpfand

Eine interessante Wende hat auch der angekündigte Abzug der US-Soldaten aus Nordsyrien nach der türkisch-russischen Übereinkunft genommen. Zunächst kündigte US-Präsident Trump an, die 1.000 US-Soldaten aus Syrien zurück nach Hause holen zu wollen. Nun sollen aber 900 amerikanische Soldaten weiter im Land bleiben und die Ölquellen im Osten Syriens »schützen«. Die dort vorhandenen Erdölreserven in einem geschätzten Umfang von 2,5 Milliarden Barrel dürften für die US-Wirtschaft keine herausragende Rolle spielen. Zum Vergleich: Die Reserven im Nachbarland Irak betragen rund 150 Milliarden Barrel. Für die syrische Wirtschaft sind diese Vorkommen dennoch von ungemein wichtiger Bedeutung, machten die Einnahmen aus dem Erdöl im Jahr 2008 doch bis zu 40 Prozent des Staatshaushalts aus. Die Gebiete mit den wichtigsten Erdölvorkommen im Land in der Provinz Deir ez-Zor werden gegenwärtig von den SDF kontrolliert. Die USA wollen diese Gebiete nicht dem syrischen Regime überlassen, um weiter ein Druckmittel in der Hinterhand zu haben. Für die zukünftigen Verhandlungen zwischen der Demokratischen Föderation und der Zentralregierung in Damaskus werden diese Vorkommen mit Sicherheit eine wichtige Rolle spielen und zumindest die sonst schwierige Verhandlungsposition für die autonome Verwaltung ein Stück weit erleichtern.

Doch wichtiger als das Erdöl wird letztlich die Rolle des militärischen Widerstands der SDF gegen die Besatzungskräfte der Türkei und seiner islamistischen Partner sein. Denn trotz der Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen den USA und der Türkei vom 17. Oktober und der Übereinkunft zwischen Moskau und Ankara gehen die Auseinandersetzungen auf dem Schlachtfeld ohne Pause weiter. Auch der Druck, der von der internationalen Öffentlichkeit auf die Regierungen dieser Welt ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Die weltweiten Proteste dauern seit Tag eins der türkischen Invasion an und haben mit dem »World Resistance Day« vom 2. November ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Türkei hat sich mit ihrem Angriffskrieg in Nordsyrien selbst ins öffentliche und politische Abseits gestellt. Stärker denn je hängt die türkische Syrienpolitik vom Willen Russlands ab. Und dass die Machthaber in Moskau die türkische Rolle in Syrien maßgeblich als eine sehen, die die islamistischen Kräfte im Land schlussendlich zur Selbstaufgabe zwingen soll, hat sich in Aleppo gezeigt und zeigt sich aktuell bei der Offensive in Idlib. Mit einem Sieg des Regimes über diese Gruppierungen würde sich also auch die Existenzberechtigung Ankaras im Nachbarland aus Sicht Putins erübrigen.

Kurzfristig konnte Erdoğan sich und seiner Regierung mit einem neuen Krieg gegenüber dem innenpolitischen Druck eine Verschnaufpause verschaffen. Langfristig, vor allem im Falle eines erzwungenen militärischen Rückzugs aus Nordsyrien und einer politischen Lösung zwischen dem Regime und der Föderation Nord- und Ostsyriens, könnte sich dieser Schritt allerdings als Pyrrhussieg erweisen.

Der Artikel erschien erstmals in einem Gastbeitrag für die ak 654.