Seyit Evran, Journalist, Civaka Azad, 08.05.2017
Der innersyrische Krieg ist nun in seinem sechsten Jahr. In diesen sechs Jahren haben mehrere hunderttausend Menschen ihr Leben verloren. Mehrere Million wurden zur Flucht gezwungen, viele von ihnen ertranken im Meer. Von mehreren tausend Menschen ist bis heute nicht bekannt, was mit ihnen geschah. Unzählige Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Eine Frage, die sich mir seit mehr als fünf Jahren stellt, ist die, ob dieser Krieg tatsächlich der des syrischen Volkes ist. Die Antwort darauf kristallisiert sich immer klarer als ein „Nein“ heraus. Denn wenn dem so wäre, dann wäre er bis jetzt schon lange beendet. Es ist der Krieg derjenigen, die die Oberhand bekommen und das Sagen in Syrien haben wollen, also u. a. der USA, Russlands, des Iran, Saudi-Arabiens und Katars. Doch diejenigen, die den Preis für den Krieg zahlen, sind die Menschen aus Syrien.
Der imperialistische Krieg begann in den 90ern mit dem Golfkrieg
Der Syrienkrieg geht auf die 1990er Jahre zurück, als die internationalen Mächte untereinander einen imperialistischen Krieg zur Aufteilung mehrerer Länder der Region begannen. Unter der Obhut der USA besetzte Saddam Hussein Kuwait. Darauf folgte der Einmarsch der USA in den Irak. Ziel war es, die Region neu zu gestalten und den Einfluss der USA zu verankern. Zu diesem Zweck wurde eine innerirakische Opposition aufzubauen versucht. Das führte allerdings zu keinem Ergebnis. Die Kurden als Oppositionsgruppe existierten ja bereits. Das reichte aber nicht. Denn außer ihnen gab es ja noch Sunniten, Schiiten, Araber, Turkmenen und diverse andere Bevölkerungsgruppen. Diese mussten in dem neuen Gleichgewicht auch irgendwie eine Rolle spielen.
Während die USA in den 90ern intervenierten, war Russland noch im Sowjetsystem integriert. Die Sowjetunion stand zwar kurz vor dem Zerfall, hatte aber dennoch einen bestimmten Einfluss. Sie konnte jedoch aufgrund innerer Probleme, die schließlich wenige Jahre später zum Zerfall führten, nicht nach außen intervenieren. Deshalb hatten die USA freie Hand.
Nach dem 11. September 2001 betrieben die USA ihre Intervention in der Region unter dem Label „Kampf gegen den Terror“.
2003 stürzten sie Saddam Hussein unter diesem Vorwand. Anschließend schickten sie US-Beauftragte in die Region, was in Wahrheit bedeutete, den eigenen Einfluss zu etablieren. Russland konnte dem damals nicht viel entgegensetzen, da es unter großen wirtschaftlichen Problemen litt.
Während russische Generäle und Strategen erklärten, dass ihre Waffenexporte in Gefahr seien, und somit offenkundig machten, dass sie einen „Absatzmarkt“ verlieren, konnten sie dem auf der anderen Seite aber nicht viel entgegensetzen. Denn die USA hatten für die Türkei und diverse andere zentralasiatische Länder verschiedene Szenarien entwickelt, darunter die Errichtung militärischer Basen. Diese massive US-Präsenz in der Region kann gleichzeitig als Signal gegen den Iran gewertet werden.
Nach der Islamischen Revolution im Iran bezweckten die USA mit der Irak-Intervention auch einen Schlag gegen den Iran. Der zielte auf das religiöse System des Iran, der sich nach außen mehr und mehr abschottete.
Iranisch gestützte Gruppen im Irak leisteten jedoch massiven Widerstand. Die USA wiederum mussten herbe Rückschläge einstecken, mehr als Jahre zuvor in Vietnam oder Lateinamerika.
Dieser Zustand erstreckte sich vom Irak bis nach Libanon. Der Iran unterstützte im Irak die Badr-Gruppen und im Libanon die Hisbollah. Das stellte einen offenen Widerstand gegen die USA dar und war der Taktik geschuldet, den „Feind außerhalb des Landes zu bekämpfen“. Somit ließ der Iran nichts an die eigene Landesgrenze heran, das er für sich als Gefahr erkannte. In Syrien ist das ganz deutlich zu erkennen.
2011: Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien
2011 begann in Tunesien eine Revolution. Das Volk lehnte sich gegen dreißig Jahre Diktatur auf. In kurzer Zeit konnte es die Oberhand gewinnen, der Diktator musste aus dem Land fliehen. Der Widerstand verlagerte sich nach Ägypten, Mubarak wurde gestürzt. Anschließend schwappten die Demonstrationen nach Libyen über. Gaddafi konnte sich zwar für gewisse Zeit halten, wurde am Ende aber doch gestürzt.
Spätestens dann erwachte Russland. Auf der einen Seite gestand man ein, dass man früher schon hätte „etwas sagen“ müssen, und auf der anderen Seite signalisierte man, dass man ab sofort von seinem Mitspracherecht Gebrauch machen werde. Denn die USA waren bemüht, den „arabischen Frühling“ für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Das bedeutete gleichzeitig, die vom Volk begonnene Revolution „unter Kontrolle“ zu bringen.
Am 14. März 2011 begannen die Aufstände in Syrien. Die USA und Russland haben viel getan, um vor Ort präsent zu sein. Die USA bauten auf die Türkei, diese jedoch spielte auch die USA aus und suchten einen eigenen Weg, ihren Einfluss auszuweiten. Zusammen mit Saudi-Arabien und Katar setzte sie auf den sunnitischen Islam bzw. die Muslimbrüder.
Die USA versuchten trotzdem, Einfluss auf die bewaffneten Gruppen zu nehmen. Diese erhielten ganz offen militärische, logistische und finanzielle Unterstützung.
Russland auf der anderen Seite ergriff Partei für das Baath-Regime. Ein dritter Akteur, der Iran, wollte ebenfalls Einfluss nehmen und Präsenz zeigen.
Allerdings entstand in Syrien eine weitere Kraft, die vielleicht niemand in dieser Form erwartet hätte: die Kurden. Diese machten eine Revolution von Kobanê über Afrîn, Dêrik, Amûde und an vielen anderen Orten. In kurzer Zeit entstand eine neue effektive militärische Kraft: die YPG. Die Asayîş übernahmen die Verantwortung für die innere Sicherheit.
Das durchkreuzte die Pläne etlicher Mächte, allen voran der USA, Russlands und der Türkei – denn mit den Kurden hatte einfach niemand gerechnet – und zwang sie letztlich, neue politische und taktische Schritte zu entwickeln. Die Türkei beispielsweise fokussierte die „Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“ nicht mehr weiter auf den Sturz des Assad-Regimes, sondern auf Rojava, dessen Eliminierung war das Ziel. Der Plan wurde mit der PDK (Demokratische Partei Kurdistans unter der Führung von Barzani) durchgeführt. Die Kurden jedoch haben neben ihrer militärischen Einheit auch eine politische geschaffen und die autonome Kantonalverwaltung aufgebaut.
Dem wurde auf der politischen Ebene „verdeckte Diplomatie“ und auf der militärischen der IS entgegengesetzt. Höhepunkt dieser Angriffe war der September 2014 in Kobanê. Die Kurden verteidigten bis November 2014, die USA griffen ein und flogen die ersten Luftangriffe. Das bedeutete den ersten Schritt der USA, in Zukunft mit den Kurden zu kooperieren. Allerdings sprachen sie auch öfter über den „Einklang“ mit Südkurdistan, zeitweise sogar von einem Zusammenschluss.
Mit der Unterstützung der Kurden bekannte die damals neu gebildete internationale Anti-IS-Koalition, auf wessen Seite sie in Syrien künftig stehen würde. Das beschränkte sich anfangs nur auf Luftangriffe und die Unterstützung durch einige „Sondereinheiten“.
Auf der anderen Seite zeigte Russland jetzt offen, wo es im Syrienkonflikt steht, indem es auf verschiedenen Militärbasen in Latakia, Tartus, Damaskus, Hama, Homs und Aleppo Kräfte stationierte. Der Iran verlegte seine Hisbollah-Kräfte vom Libanon nach Syrien, in Aleppo, Hama und Damaskus verstärkte er seine Militärpräsenz. In Idlib übernahm er verschiedene lokale Administrationen.
Während sich Russland, der Iran und die USA für ihre Präsenz auf syrischem Territorium auf lokale Strukturen oder das Baath-Regime berufen, startete die Türkei ihre Besatzung aufgrund von Zugeständnissen gegenüber den internationalen Mächten. Ihre Operation fußt auf ihrer tiefen Feindschaft gegenüber den Kurden und deren Verbündeten. Die Besatzung begann am 24. August 2016 in Cerablus (Dscharabulus), später wollte die Türkei in Richtung Minbic (Manbidsch) vordringen. Allerdings haben die internationalen Mächte ihr klargemacht, dass sie ihren Grenzschutz nur entlang der Grenze, nicht in Richtung Landesinnere sicherstellen dürfe. Daraufhin stoppte sie den Besatzungsversuch von Minbic und richtete sich nach Al-Bab, um die Kantone Afrîn und Kobanê weiterhin voneinander getrennt zu halten. In den besetzten Gebieten hat die Türkei ca. zehn Polizeistationen eingerichtet. Das macht sie endgültig zu einem Aggressor in der Region, der obendrein noch syrisches Territorium besetzt.
Somit sind vier Hauptdarsteller auf der Bühne, die ihre eigenen Pläne für Syrien haben und jeweils für ihre eigenen Interessen in der Region stehen, und haben sich positioniert. Dies sind die USA, Russland, der Iran und zuletzt die Türkei. Darüber hinaus sind andere Kräfte in der „internationalen Koalition“ vertreten.
Die Präsenz dieser Akteure zeigt, dass es sich bei dem im sechsten Jahr andauernden Krieg in Syrien nicht um einen Krieg der Völker aus Syrien handelt. Vielmehr versuchen die genannten Akteure den größten Teil des Kuchens abzubekommen. Dabei sind es die Menschen in Syrien, die den Schmerz und die Krisen ertragen müssen.