Türkei: Ein Jahr nach dem Putschversuch

Elke Dangeleit, 15.07.2017

Am 15. Juli jährt sich der gescheiterte Putschversuch zum ersten Mal. Erdogan nahm vor einem Jahr dies zum Anlass, die Opposition auszuschalten. Die Zahl der Inhaftierten steigt stetig. Nun hat es auch den Regisseur von Erdogans Propagandafilm ‚Reis‘ getroffen. Während die Zahl der inhaftierten Deutschen in der Türkei steigt, steigt in Deutschland die Zahl der Asylanträge türkischer Staatsbürger. Doch in Sicherheit wähnen können sich diese Menschen nicht. Der türkische Geheimdienst hat in Deutschland mehr Spitzel als die Stasi in ihrer gesamten Zeit jemals hatte. Nun hat Erdogan einer Bundestagsdelegation den Besuch des Nato-Stützpunktes in Konya verwehrt.

Im März erschien, kurz vor dem Referendum in der Türkei zum Präsidialsystem ein Propagandafilm über Erdogan. Pünktlich zu Erdogans 63. Geburtstag wurde er in Istanbul auf einer Gala Erstaufgeführt. Er zeigt in einem heroischen, propagandistischen Stil den Aufstieg Erdogans vom kleinen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen bis zum Bürgermeister Istanbuls. Der Film endet mit seiner Inhaftierung 1999 wegen seinem Gedicht „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ ((http://www.berliner-zeitung.de/kultur/film/-reis–film-zeigt-erdogan-als–freund-des-volkes–25825262)) Der Regisseur, Ali Avci, der kürzlich noch den Spielfilm „Uyanis“ („Erwachen“) ((https://www.youtube.com/watch?v=i4xuCNiKhog)) herausgebracht hat, indem die Familie Erdogans während eines Putschversuches getötet und er mit einer Waffe bedroht wurde, war unter anderem auch Medienberater von Erdogan. Nun wird gegen ihn wegen Verwicklungen in den Putschversuch ermittelt. Ihm wird vorgeworfen, ein Anhänger von Fethulla Gülen zu sein, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Er wurde in seinem Haus mit noch einer anderen Person verhaftet. Schwer vorstellbar, dass Erdogan mit seiner filmischen Arbeit unzufrieden war, huldigte er doch in beiden Filmen Erdogan als vertrauensvollen, rechtschaffenen Mann, dem immer wieder Unrecht widerfahren sei. (( http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tuerkei-filmproduzent-wegen-angeblicher-guelen-verbindung-festgenommen-a-1157577.html))

Putschversuch vom 15. Juli 2016 ‚ein Geschenk Gottes‘

So betitelte Erdogan den Putschversuch ((http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Die-Nacht-in-der-die-Panzer-rollten-E/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=44323448)). Dieser war ein willkommener Anlass, sich der Opposition zu entledigen. Rund 50.000 Menschen wurden seitdem mit dem Vorwurf der Gülen-Mitgliedschaft festgenommen. 150.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, der Justiz, der Polizei und des Militärs wurden entlassen oder vom Dienst suspendiert. Hinzu kommen noch tausende Oppositionelle aus dem liberalen, säkularen oder linken Lager. Auch der Pilot, der Erdogan in der Putschnacht von seinem Urlaubsort Dalaman nach Istanbul flog, Barış Yurtseven, wurde als angeblicher Putschist entlassen. Aber wie kann das sein, dass ein Putschist Erdogan just zum Zeitpunkt des Putschversuches in Sicherheit bringt statt ihn um die ‚Ecke zu bringen‘? Die Logik muss man mir erklären. ((http://www.gunes.com/gundem/o-gecenin-pilotu-artik-filoda-yok-803526))

Noch diesen Freitag, am Vortag des Jahrestages des gescheiterten Putsches, wurden 7300 Soldaten und Staatsbedienstete entlassen. ((https://www.welt.de/politik/ausland/article166675251/Tuerkei-entlaesst-mehr-als-7300-Soldaten-und-Staatsbedienstete.html)) Mehr als 160 Journalistinnen und Journalisten sitzen in Haft, darunter auch der deutsch-türkische Welt-Journalist Deniz Yücel und die deutsche Staatsbürgerin Mesale Tolu. Gegen die 33 jährige Neu-Ulmerin ist mittlerweile in Istanbul Anklage erhoben worden. Die Anklageakte ist allerdings unter Verschluss. Nicht einmal ihre Anwälte wissen, was der Deutschen vorgeworfen wird. ((https://www.swr.de/swraktuell/bw/ulm/inhaftierte-neu-ulmer-journalistin-anklage-gegen-mesale-tolu-erhoben/-/id=1612/did=19891740/nid=1612/1h5judx/index.html)) Die NGO ‚Reporter ohne Grenzen‘ listete die Türkei mittlerweile auf Platz 151 von 180 in Punkto Pressefreiheit weltweit. Die Zeitung ‚Die Zeit‘ veröffentlichte eine Liste der inhaftierten Journalisten mit Angabe seit wann und weshalb sie im Gefängnis sitzen. Übereinstimmend heißen die Vorwürfe entweder pauschal ‚Unterstützung der Putschisten‘ oder ‚Unterstützung einer terroristischen Vereinigung‘. ((http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-03/pressefreiheit-tuerkei-inhaftierte-journalisten-deniz-yuecel-freedeniz?utm_content=zeitde_redpost_zon_link_sf&utm_campaign=ref&utm_source=facebook_zonaudev_int&utm_term=facebook_zonaudev_int&utm_medium=sm&wt_zmc=sm.int.zonaudev.facebook.ref.zeitde.redpost_zon.link.sf)) Auch die Technologiebranche ist nicht vor den Willkürmaßnahmen des Präsidenten sicher. Gegen 105 Technologie- und Informationsexperten wurden Haftbefehle mit dem Vorwurf der Putschbeteiligung ausgestellt, darunter auch ehemalige Mitarbeiter des türkischen Forschungsrats und der Telekommunikationsbehörde. Ihnen wird technischer Support für die Putschisten vorgeworfen. ((http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-techexperten-101.html)) Ein Geschenk Gottes war auch das Vermögen, das sich die türkische Regierung von den Gülenisten einverleibte: Von hunderten Unternehmen und Privatpersonen, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung nachgesagt wurden, wurde das Vermögen einem Staatsfonds zugeführt. Der Wert wird auf 41 Milliarden Türkische Lira (rund zehn Milliarden Euro) beziffert. ((http://orf.at/stories/2398416/))

Im Rausch der Macht ((http://www.arte.tv/de/videos/070096-000-A/erdogan-im-rausch-der-macht))

Nach seinem knapp gewonnenen, von Kritikern als manipuliert bezeichneten Referendum zum Präsidialsystem im April dieses Jahres, hat Erdogan keine Hemmungen mehr sein Streben nach der totalen Macht offen zu zeigen. Auf der Pressekonferenz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg antwortete er auf Fragen zur Inhaftierung des Ko-Vorsitzenden der linken Oppositionspartei HDP: „Die genannte Person ist ein Terrorist.“ Auf die Frage nach den inhaftierten Journalisten antwortete er: „Die meisten derjenigen, die Sie als Medienvertreter bezeichnen, haben Beihilfe zum Terrorismus geleistet“. Zu beachten ist, dass Erdogan das Urteil schon preisgibt, bevor die Gerichtsverfahren überhaupt angefangen oder abgeschlossen sind. Das Urteil der vor ein paar Tagen festgenommenen Menschenrechtsaktivisten, die sich zu einer Tagung auf den Prinzeninseln bei Istanbul getroffen hatten, darunter ein deutscher Trainer zum Thema Deeskalation und Konfliktmanagement, steht ebenfalls schon fest, bevor überhaupt ihre Aussagen aufgenommen wurden: „Sie hielten eine Versammlung nachgerade von der Qualität einer Fortsetzung des 15. Juli ab.“ Thema der Konferenz war nach Angaben von Amnesty „Digitale Sicherheit und Informationsmanagement“. ((https://www.merkur.de/politik/in-tuerkei-festgesetzte-menschenrechtler-muessen-folter-fuerchten-darunter-ein-deutscher-zr-8465702.html))

Bringt man diese Urteile Erdogans in Zusammenhang mit der vollzogenen Gleichschaltung der Justiz – alle nicht linientreuen Staatsanwälte und Richter wurden suspendiert, so waren diese Äußerungen klare Anweisungen an seine Justiz. Dies formulierte der kemalistische Oppositionspolitiker der CHP auf der Großkundgebung nach deren Marsch auf Istanbul mit einem deutlichen Gleichnis: „Hitlers Rechtsberater wies die Richter an: „Fragen Sie sich beim Fällen Ihrer Urteile, was hätte der Führer gewollt, und handeln Sie danach!“ ((http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/tuerkei-kilicdaroglu-ermutigt-die-opposition-15103266.html?GEPC=s2)) Genauso funktioniert die Justiz heute in der Türkei. Der Richter wird auf Erdogan schauen, bevor er ein Urteil fällt, sonst ist er seinen Job los. Außenpolitisch gebärdet er sich ähnlich. Einen für Montag geplanten Besuch des Nato-Stützpunktes in Konya einer Delegation des Bundestages untersagte Erdogan mit Hinweis auf die angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Dieses Spiel kennen wir schon aus Incirlik, wo die Bundesregierung nun endlich den Abzug der deutschen Soldaten nach Jordanien eingeleitet hat. In Incirlik hat die Türkei das Hausrecht und kann tatsächlich solche Besuche untersagen. In Konya handelt es sich aber um einen Nato-Stützpunkt, an dem auch deutsche Soldaten stationiert sind. ((http://www.tagesschau.de/ausland/bundeswehr-tuerkei-119.html)) Man darf gespannt sein, ob es deutliche Signale seitens der Nato geben wird. Kanzlerin Merkel gab sich wie immer weichgekocht: Vielleicht klappt‘s ja im September nach den Parlamentsferien. Nach dem Motto: nur keine neuen Skandale in der heißen Wahlkampfphase.

Immer mehr Türken und Kurden kehren der Türkei den Rücken

Mehr als 3000 türkische Staatsbürger haben im ersten Halbjahr diesen Jahres Asyl beantragt. 209 Diplomaten und 205 Staatsbedienstete sollen nach den Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sein. Im vergangenen Jahr stellten 5742 türkische Staatsbürger einen Asylantrag, darunter ca. 4400 Kurden. 2015 waren es noch 1767 Asylanträge aus der Türkei. ((http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-tausende-stellen-nach-putschversuch-asylantrag-in-deutschland-a-1157675.html)) Dies zeigt zum einen, dass 2015 viele Menschen in der Türkei noch die Hoffnung hatten, die Situation würde sich beruhigen. 2016 sah die Situation schon anders aus. Vor allem die Menschen aus dem Südosten, Kurden und auch Christen und Eziden wurden aus ihren Städten und Dörfern weggebombt. Telepolis berichtete mehrfach. Dieser Trend scheint sich 2017 fortzusetzen und ein Ende ist nicht in Sicht. Auch der Druck auf die Bundesregierung wegen der Asylanträge von hochrangigen Militärs wächst. Aber die Stimmung kippt auch in der Bundesregierung. Bruno Kahl, der Chef des deutschen Auslandsgeheimdiensts BND äußerte gegenüber dem Spiegel, ‚der Putschversuch sei “wohl nur ein willkommener Vorwand” für die Säuberungswelle gewesen.‘ ((http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-tausende-stellen-nach-putschversuch-asylantrag-in-deutschland-a-1157675.html)) Auch der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, ist der Meinung, dass die Demontage demokratischer Strukturen das wirtschaftliche Engagement vor Ort ausbremsen würde. Ausländische Unternehmen würden sich seit dem Putsch mit Investitionen zurückhalten. Die Türkei sei derzeit nicht berechenbar.

Deutschland ein sicheres Exilland für türkische Staatsbürger?

Mitnichten. Erdogans Politik regiert auch in Deutschland. Und zwar über Verbände wie den islamischen Dachverband Ditib, den türkischen Dachverband UETD und – den türkischen Geheimdienst. Dieser hat hierzulande mehr Mitglieder als seinerzeit die Stasi. Von 6000 MIT-Agenten in Deutschland wird ausgegangen, die Stasi-Spitzel werden mit ca. 3000 beziffert. ((http://www.deutsche-zeitgeschichte.de/?q=stasi-im-westen)) Hinzu kommen die Spitzeleien in den Moscheen durch Ditib-Angehörige. Dies spaltet die türkische Community, sagt der deutsch-türkische Journalist Hüseyin Topel: „Wer oppositionell gegen Erdogan eingestellt ist, traut sich das auch in Deutschland weiterhin nicht zu sagen.“ Aus Angst davor, denunziert zu werden, aus Sorge vor Ausgrenzung. „Und weil man befürchtet, bei einer Reise in die Türkei Probleme zu bekommen.“ ((https://www.welt.de/politik/deutschland/article166639262/Wie-Erdogan-die-deutsch-tuerkische-Community-spaltet.html)) Besonders vermeintliche Gülen-Anhänger würden hierzulande ausgegrenzt in der türkischen Community. Die Angst der Menschen ist berechtigt. Die Türkei versucht auf allen Ebenen vermeintlicher Gülen-Anhänger habhaft zu werden. Interpol hat beispielsweise den Zugriff der Türkei auf seine Datenbanken gesperrt, nachdem diese dort eine Liste von 60.000(!) gesuchten “Gülen-Terroristen” hochgeladen hatte. http://www.hurriyetdailynews.com/interpol-removes-turkey… Was vermeintliche Gülenisten anbetrifft, gibt sich die Bundesregierung gelassen und lässt Erdogan abblitzen. Anders sieht das mit den in Deutschland lebenden Kurden und Kurdinnen aus. Hier scheint es einen Schulterschluss mit der Türkei und seinem Geheimdienst zu geben. Denn Erkenntnisse, wie die Enttarnung eines MIT-Agenten in Hamburg, der jahrelang in einem kurdischen Verein spioniert hat und vor allem die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir und den Europa-Vorsitzenden des kurdischen Dachverbandes ‚Nav Dem‘, Yüksel Koc im Visier hatte, führten nicht zu erhöhten Personenschutzmaßnahmen. Das Hauptquartier des MIT in Europa befindet sich nach Angaben der Nachrichtenagentur ANF in Den Haag. ((https://anfenglish.com/news/mIt-prepared-death-lists-against-the-kurds-in-the-hague-20931))