Duran Kalkan, Mitbegründer der PKK und heute im PKK-Zentralkomitee, im Interview; für den Kurdistan Report Januar/Februar 2018
Oft wird über die Beziehungen zwischen der HBDH (Halkların Birleşik Devrim Hareketi – Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker) und der PKK gesprochen. Einige kurdische Intellektuelle und politische Kreise fragen sich, warum die PKK mit kleinen türkischen Gruppen Beziehungen pflegt, und behaupten, das würde zu nichts führen. Andere Stimmen meinen, die türkische Linke renne der PKK hinterher. Was sagen Sie zu diesen Bewertungen?
Wir kennen diese Äußerungen, die mal in die eine, mal in die andere Richtung gehen. Dahinter steht eine gewisse Haltung: von seinem Gegenüber zu profitieren. Im Kern dieser Haltung stecken Diebstahl und Betrug. Wir als PKK nähern uns unserem Gegenüber nicht so an. Schon immer haben wir uns daher an Bündnissen wie der ADYÖD im Jahr 1974 oder der »Widerstandsfront gegen den Faschismus« nach dem Putsch 1980 beteiligt. Wir waren in beiden Fällen die einzige kurdische Organisation, die sich daran beteiligte. Schon damals hieß es: »Die Kurden werden zum Anhängsel der Linken und Sozialisten. Was wollen sie denn von denen?« Einer ähnlichen Logik folgen Äußerungen dieser Kreise aus der jüngsten Zeit zum Kampf Jugendlicher aus Rojava für die Befreiung der arabischen Bevölkerung in Raqqa: »Was suchen die Kurden in Raqqa, Ankara oder Istanbul? Was kümmert sich die PKK um diese Gebiete?«
Es wird auch diskutiert, warum eine so große Organisation wie die PKK Bündnisse mit derart kleinen Gruppen eingeht.
Wir betrachten niemanden als bedeutungslos. Auch ein einzelner Mensch hat für uns einen großen Wert. Das hat uns unser Vorsitzender Apo [Abdullah Öcalan] gelehrt. Er hat uns gelehrt, jedem Menschen Wert beizumessen und ihn richtig zu verstehen. Wenn ein Einzelner richtig denkt, seine Gedanken aufrichtig und konsequent in die Praxis umsetzt, kann er seine Umgebung beeinflussen. Aus ihm können zwei Menschen, zwanzig, zweitausend und schließlich Millionen von Menschen werden. So ist auch die PKK entstanden. Deshalb betrachten wir niemanden als bedeutungslos oder messen ihm übertriebene Bedeutung bei.
Diese kritischen Stimmen stellen sich selbst als sehr ernst zu nehmend, bedeutend und unabhängig dar, aber letztendlich werden sie von einer opportunistischen Haltung angetrieben. Wer uns fragt, was wir in Raqqa, Istanbul und Ankara zu suchen haben, muss sich von uns fragen lassen: Auf welchem Weg wollt Ihr die kurdische Frage lösen? Sie meinen, eine Lösung mit Hilfe eines der internationalen Akteure finden zu können. Die PKK ist nicht solch eine Organisation. Von Anfang an setzten wir als PKK auf die Unterstützung der Menschen, der Völker, der Frauen und der Jugend. Gemäß der Haltung Abdullah Öcalans »Die größte Kraft ist der Mensch, die mächtigste Technik ist der Mensch« sind wir überzeugt davon, dass es nichts Mächtigeres gibt als den Menschen, der richtig denkt und seine Gedanken in die Praxis umsetzt. Dieser Mensch ist unbesiegbar. In diesem Sinne ist die größte Kraft die Haltung der Gesellschaft, ihre Organisierung. Auf diese Weise bauen wir als PKK Beziehungen auf.
Über den Bereich der demokratischen Politik wird ständig diskutiert. Es gibt eine vierzigjährige Erfahrung. Insbesondere nach den Volksaufständen hat sich dieser Bereich entwickelt. Seit der Phase der HEP und DEP hat Abdullah Öcalan wichtige Bewertungen und Perspektiven für diesen Politikbereich entwickelt. Vor allem seit den Wahlen vom 7. Juni 2015 gab es intensive Diskussionen. Wird der politische Spielraum für die PKK eingeengt, wenn sich die HDP entwickelt?
Lassen Sie uns nicht nur von der Demokratischen Partei der Völker (HDP), sondern von der Domäne der demokratischen Politik im Allgemeinen sprechen. Denn die HDP war zuvor die DEHAP, HADEP oder HEP. Mit diesen Parteien wurde eine Sphäre demokratischer Politik eröffnet. Diese Sphäre entstand folgendermaßen: Als Folge des Widerstandes der PKK gegen die faschistische Militärdiktatur vom 12. September 1980 und des bewaffneten Kampfes ab 1984 entwickelten sich Volksaufstände. Die Revolution in Kurdistan bereitete der Demokratisierung der gesamten Türkei den Weg. Wie ist das passiert? Mit dem Widerstand der PKK-Guerilla. Die PKK hat diese Sphäre eröffnet. Ihr Kampf stellt eine Alternative dar zur diktatorischen Politik des Staates. Sie hat dieser demokratischen Alternative den Weg bereitet. Die Sphäre der demokratischen Politik basiert auf den Überlegungen der PKK und den Aktivitäten der Guerilla. Die PKK vertritt nicht nur einen bestimmten Teil der Bevölkerung. Sie setzt sich für eine demokratische Alternative zum Faschismus in der gesamten Türkei ein. Der Kampf für ein freies und unabhängiges Kurdistan ist damit von Anfang an ein Kampf für die Demokratie in der Türkei. Von Anfang an hat unser Vorsitzender Abdullah Öcalan klargemacht, dass ein freies Kurdistan ein Teil einer demokratischen Türkei sein kann.
Aber beachten wir: Als Parteien wie die HEP oder DEP an Einfluss gewannen, wurden sie sofort von den Banden Çillers, Güreş’, Demirels und Ağars angegriffen und vernichtet. Doch wer hat nun die HDP und den Demokratischen Kongress der Völker (HDK) angegriffen, als sie bei den Wahlen am 7. Juni 2015 wichtige Erfolge erzielten? War das etwa die PKK? Hält die PKK etwa Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ [ehem. Kovorsitzende der HDP] im Gefängnis fest?
Welche Rolle spielt die PKK in Syrien, Rojava und Nordsyrien? Es gibt viele Diskussionen über ihre Beziehungen zu den USA und den Koalitionskräften. Wie bewerten Sie diese Situation?
Die PKK entwickelte sich zwar als Organisation in Nordkurdistan, aber seit ihrem ersten Parteiprogramm versteht sie sich als Organisation für ganz Kurdistan. Für alle vier Teile Kurdistans fordert sie Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie ein. Die Befreiung jedes einzelnen Teils wird auf der Grundlage der dortigen Bevölkerung gelingen. Daher unterstützt die PKK in allen vier Teilen Kurdistans die Gründung von Bewegungen, die sich auf die Kraft der Bevölkerung stützen. Abdullah Öcalan hat in seinen Schriften die Grundlagen dafür beschrieben. Die Menschen in allen vier Teilen Kurdistans werden davon beeinflusst. Zudem müssen alle wissen, dass Kurdistan ein Ganzes ist. Alle Teile helfen sich gegenseitig, was die PKK gutheißt. Peşmergê aus Südkurdistan kämpften in Kobanê. Alle Kurdinnen und Kurden haben den Kampf in Kobanê gegen den AKP-gestützten Islamischen Staat (IS) unterstützt, auch die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), die USA und Europa. Durch Kobanê hat sich eine globale Kraft für Freiheit und Demokratie entwickelt.
Sie führen einen erfolgreichen Kampf gegen den IS. Trotzdem stehen Sie immer noch auf der Terrorliste der USA.
Auch die Patriotische Union Kurdistans (YNK) und die PDK stehen wohl auf dieser Terrorliste. Trotz ihrer umfangreichen Beziehungen zu den USA. Ebenso sind für den deutschen Staat ein freier Kurde und eine Person, die sich für die Freiheit Kurdistans einsetzen, Terroristen. Die deutsche Staatsanwaltschaft hat das uns gegenüber ganz offen geäußert: »Sie schaden den außenpolitischen Interessen Deutschlands. Daher sind Sie Terroristen.« Sie stellen sich nicht gegen den türkischen Faschismus und Kolonialismus. Der Terrorismusbegriff wird von ihnen für bewaffnete politische Bewegungen verwendet. Wir haben damals äußerst zurückhaltend reagiert. Aber wir mussten erkennen, dass sie sich nicht gegen die PKK als bewaffnete Kraft, sondern gegen deren Ideologie richten. Unsere Gesellschaft sollte diesen Kräften nicht allzu viel Beachtung schenken. Die Kräfte, welche die PKK als »Terroristen« bezeichnen, sind zugleich die Unterstützer des Völkermordes an uns Kurdinnen und Kurden.
Was sind die außenpolitischen Interessen Deutschlands? Inwiefern schadet ihnen denn die PKK?
Die PKK schadet der Türkei. Deutschland erhält Unterstützung von der Türkei. Den Putsch vom 12. September 1980 organisierte Deutschland. Der deutsche Staat leitete den Faschismus in der Türkei, jahrelang. In der Türkei findet eine umfassende Ausbeutung statt. Das derzeitige System dort profitiert davon, dass es dem deutschen Staat dient und für ihn ausbeutet.
Was sind die Ergebnisse der Auseinandersetzungen mit der AKP? Wie verorten Sie in diesem Zusammenhang die bewaffneten Kämpfe in den Städten 2015/16?
Die Wahlen von 2009 waren als Referendum inszeniert worden. Damals gewannen die demokratischen Kräfte. Wir maßen den damaligen Wahlergebnissen eine große Bedeutung bei. Am 13. April 2009 kam unsere Führung zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Wir verkündeten damals einen Waffenstillstand und erklärten unsere Unterstützung für eine politische Lösung. Es wurden lokale Leitungen gegründet. Im Allgemeinen herrschte eine Stimmung einer möglichen politischen Lösung. Am darauffolgenden 14. April äußerte sich die türkische Regierung öffentlich und begann, die Kräfte festnehmen zu lassen, die bei den Wahlen eine politische Lösung vertreten hatten. Die neu gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden festgenommen. Das ging bis zum Verbot der Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP). Die AKP hat eine Partei verboten.
Darauf folgte im Jahr 2010 eine Änderung der Strategie. Es war notwendig geworden, entlang der Prinzipien des revolutionären Volkskrieges Widerstand zu leisten. Als Abdullah Öcalan erkannte, dass es trotz seiner Bemühungen für eine politische Lösung keine Fortschritte gab, zog er sich aus den Gesprächen zurück. Mit dem 1. Juni 2010 begann eine neue Phase. Als die AKP in der kriegerischen Phase zwischen 2011 und 2012 in Schwierigkeiten geriet, nahm sie wieder Kontakt zu Abdullah Öcalan auf und versuchte, die »Lösungsphase« einzuleiten.
Unser Vorsitzender Öcalan wollte die Chance auf eine geänderte Politik der AKP nutzen, trotz der Ermordung von Sakine Cansız und zweier weiterer kurdischer Aktivistinnen in Paris Anfang 2013. Wir bewerteten die Gelegenheit damals folgendermaßen: »Lasst uns alle Möglichkeiten für eine politische Lösung nutzen. Wir werden nichts unversucht lassen und wollen später nicht bereuen, dass wir diese Chance nicht genutzt haben. Sollte es auch diesmal nichts werden, werden wir uns auf eine neue Phase vorbereiten.«
So kam es zu der Phase, die 2015 begann. Hätte die AKP angesichts der Revolution in Rojava, des Widerstandes in Kobanê und der Wahlen vom 7. Juni 2015 eine politischere Herangehensweise gewählt, hätten alle Kräfte die Wahlergebnisse vom 7. Juni respektieren müssen. Auch Öcalan maß ihnen eine hohe Bedeutung bei und unsere Partei unterstützte sie. Die demokratischen Kräfte gingen mit einem großen Erfolg daraus hervor. Erdoğan und die AKP verloren ihre alleinige Macht und hätten abtreten müssen. Eine neue Regierung wäre fällig gewesen. Hätte Erdoğan die Wahlen vom 7. Juni gewonnen, hätte er direkt am 8. Juni die Angriffe zur Vernichtung der PKK begonnen.
Wie können Sie sich da so sicher sein? Darüber wird ja viel spekuliert …
Wir sind uns da sogar sehr sicher. Bereits auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am 30. Oktober 2014 wurde diese Entscheidung gefällt. Erdoğan hat die Verhandlungsphase nicht am 8. oder am 24. Juni beendet, sondern bereits nach dem Newroz-Fest 2015. »Es gibt weder Dolmabahçe-Verhandlungen noch irgendwelche Vereinbarungen«, erklärte er damals. Er kanzelte all seine Minister ab und entließ sie. Sogar die Regierung brachte er am Ende zu Fall. Weil Ahmet Davutoğlu sich nach den Wahlen offen gezeigt hatte für die Idee einer Koalition, wurde seine Regierung gestürzt. Doch die Verhandlungsphase hatte Erdoğan da bereits beendet gehabt. Seit April 2015 fanden keinerlei Gespräche mehr mit Abdullah Öcalan statt und alle Kommunikationskanäle sind bis heute verschlossen geblieben.
Warum hat Erdoğan am 24. Juni angegriffen? Während er nach seiner Wahlniederlage eigentlich nach einer Koalition hätte suchen müssen, war er es, der etwaige solche Versuche unterband und sabotierte. Er gab Davutoğlu zwar offiziell den Auftrag zur Regierungsbildung, aber eigentlich bezweckte er damit das genaue Gegenteil. Er sabotierte jegliche Versuche Davutoğlus, eine neue Regierung zu bilden. Stattdessen verständigte er sich schnell mit der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und den USA, um die Angriffe vom 24. Juni auszuführen. Natürlich waren wir am 24. Juni in einer ganz anderen Verfassung als im Jahr 2002. Wir hatte seither viele wertvolle Erfahrungen gemacht und auch die die sozialistischen Kräfte waren sich der Situation der AKP bewusst. Im Jahr 2002 hatten wir einen Leerraum zurückgelassen [nach dem Abzug der Guerilla vom türkischen Territorium auf Öcalans Aufruf hin]. Die richtige Antwort auf die Angriffe vom 24. Juni 2015 war entschlossene Gegenwehr. Alle revolutionären Kräfte in Kurdistan und der Türkei mussten eine klare Haltung zeigen und sich gegen den Vernichtungskrieg der faschistischen AKP wehren.
Es ging darum, Widerstand zu leisten und etwaige Unzulänglichkeiten im Rahmen unseres Widerstandes auszuräumen. Natürlich haben wir bei der richtigen Bewertung der Lage und unserer Führung Fehler gemacht. Unsere jetzigen Betrachtungen sind also auch als Selbstkritik zu verstehen. Unsere Partei hat in den verschiedensten Bewertungen und Sitzungen klare Selbstkritik geübt. All diejenigen, die das nicht tun, die ihre Schwächen nicht identifizieren und ausräumen, werden in der Zukunft keinen erfolgreichen Widerstand leisten können. Erdoğan behauptet nun: »Ich habe die PKK ausgetrickst, sie unvorbereitet erwischt, habe sie angegriffen und bin nun erfolgreich.« Dazu kann ich sagen: Einer derjenigen, die sich am meisten getäuscht haben, ist er selbst. Bisher konnte er sich vielleicht noch etwas behaupten, aber letztendlich wird sich zeigen, dass Erdoğan sich am meisten getäuscht hat. Er kann ein ähnliches Schicksal wie Hitler oder Saddam Hussein erfahren.
In unserer letzten Frage würden wir gern über ideologische Aspekte sprechen. Die PKK begann als Bewegung, die ein unabhängiges, vereintes und demokratisches Kurdistan forderte. Mit dem Paradigmenwechsel wandte sie sich gegen Macht und Staat und noch stärker der Organisierung der Gesellschaft zu. Anhand der Revolution in Rojava, die von ihr angeführt wird, zeigt sich ihr Konzept der demokratischen Nation. Aber mit dem Referendum vom 25. September in Südkurdistan zeigte sich etwas anderes. Nun melden sich in Nordkurdistan Stimmen zu Wort, die ohne Beachtung des von Barzanî eingeleiteten Referendums beim Wort »Staat« ganz anders empfinden: »Hätte die PKK einen Staat gegründet, wäre uns all unser Leid erspart geblieben.« Welche Folgen hatte das Referendum? Lassen Sie uns über das Staatsverständnis, das Konzept eines unabhängigen Kurdistans, die Bedeutung der PKK für die anderen Teile Kurdistans sprechen, denn darüber wurde in den Medien intensiv diskutiert.
Unser seit vierzig Jahren andauernder Kampf hat uns zu einer Bewegung gemacht, die sehr reich an Wissen und Erfahrung ist. Er hat eine Kraft geschaffen, die philosophisch-theoretische Lösungen für das 21. Jahrhundert entwickelt. Das fünfbändige »Manifest der demokratischen Gesellschaft« unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalan ist der theoretische und schriftliche Ausdruck all dessen. Die Theorie der demokratischen Moderne bringt all das auf den Punkt. Entlang der Ökologie und der Freiheit der Frau, auf denen die demokratische Gesellschaft basiert, entwickelt sich das Prinzip der demokratischen Nation. Wir müssen anerkennen, dass Abdullah Öcalan mit seinen Überlegungen eine neue theoretische Synthese geschaffen hat. In diesem Zusammenhang haben zahlreiche Konzepte eine neue und bessere Bedeutung erfahren. Ein entscheidendes Missverständnis bestand darin, Unabhängigkeit in der Domäne der Politik zu verorten. Abdullah Öcalan hat das neu beleuchtet und festgestellt, dass dies nicht der Fall ist. Unabhängigkeit manifestiert sich im Geist, in den Gefühlen und im Denken.
Die ideologische und gedankliche Unabhängigkeit ist wichtig. Auf diesen Ebenen entsteht Unabhängigkeit. Politik bedeutet, mit seinem Gegenüber Beziehungen aufzubauen, sich miteinander zu verbinden. Deshalb kann der Staat als politischer Ausschuss, als Ausschuss der Unterdrückung und Kolonialisierung, niemals unabhängig sein. Im Verlauf der Geschichte ist er wie ein Schneeball gewachsen und hat seine heutige Form angenommen. Diese Analyse Öcalans ist ein wichtiger Schritt in Richtung eines tieferen Verständnisses. In diesem Sinne gab es tatsächlich eine Entwicklung und Veränderung im Denken der PKK. Wir verstehen heute besser, verwenden die Konzepte richtiger und können uns besser darstellen. Zu behaupten, die PKK habe früher die Unabhängigkeit vertreten und tue das heute nicht mehr, stimmt jedoch nicht. Nein, Öcalan selbst sagte: »Unabhängigkeit ist mein eigener Charakter.«
In der 2009 erschienenen »Roadmap für Verhandlungen« hat er das zum Beispiel sehr schön erläutert. Er sprach von ideologischer und von gedanklicher Unabhängigkeit. Er wies den Weg für eine politische Lösung. Die PKK bewegt sich entlang dieser Leitlinie. Viele Menschen verwenden Begriffe, die sie auswendig gelernt haben, ohne ihre Bedeutung wirklich zu verstehen. Zudem fehlt es an der Kraft zum Denken, an Unabhängigkeit. Der Wille und die Kreativität fehlen, aber trotzdem wird von Unabhängigkeit gesprochen. Das geht nicht. Wer nicht unabhängig denken kann, nicht über die Kraft oder den Willen zu denken verfügt, kann nicht von politischer Unabhängigkeit oder Freiheit sprechen. Sie sind abhängig und nichts anderes als ein weiterer Ausdruck der Sklaverei. An dieser Stelle hat die PKK ihre inneren Widersprüche überwunden. Sie hat sich vor den auswendig gelernten Konzepten gerettet. Das war eine sehr wichtige Entwicklung für uns.
Abdullah Öcalan hat auf diesem Weg der gesamten Menschheit einen großen Schatz zur Verfügung gestellt. Die PKK hat mit ihrem vierzigjährigen Kampf und den 40.000 Gefallenen diese Überlegungen für die gesamte Menschheit entwickelt. Sie zeigt damit allen Unterdrückten einen Weg zur Befreiung auf. Sie zeigt der Menschheit den Weg zu einem freien und demokratischen Leben. Das ist etwas, was mit Waffen, Geld, Macht oder materiellen Dingen nicht aufgewogen werden kann.
Auf der anderen Seite haben wir die Realität des Staates umfassend analysiert. Die PKK hat in dieser Hinsicht wirklich eine wichtige Entwicklung und Veränderung erlebt. Wir sind heute keine Partei mehr, die sich an Macht und Staat orientiert. Wir sind zu einer Bewegung geworden, die eine demokratische Gesellschaft auf der Grundlage der Freiheit der Frau und der Ökologie vertritt. Wir verfolgen die Lösung der demokratischen Nation. Der Staat dringt in die Gesellschaft ein und hat er sich erst einmal institutionalisiert, wird er für die Gesellschaft zu einer Kraft der Repression, Zerstörung und Unterdrückung. Mit dem Staat lässt sich also keine Freiheit, Gleichheit, Demokratie oder Solidarität erreichen. Sozialismus und Staat sind miteinander unvereinbar. Aus diesem Blickwinkel können sozialistische Parteien nicht nach Staat oder Macht streben. Macht bedeutet Ausbeutung. Das Paradigma Abdullah Öcalans bedeutet für die sozialistische Bewegung eine sehr tiefgreifende und historische Erneuerung. Für die Lösung der Probleme sind die Grundlagen des Sozialismus ausschlaggebend. Wichtig ist, mit welchen Mitteln diese Grundlagen verwirklicht werden. So wird eine Ganzheitlichkeit von Mittel und Ziel erreicht. Staat und Sozialismus sind Ausdruck des Widerspruchs zwischen Ziel und Mittel. Die PKK hat diesen Punkt durch ihren umfassenden Kampf erreicht. Wichtig ist auch zu wissen, dass die PKK eine Bewegung ist, in der Wort und Tat eine Einheit bilden. Deshalb hat Abdullah Öcalan eine derart große Überzeugungskraft.