Überwindung der antidemokratischen Mentalität

gezi-park-polisNur ein wirkliches Verständnis von Demokratie und Freiheit wird zum Zerbrechen und zur Überwindung der antidemokratischen Mentalität führen
Mustafa Karasu, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), zu den Auseinandersetzungen um den Gezi-Park in Istanbul

Als der Umbau des Gezi-Parks in der Nähe des Istanbuler Taksim-Platzes in ein neues Einkaufszentrum bevorstand, hat die Gesellschaft reagiert; sie hat sich Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert und den Gezi-Park besetzt. Um dann die Angriffe der Polizei zu verurteilen gab es in der ganzen Türkei Proteste. Letztendlich hat die Polizei den Gezi-Park verlassen. Die AKP hat angesichts der gewaltsamen Auseinandersetzungen, dem Polizeiterror und der immer größer werdenden Proteste nicht ihre eigene Politik in Frage gestellt, sondern von Aufstachelung und Provokationen gesprochen.

Die Ereignisse um den Istanbuler Gezi-Park haben wieder einmal gezeigt, wie rückständig das Demokratieverständnis in der Türkei ist. In der Türkei wird Demokratie immer noch in vierjährigen Wahlen und der diktatorischen Führung der Partei mit dem meisten Stimmen gesehen. Diesen Sachverhalt hatte früher Süleyman Demirel mit den Worten „bekomme die 276, und setz dich auf den Sessel“ (Anm. d. Übers.: Die türkische Verfassung schreibt für die absolute Mehrheit im Parlament mindestens 276 Mandate vor) ausgedrückt. Die AKP-Regierung und Tayyip Erdogan drücken dies mit „wir haben die Mehrheit, wir akzeptieren nicht das Diktat der Minderheit gegenüber der Mehrheit“ aus. Im Grunde sind beide Aussagen dieselben. Es bedeutet: Wenn ich über die Mehrheit verfüge, habe ich das Recht, welche Art von Politik ich auch will, anzuwenden.

Wir wissen, wie diese Logik in den letzten 12 Jahren während der Regierungszeit der AKP gegen die KurdInnen in einer rücksichtlosen Form angewandt wurde. Wenn die KurdInnen in der Türkei 25% der Bevölkerung ausmachen, dann bilden sie eine Minderheit im Parlament. Es gilt die Politik, welche die anderen 75% angeben. Wenn alle KurdInnen ihre grundlegenden Rechte fordern würden, doch die türkische Gesellschaft und das Parlament dies nicht wollen, kann keine Forderung oder Recht akzeptiert werden. Denn die Mehrheit möchte dies nicht. Und da die Mehrheit in der Türkei mit Chauvinismus und Kurdenfeindlichkeit infiziert ist, wird man den KurdInnen keine Rechte geben und die kurdische Frage nicht gelöst werden. So wie die AKP jetzt sagt: Ich habe die Parlamentsmehrheit und kann tun was ich will!

Nun aber muss bei einem wahren Demokratieverständnis die Forderung jeder Gruppe und Gemeinschaft beachtet werden. Ohne Frage muss es bei Parlaments- oder Kommunalwahlen eine Verwaltung bzw. Regierung geben, die die Mehrheit repräsentiert. Allerdings bedeutet dies nicht, die Rechte und Forderungen der kommunalen Gemeinschaften zu ignorieren. Demokratie muss bei jedem einzelnen Thema den Willen der (kommunalen) Gesellschaft respektieren und wenn nötig Volksabstimmungen abhalten. Nur mit solch einem Verständnis kann ein demokratisches System verwirklicht werden und die Regierung Legitimität erlangen.

Wenn z. B. zur Frauenfrage ein Gesetz verabschiedet wird, dass jedoch von Frauenorganisationen und den Kommunen abgelehnt wird, kann man nicht von Demokratie reden. Das gilt auch für die Jugendlichen, die ArbeiterInnen und die DorfbewohnerInnen. Auch die Aleviten wollen keinen erzwungenen Religionsunterricht; sie wollen nicht, dass das Alevitentum in das Diyanet [Präsidium für Religionsangelegenheiten] integriert wird; dies zu tun, ist undemokratisch. Es gibt Themen, welche die gesamte Bevölkerung interessieren und wiederum einige Themen, die nur für bestimmte Teile der Bevölkerung von Bedeutung sind. Wenn zum Beispiel die KurdInnen muttersprachlichen Unterricht fordern, erfolgt dies nicht über die Initiative der gesamten Türkei, sondern durch den der kurdischen Bevölkerung und demokratischer Kreise. Weil die Mehrheit in der Türkei muttersprachlichen Unterricht für die KurdInnen abgelehnt, kann nicht einfach diese Forderung der KurdInnen abgelehnt werden. Bei einer Ablehnung wäre das Land, egal was es behauptet, undemokratisch. Aus diesem Grund sagen wir, dass die Demokratisierung der Türkei mit der Lösung der kurdischen Frage verbunden ist. Die Ereignisse um den Gezi-Park haben die anti-demokratische Mentalität in der Türkei klar und deutlich aufgedeckt. Bei einer demokratischen Einstellung hätte die dortige Nachbarschaft selbst über die sie betreffenden Themen demokratisch entschieden. Die Nachbarschaft muss selbst entscheiden, ob sie den Gezi-Park als einen öffentlichen Park behalten will, oder eine Schule, eine Moschee, einen Sportplatz oder etwas anderes erbauen möchte. Denn bei diesem Beispiel ist nicht die Allgemeinheit, sondern nur die Nachbarschaft direkt betroffen. Ob im Istanbuler Gezi-Park ein neues Gebäude aufgebaut werden soll, kann mit Leichtigkeit die Istanbuler Bevölkerung selbst entscheiden. Wenn die Istanbuler Bevölkerung entscheidet, dass der Gezi-Park bestehen bleiben soll, dann muss er auch erhalten bleiben. Wenn die Bevölkerung stattdessen entscheidet, dass dort ein Gebäude erbaut werden soll, hätte man dies zu tun. In solchen Fällen ist eine Volksabstimmung abzuhalten; dies sollte zu den grundlegenden Maßnahmen eines demokratischen Landes gehören. Aber die AKP ist beim Gezi-Park den gleichen Weg wie die Jahre zuvor gegangen und war nun gezwungen sich zurückzuziehen. Wir halten die Haltung der BürgerInnen in diesem Fall richtig und sinnvoll. Doch es kann nun Kreise geben, die diese falsche Haltung der AKP ausnutzen möchten. So haben auch antidemokratische und antikurdische Kreise im Fall Gezi-Park gegen die Haltung der AKP-Regierung protestiert. Die AKP-Regierung muss in diesen originellen Fällen nicht diese Kreise, sondern grundsätzlich ihre eigene Haltung hinterfragen.

Die AKP muss die oben genannte Mentalität Demirels ablegen; sie muss mit einer demokratischen Einstellung die Ereignisse betrachten. In der Demokratie gibt es keine Rechthaberei, sondern einzuhaltende Prinzipien. Zu sagen, „egal was das Volk sagt, ich tue was ich will“ ist keine Kunst und auch keine Heldentat. Es ist nun an der Zeit einzusehen, dass dies nicht richtig ist. Denn diese Mentalität respektiert nicht den Willen der Gesellschaft.

Auch bezüglich der kurdischen Frage gibt es eine ähnliche Annäherungsweise. Die KurdInnen wollen die Lösung der kurdischen Frage. Auch ein erheblicher Teil des türkischen Volkes will eine Lösung. Aufgrund der alten Denkweise der AKP und der Reaktion einiger Kreise entwickeln sie keine Schritte weiter hin zur Lösung der kurdischen Frage. Mit Schritten zur Lösung der kurdischen Frage würde auch die Unterstützung der Bevölkerung zum Lösungsprozess steigen. Die AKP versucht, mit ihrer chauvinistischen Haltung Zeit zu gewinnen. Auch hier ist nichts von einer demokratischen Mentalität zu sehen. So wie im Fall des Gezi-Parks, wo Forderungen der Bevölkerung nicht respektiert werden, bleibt auch die Forderung der KurdInnen und der demokratischen Kräfte zur kurdischen Frage unberücksichtigt.

Die AKP spricht von der Lösung der kurdischen Frage, hat aber noch keinen einzigen Schritt eingeleitet. Die Guerilla zieht sich hinter die Grenzen zurück, doch sie machen immer noch nichts. Aus diesem Grund gibt es eine misstrauische Haltung der KurdInnen und der demokratischen Kräfte der AKP gegenüber. Die von der PKK eingeleiteten Schritte und die Lösung des Problems durch einen demokratischen Weg werden für richtig gehalten, doch die Regierung selbst macht keinen Schritt vorwärts. Die Gesellschaft unterstützt den Prozess, doch es entstehen Zweifel, da die Regierung untätig bleibt. Die entstehenden Zweifel an der Aufrichtigkeit der AKP führen zur Reduzierung der gesellschaftlichen Unterstützung des Prozesses. Und genau dies nutzen die Gegner des gegenwärtigen Prozesses. So wandelt sich die AKP-Feindschaft in eine Gegnerschaft gegenüber dem Prozess und die Gegnerschaft gegen den Prozess wiederum in eine Feindschaft gegenüber der AKP. Eine falsche Politik und die fehlenden Schritte zur Lösung der kurdischen Frage verhindern einen starken und gesunden Verlauf des Prozesses. Die PKK und die KurdInnen leisten ihren Teil. Sie ebenen den Weg zur Einleitung der notwendigen Schritte. Nun ist die AKP-Regierung an der Reihe. Wenn die AKP-Regierung nicht zur richtigen Zeit die richtigen Schritte einleitet, und so die gesellschaftliche Unterstützung zum Prozess stärkt, wird nicht nur sie selbst, sondern die ganze Türkei zu Schaden kommen. Wenn die AKP hinsichtlich der kurdischen Frage die richtigen und notwenigen Schritte einleitet, wird es bei allen anderen Themen auch eine demokratischere Annäherungsweise geben. Das würde Fehler der AKP, wie im Falle des Gezi-Parks, verhindern. Eine demokratische Mentalität und demokratische Schritte würden für die gesamte Gesellschaft den Frieden bringen.

Ohne Zweifel haben sich bei diesen Vorfällen um den Gezi-Park auch Kreise in die gesellschaftliche Opposition gemischt und gegen die AKP protestiert, die der kurdischen Frage gegenüber ablehnend gegenüberstehen. Die Aktionen für den Erhalt des Gezi-Parks und die Teilnahme daran ist nicht falsch. Wir halten es nicht für falsch, aus welcher Motivation auch immer, gegen den Bau eines neuen Gebäudes auf dem Gelände des Gezi-Parks zu protestieren. Die Verteidigung eines Parks, in dem die Istanbuler Bevölkerung sich ausruhen und frische Luft atmen kann, schätzen wir und messen ihm viel Bedeutung bei. Warum seid Ihr allerdings nicht gegenüber der Existenz eines Volkes, gegenüber seiner Freiheit, seinem muttersprachlichen Unterricht und der freiheitlichen Ausübung seiner kulturellen Identität so empfindlich? Wir haben das Recht Euch zu fragen, warum Ihr gegen die kurdische Identität, die Sprache, Kultur, die selbstbestimmte Verwaltung und gegen die Demokratische Autonomie seid. Das muss man alle, die an den Gezi-Park-Aktionen teilnehmen und darüber hinaus alle demokratischen Kräfte, die ablehnend gegenüber der Lösung der kurdischen Frage stehen und auf nur eine Nation bestehen, fragen.

Wenn die Sensibilität, die im Fall des Gezi-Parks aufgebracht wird, nicht auch auf die Rechte und Freiheiten der Kurden übertragen wird, dann werden die KurdInnen diese Fragen stellen. Das könnte die zweifelhafte Bedeutung dieser wichtigen Aktionen im Gezi-Park aufdecken.

Nur ein wirkliches Verständnis von Demokratie und Freiheit wird zum Zerbrechen und zur Überwindung der antidemokratischen Mentalität führen.

Quelle: ANF, 04.06.2013, ISKU

Schreibe einen Kommentar