Riza Altun, Mitglied des KCK-Exekutivrats, über die Interessen der internationalen Akteure im Mittleren Osten, 02.05.2018
Mit den Angriffen auf Syrien am 14. April ist der Dritte Weltkrieg und die Krise im Mittleren Osten auf eine neue Etappe getreten. Mit diesen Angriffen gibt es eine Veränderung bei den regionalen Akteuren. Die Mitglieder der internationalen Koalition, wie die USA, Frankreich und England, als auch Länder wie Deutschland, Italien und Saudi Arabien haben eine bestimmte Position eingenommen. Wie ist es zu dieser neuen Phase gekommen und was kann alles aus dieser neuen Situation erwachsen?
Wir können die jüngsten Angriffe auf Syrien nicht getrennt von der allgemeinen Weltpolitik und der im Mittleren Osten verfolgten Politik behandeln. Auch wenn es so dargelegt wird, als ob sich der Schlag gegen Syrien mit 103 Raketen direkt gegen das Regime richtete, geht es im Wesentlichen um etwas anderes. Erstens hängt diese Situation mit den Beziehungen zwischen der internationalen Koalition und Russland bzw. zwischen den USA und Russland zusammen. In diesem Punkt gibt es eine Krise. Sie haben versucht diese Krise so zu präsentieren, als ob sie mit der Agentenkrise in England aufgebrochen sei. Doch es geht um eine noch tiefere Krise. Dieses Ereignis ist nichts anderes als ein nach außen treten dieser internationalen Krise. Ich erinnere mich, dass man während dem Niedergang der Sowjetunion davon sprach, dass es keine bipolare Welt mehr geben werden. Man dacht es wird keine Trennung zwischen dem östlichen und westlichem Block mehr geben. Aber mit dem Hervortreten von Russland wird dieser „Block-Charakter“ immer bestehen. Es hieß es werde immer eine Kraft, die über globale Herrschaftsansprüche verfügt, geben als auch einen Widerstand gegen dieses von der USA geführte System. Es stimmt, dass Russland anfänglich schwankte. Später trat es aber vom Neuen auf die Bühne der Weltpolitik. Es ist nicht davon abgerückt gegen den Block des US-geführten Weltsystems, sich selbst auch in Form eines Blocks zu organisieren. Beide sind jedoch keine Kräfte die eine andere Moderne repräsentieren. Die USA und Russland existieren mehr als zwei Ausprägungen, die beide auf Hegemonie beruhen. Deshalb ereignen sich zwischen beiden Kräften immer wieder Krisen.
Im Inneren Russlands gab es auch Konflikte, die eine starke Hegemoniewerdung verhinderten. Doch der Widerspruch dauert immer noch an. Mit verschiedenen Etappen hat sich dieser Widerspruch bis zur Krise in Syrien fortgesetzt.
Natürlich muss die Syrien-Krise im Kontext der allgemeinen Entwicklungen im Mittleren Osten bewertet werden. Die Krise ist eine allgemeine Situation der kapitalistischen Moderne, trägt aber auch einen regionalen Charakter. Die USA versucht auf Basis der „neuen Weltordnung“ der Welt eine neue Form zu geben, und dies auch durch die Krise im Mittleren Osten durchzusetzten. Sie nahm eine Vielzahl von auf der Welt bestimmenden Kräften hinter sich, versuchte regionale Länder auf ihre Seite zu ziehen oder Regime Changes zu fördern. Es gab keine Alternative. In der Vergangenheit war Russland nicht sehr aktiv, sondern setzte sich mehr mit eigenen Problemen auseinander. Später hat es sich in Syrien eingeklinkt und interveniert. Wenn Russland seinen Eingriff in Syrien begrenzt hätte, hätte man die Widersprüche ausbalancieren können. Aber diese Widersprüche weiter zu vertiefen und der Versuch im Mittleren Osten eine neue Hegemonie aufzubauen, bedeutet eine neue Situation. Wenn dann auch noch Syrien als Fokus genommen wird, vertiefen sich die Widersprüche umso mehr. Im Hegemonialkrieg innerhalb der kapitalistischen Moderne muss man zwei Enden sehen. Einmal die Seite der USA und ihrer Verbündeter. Auf der anderen Seite die alternative Position Russlands. Die in jüngster Zeit ausbrechende Agentenkrise in Europa und die darauffolgende Polarisierung rührt daher. Die Haltung von Frankreich, England, Deutschland und den USA richtet sich nicht entsprechend einem Einzelfall. Es wird eine Haltung eingenommen im Hegemoniekrieg des Systems. Die Situation im Mittleren Osten hat ein neues Niveau erreicht. Wenn man die Politik Russlands im Mittleren Osten verfolgt, werden die jüngsten Angriffe besser verständlich. Wenn auch der Giftgasangriff des Regimes in Ost-Ghuta vorgeschoben wird, ist dies eigentlich nur eine Verdeckung der eigentlichen Krise und des Widerspruchs. Es geht nicht um die Massaker des Regimes. Es geht auch nicht darum, wie viel Giftgas das Regime genutzt hat. Die Taten des Regimes in den letzten 7 Jahren des Krieges sind offensichtlich. Dörfer wurden bombardiert und Massaker verübt. Es gibt Behauptungen und Beweise, dass dutzende Male chemische Waffen genutzt wurden. Aber es wurde keine Position bezogen. Es gab nur einige Warnungen, aber keine Interventionen. Warum wurde nun über den Giftgaseinsatz in Ost-Ghuta diskutiert? Es wurde sogar ein Vergeltungsschlag verübt und dann gesagt man werde recherchieren. Das heißt das eigentliche Problem ist ein anderes.
Was ist dann der eigentlich Grund für die Aktion der internationalen Koalition gegen das Regime?
Seit geraumer Zeit hat sich Russland durch die vom Regime offengelegte Möglichkeit in Syrien niedergelassen und begonnen auf regionaler Ebene seine Hegemonie auszubauen. Wenn man die Beziehungen Russlands mit dem Regime, dem Iran und damit verbunden der Hezbollah und vor allem mit der Türkei betrachtet, sehen wir ein ernsthaftes Problem für die internationale Koalition.
Während der westliche Block versucht seine eigene Vorherrschaft durch gewisse Veränderungen in Syrien durchzusetzen, ist die Politik Russlands eine gegenteilige. Während das gegenwärtige System große Konflikte mit dem Iran hat, ist Russland mit diesem verbunden.
Das wichtigste ist hierbei die Beziehung Russlands mit der Türkei, die ein neues Niveau erreicht hat. Die Beziehungen des Westens mit der Türkei sind kurz vor dem Bruch. Wenn man die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei beobachtet, kann man das wesentliche Problem erkennen. Die Türkei verfügt seit ihrer Gründung als Nationalstaat mit dem Westen und der USA über eine besondere Beziehung. Während es dafür weltweit eine gewisse Akzeptanz gibt, sind die Beziehungen Russland mit der Türkei sehr problematisch geworden.
Inwiefern war diese Beziehung für das System problematisch?
Erstens ist die Beziehung der Türkei mit Russland zunehmend, im Sinne von wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen und Abkommen, internationaler geworden. Doch vor allem geht es um die de facto Intervention der Türkei in den Mittleren Osten durch das Einvernehmen Russlands. Ein Grund für den Angriff der Dreier-Koalition sind die Bestrebungen der Türkei im Zuge der Besatzung von Afrin mithilfe von Russland seinen Einfluss auszuweiten.
Das ist ein kritischer Punkt. Russland versucht die Türkei auf ihre Seite zu ziehen. Russland kann die Türkei ausnutzen und sie ähnliche Dinge tun lassen wie in Afrin. Durch das Türkei-Bündnis formiert es einen neuen hegemonialen Raum, der sich zunehmend ausdehnt. Die Bildung neuer Hegemonien wird zu einem Problem für die USA und die internationale Koalition. Entgegen ihrer Mittelost-Strategien bildet sich eine neue Kraft. Wenn wir uns erinnern sprach Erdoğan noch in den ersten Tag des Angriffs aus Afrin, dass die Türkei Manbij, Kobanê, Tel Abyad, Qamislo und danach Sengal, Südkurdistan, Kirkuk und Mosul angreifen werde. Das ist ein Ergebnis der Politik Russlands. Sie nutzt die Türkei auf diese Weise gegen die USA und die internationalen Kräfte. Es ist nicht möglich, dass die internationale Koalition dies akzeptiert. Entweder akzeptiert sie diese Situation und wird damit ihren Einfluss im Mittleren Osten und damit weltweit verlieren, oder wird ihr Einhalt gebieten.
Wird die internationale Koalition dies stoppen?
Es gibt Hinweise darauf. Die Agentenkrise in England bringt dies zum Ausdruck. Man bringt damit zum Ausdruck, dass die Politik Russlands gefährlich sei und gestoppt werden müsse. Mit Sanktionen hat man eine globale Botschaft gegeben. Doch diese Botschaft war nicht ausreichend für die Intensität im Mittleren Osten. Es brauchte auch eine politische Intervention gegen die gefährliche Beziehung zwischen Russland und der Türkei, sowie der damit zusammenhängenden Krise im Mittleren Osten. Der jüngste Angriff hat dies bewirkt. Man brachte zum Ausdruck, dass man die von Russland gegenüber der Türkei verfolgte Politik nicht akzeptiere.
Der Iran war ein traditionelles Ziel. Anstatt den Angriff in Syrien im Kontext von der Nutzung chemischer Waffen oder Massakern zu diskutieren, sollte man das auf dieser Basis tun. Die Botschaft ist das wesentliche.
Denken sie diese indirekte Botschaft hat ihr Ziel erreicht?
Auf die Türkei hätte man nicht direkt abzielen können. Sie steht noch in der Mitte und es ist nicht klar was sie tun wird. Russland hätte man auch nicht direkt zum Ziel nehmen können. Ein Atomkrieg wäre ausgebrochen. Das logische Ziel wären das Regime und der Iran. Damit wäre auch eine aktive Reaktion der Türkei und Iran verhindert. Mit dem Schlag gegen Syrien, das sowieso nicht sehr stark ist und die Rolle des Sündenbocks innehat, hat man zudem seine eigene Legitimität gestärkt. Diese Botschaft wurde nun gegeben.
Was wird nun nach dieser Krise passieren und was für Lösungsoptionen gibt es?
Die Krise wird entweder im Rahmen von Beziehungen und Widersprüchen zwischen den internationalen und regionalen Kräften weiter andauern, oder es wird eine Annäherung zur Lösung geben. Es sind nun Chancen zur Lösung der Krise in Syrien hervorgetreten. Doch es ist nicht nur eine Angelegenheit von Syrien, sondern eine die den ganzen Mittleren Osten und die Welt betrifft. Ohne die Problematik im Mittleren Osten zu lösen, drückt die Lösung in Syrien nichts aus. Es sind sogar noch größere Krisen möglich, wenn man die Krise in Syrien löst ohne die Probleme im Mittleren Osten zu behandeln.
Das Interview erschien im türkischen Original am 22.04.2018 unter dem Titel „Türkiye kafese girdi“ bei ANF.