Seyit Evran über die vierjährige Widerstandsgeschichte in Afrin; für den Kurdistan Report März/April 2018
Nachdem im März 2011 in der nahe der jordanischen Grenze gelegenen syrischen Stadt Daraa Aufstände begonnen hatten, wurde Monate später in Rojava [Westkurdistan] bzw. Nordsyrien der erste Schritt in Richtung Revolution unternommen. Am 19. Juli 2012 wurde das syrische Regime aus Kobanê (Ain al-Arab) vertrieben. Nur zwei Tage später musste es auch Afrin verlassen und alle dortigen Institutionen wurden durch die Selbstverwaltung übernommen.
Im Verlauf des Sommers und Herbstes 2012 wurden Sicherheitskräfte für die Verteidigung Afrins nach innen und außen aufgebaut. Auch die Koordination der Revolution in dem nordsyrischen Kanton wurde gegründet. Komitees traten zusammen, deren Aufgaben in der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Brennmaterial und anderen lebensnotwendigen Dingen bestanden.
Nicht einmal drei Monate waren seit der Übernahme der Regierungsaufgaben durch die Bevölkerung Afrins vergangen, als in dem êzîdischen Dorf Qestel Cindo und auf einen in der Nähe gelegenen Hügel die ersten Angriffe auf Rojava begannen. Nach zweitägigen Gefechten konnten sie zurückgeschlagen und das Dorf bzw. der Hügel mithilfe der Selbstverwaltungsstrukturen verteidigt werden.
Der erste Winter während der Revolution in Afrin
Gegen die Angriffe auf das Dorf Qestel Cindo und den nahe gelegenen Hügel hatten sich die Bevölkerung Afrins und ihre Selbstverteidigungskräfte erfolgreich wehren können. Doch mit Beginn des Winters 2012/13 wurde ein umfangreiches Embargo gegen Afrin verhängt. Islamistische Gruppen in Azad, Aleppo und Atme sperrten zahlreiche Straßen, die in den nordsyrischen Kanton führten. Straßen, die aus Reyhanlı, Hassa, Kırıkhan, İslahiye und Kilis nach Afrin führten, wurden durch den türkischen Staat blockiert, wodurch Afrin von praktisch allen Seiten einem Embargo unterworfen war. Insbesondere der Transport von Nahrungsmitteln, Brennstoffen und weiteren grundlegenden Bedarfsgütern wurde dadurch behindert. Den Winter verbrachte die Bevölkerung Afrins im Zuge dieses umfassenden Embargos unter einem schweren Nahrungsmittel- und Brennstoffmangel.
Um die Folgen des Embargos abzumildern bzw. zu umgehen, setzte die Bevölkerung die Wassermühlen des Kantons instand. Diese waren bis in die 1970er Jahre genutzt worden, was dann jedoch durch das syrische Regime verboten wurde. Handmühlen aus der Großelterngeneration wurden wieder funktionsfähig gemacht, um das Problem der Mehl- und Brotproduktion zu lösen. Der Mangel an Brennstoff wurde behoben, indem alte Olivenbäume und vertrocknete Bäume in den bergigen Wäldern des Kantons zu Feuerholz verarbeitet wurden.
Im Frühjahr 2013 wurde Afrin erneut zum Angriffsziel der mit der Türkei verbündeten islamistischen Gruppen. Die ersten Angriffe richteten sich gegen die Dörfer Xezîwê, Îska, Basûtê, Celemê, Birc Ebdela, Birc Hêder, Zirixet, Basilê, Aqîbê, Soxanekê, Ziyaretê, Basûfanê, Cilbir, Bênê, die zwischen den Bezirken Şerawa und Cindirês lagen. Die erst kurz zuvor gegründeten Volksverteidigungs- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ schlugen sie zurück und vertrieben die islamistischen Gruppen aus den betroffenen Dörfern.
Als diese Angriffe erfolglos blieben, begann eine neue Welle von Atme aus gegen Dörfer im Bezirk Cindirês. Auch dieser Besetzungsversuch schlug fehl und die islamistischen Kämpfer blieben an der Grenze zu Afrin stecken. Nachdem die Offensiven dieser mit der Türkei verbündeten Gruppen fehlgeschlagen waren, machte sich der Islamische Staat (IS, damals noch ISIS) mit offener Unterstützung der Türkei und Recep Tayyip Erdoğans daran, Afrin anzugreifen. Er hatte erst kurz zuvor begonnen, in der Region aktiv zu werden. Seine Attacken richteten sich gegen Dörfer in Cindirês, Şerawa und Şera. Auch die Angriffe des IS gegen Afrin scheiterten und die Dörfer bzw. Bezirke Afrins konnten erfolgreich verteidigt werden.
Syrische Binnenflüchtlinge suchen Zuflucht in Afrin
Die im Frühjahr 2013 erfolgten Angriffe blieben nicht auf den Kanton Afrin beschränkt. Zur gleichen Zeit fand eine umfangreiche Offensive auf die kurdischen Viertel Eşrifiye und Şeyh Maksut in der nordsyrischen Stadt Aleppo sowie zahlreiche Dörfer in der Region Şehba statt.
Fast 500.000 Menschen flohen aus Eşrifiye und Şeyh Maksut nach Afrin. Zugleich begannen die Angriffe und Massaker in Tel Eran und Tel Hasil. Zehntausende flohen von dort nach Afrin, das für sie eine sichere und friedliche Region darstellte, die vom Krieg in Syrien weitgehend unberührt geblieben war. Afrin wurde zur Hauptanlaufstelle für Menschen aus ganz Syrien. Außer aus den kurdischen Vierteln in Daraa, Hama, Homs, Damaskus und Aleppo flohen Menschen aus allen Teilen Syriens in den nordsyrischen Kanton. Die Bevölkerung Afrins verdreifachte sich infolge dieser Fluchtbewegungen.
Um den Bedürfnissen der Geflüchteten gerecht werden zu können, baute die Bevölkerung Afrins aus eigener Kraft das »Geflüchtetencamp Rubar« auf. Auch in den Jahren 2014 und 2015 dauerte der Zustrom nach Afrin an. Die Besetzung von Cerablus (Dscharabulus), al-Bab, ar-Rai und Axtare (Akhtarin) durch den türkischen Staat im Jahr 2016 führte zur Flucht Hunderttausender aus den Dörfern der Region nach Afrin. Aufgrund der steigenden Zahlen wurde ein zweites Camp errichtet, das »Camp Şehba«.
Um die Versorgung der Geflüchteten zu gewährleisten und die mit dem seit Beginn des syrischen Krieges andauernden Embargo einhergehenden Probleme zu überwinden, wurde damit begonnen, im Dorf Durakliya (Bezirk Şera) in einer kleinen Mühle täglich 25 Tonnen Mehl zu produzieren. Mit der Inbetriebnahme einer 2014 errichteten Mehlfabrik in Basûtê, in der am Tag 80 bis 100 Tonnen Mehl produziert wurden, konnte das Versorgungsproblem gelöst werden.
Der Kanton wird ausgerufen
Durch den Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen in Afrin konnten die zahlreichen Herausforderungen bewältigt werden, so z. B. die Verteidigung gegen die Besetzungsversuche, der andauernde Zuzug von Geflüchteten und das umfassende Embargo gegen den Kanton. Gegen Ende 2013 wurde begonnen, die Revolution in Rojava und Nordsyrien durch den Aufbau einer Koordination voranzutreiben. Damit wurde das Ziel verfolgt, der Politik internationaler Mächte etwas entgegenzusetzen, die ihre eigene Hegemonie in Syrien ausbauen wollten und dafür hauptsächlich auf Akteure außerhalb Syriens setzten. Stattdessen sollte durch die Ausrufung autonomer Kantone eine Lösung aufgezeigt werden, die ihre Kraft aus den syrischen Kräften selbst bezieht. Daher wurde am 20. Januar 2014 und damit kurz vor der 3. Genfer Konferenz, die am 22. Januar stattfinden sollte, der Kanton Cizîrê ausgerufen. Darauf folgten der Kanton Kobanê am 27. Januar und die feierliche Proklamation des Kantons Afrin am 29. Januar desselben Jahres.
Der Aufbau der Volksräte
Noch bevor der Kanton Afrin ausgerufen worden war, hatte der Aufbau eines Volksrates für den Kanton begonnen. Er sollte sich aus 101 Mitgliedern zusammensetzen, die u. a. die in Afrin lebenden Êzîden und Aleviten, aber auch Vertreter des Emirati- und des Bobeni-Stamms umfassen sollten. Dafür bestimmten alle Volksräte auf der Ebene der sieben Bezirke und der Dörfer die Personen, die sie im Volksrat auf Kantonsebene vertreten sollten. Nachdem die Volksräte in den Dörfern ihre Vertreterinnen und Vertreter bestimmt hatten, wurden in allen sieben Bezirken Afrins Wahlen abgehalten, um aus den vorgeschlagenen Personen der Bezirks- und Dorfvolksräte Mitglieder für den kantonalen Volksrat Afrins zu bestimmen. Für die alevitische und êzîdische Bevölkerung, aber auch für die Mitglieder des Emirati- und des Bobani-Stammes wurden entsprechend ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung Quoten für ihre Vertretung im kantonalen Volksrat festgelegt.
Nach der Gründung des Volksrates Afrin wurde die Ausrufung des Kantons am 29. Januar 2014 mit einer großen Zeremonie feierlich begangen. In der Koordination des Kantons erhielten der Emirati-Stamm vier und der Bobeni-Stamm zwei Sitze. Die Koordination des Kantons Afrin setzte sich aus insgesamt 18 Sitzen zusammen.
Zur Vorsitzenden der kantonalen Koordination wurde Hevi Ibrahim Mustafa bestimmt, die in Mabeta lebte und deren Familie ursprünglich aus Dersim vertrieben worden war. Zum Vertreter Mustafas wurde der dem Emirati-Stamm zugehörige Abdulhamid Mustafa gewählt. Remzi Şeyhmus wurde als weiterer Vertreter gewählt. Er war zuvor in Afrin in der »Konferenz-Partei«aktiv gewesen, die wiederum ein Teil des Kurdischen Nationalrats in Syrien [ENKS; von der PDK Barzanîs nahestehenden Parteien dominiertes Bündnis] in Afrin war. Der Êzîde Süleyman Cafer aus dem Dorf Basûfanê wurde zum diplomatischen Vertreter Afrins erklärt.
Afrin unterschied sich in einigen Punkten von den anderen Kantonen. Ein entscheidender Unterschied lag zum einen in der Existenz alevitischer Kurden, die ursprünglich aus Dersim vertrieben worden waren. Zum anderen gab es im Kanton fast zwanzig êzîdische Dörfer, zu denen u. a. Qîbar, Basûfanê, Feqîra und Baflonê zählten.
Nach der Ausrufung des Kantons
Auch nach der Ausrufung des Kantons Afrin dauerte der Zustrom von Geflüchteten aus allen Teilen Syriens an. Durch die Verlegung großer Teile der Textilindustrie aus dem größtenteils zerstörten Aleppo nach Afrin fand eine deutliche Belebung der dortigen Wirtschaft statt. Im Verlauf von zwei Jahren nach der Ausrufung des Kantons wurden im Stadtzentrum wie auch im Umland und den Dörfern Afrins fast dreitausend Nähereien eröffnet. Die dort produzierten Güter wurden insbesondere nach Aleppo, Damaskus und Hesekê exportiert, aber auch in andere Teile Syriens, den Libanon und nach Jordanien. Diese Entwicklung ließ Afrin zu einem Handels- und Gewerbezentrum zwischen Aleppo und Dîlok (Antep) werden. Einer der wesentlichsten Gründe für die Angriffe auf Afrin ist die Schwächung des Kantons als wirtschaftliches Zentrum der Demokratischen Föderation Nordsyrien.
Bildung und Universität
Nach der Ausrufung des Kantons begann im Zuge der Revolution die Etablierung muttersprachlichen Unterrichts. Damit wurde ermöglicht, dass alle Volksgruppen in ihrer jeweiligen Muttersprache unterrichtet werden. Zwar war dies bereits zuvor Praxis gewesen, doch die Kantonalkoordination gab dem muttersprachlichen Unterricht nun auch die notwendige rechtliche Sicherheit. Afrin wurde auch zum Ort der ersten Berufsoberschule in Rojava und der Demokratischen Föderation Nordsyrien.
Efrin: Mosaik der Völker und Glaubensgemeinschaften
Afrin ist eine Art Spiegelbild Aleppos mit seiner Völkervielfalt. Trotz ihrer teilweise geringen Anzahl leben genauso wie in Aleppo auch in Afrin Armenier, Kurden, Turkmenen, Assyrer, Suryoye, Chaldäer und Araber. Nie gab es Probleme zwischen Kurden und den zahlreichen anderen Volksgruppen, die in Afrin, Azaz und Şehba leben. Sie lebten stets eng verbunden und friedlich miteinander. Diese Verbundenheit ist in der Geschichte begründet. Die Türkei verfolgte deshalb stets das Ziel, die in Azaz, Axtare und ar-Rai lebenden Turkmenen in Kämpfe mit den Kurden in Afrin zu verwickeln. Doch der türkische Präsident Erdoğan erreichte dieses Ziel nicht. Deshalb gründeten der türkische Geheimdienst MIT und die Partei der Nationalistischen Bewegung MHP mit Beginn des Krieges in Syrien sogenannte turkmenische paramilitärische Gruppen, mit deren Hilfe Konflikte angeheizt werden sollten. Als auch dieser Plan nicht aufging, wurde unter Führung der türkischen Armee der Besetzungskrieg der islamistischen Gruppen gegen Afrin begonnen.
Afrin wurde zum Vorbild für Şehba
Das in Afrin geschaffene System wurde auch zu einem Vorbild für Şehba, zu einem Beispiel für die Dörfer Şehbas, in denen Turkmenen, Kurden und Araber zusammen leben. Das begann mit der Gründung der militärischen Gruppe Dschabhat al-Akrad (Brigade der Front der Kurden). Kurz darauf wurde auch in Şehba gemäß den rechtlichen Grundlagen der Demokratischen Föderation Nordsyrien eine kantonale Koordination gegründet und die Region Şehba als Kanton ausgerufen.
Mit der Proklamation Şehbas als Kanton begann sich auch die Bevölkerung der unter türkischer Kontrolle stehenden Gebiete um Anadan, Haritan, Mare, Azaz und ar-Rai ein ähnliches Selbstverwaltungssystem zu wünschen. Auch deshalb besetzte die Türkei Cerablus, al-Bab, Azaz, Axtare und Mare.
Der vierte Jahrestag
Der Kanton Afrin begeht seinen vierten Jahrestag unter den Folgen des türkischen Besetzungskrieges. Die Bevölkerung gibt eine organisierte und entschlossene Antwort auf diese Angriffe.
Die Ko-Vorsitzende der kantonalen Koordination Afrins, Hevi Mustafa, sagt zu den Gründen für die türkischen Angriffe auf Afrin: »Wir haben hier ein System aufgebaut, in dem der Wille aller Glaubensgemeinschaften, Volksgruppen und Geschlechter Ausdruck findet. Dagegen hat die Türkei etwas. Denn wenn die Konfessionen, Völker und Geschlechter zusammenkommen, wird es sehr gefährlich für die Hegemonialmächte. Sie nutzen all ihre Möglichkeiten, um gegen diese Entwicklungen vorzugehen, die sie als Gefahr für sich betrachten.«
Als Vertreter Mustafas erklärt Abdulhamid Mustafa, selbst Mitglied des arabischen Emirati-Stammes: »Die Völker Afrins hatten nie Probleme miteinander. Wir haben stets friedlich zusammengelebt und werden das auch in Zukunft tun. Unser Selbstverwaltungssystem ist Ausdruck der Gemeinschaft und des Zusammenhalts aller Völker.«
Der diplomatische Vertreter Afrins, Süleyman Cafer, betont, dass Êzîden zum ersten Mal mit eigenen Vertretern in einem Führungsgremium vertreten seien: »Der Wille von uns Êzîden wurde immer ignoriert. Insbesondere in Şengal, aber auch in vielen anderen Regionen konnten wir uns nie selbst vertreten. Im Rahmen der kantonalen Koordination Afrins begannen wir uns zum ersten Mal selbst zu vertreten. Das hatte auch Auswirkungen auf die anderen Gebiete, in denen wir Êzîden leben. Sie haben nun angefangen, zusammen mit ihrem Glauben ihrem Willen Ausdruck zu verleihen. Şengal ist dafür das beste Beispiel. Aber es bleibt nicht bloß bei der Vertretung des eigenen Willens, in Şengal werden bereits eigene Volksräte und Selbstverteidigungskräfte gebildet. Dadurch beginnen sich die Êzîden selbst zu verwalten. Das alles ist eine Folge davon, dass ich als Êzîde in der Koordination des Kantons Afrin Platz gefunden habe.«
Der Angriff des türkischen Kolonialismus auf Afrin dauert noch immer an. Noch immer haben es die türkische Armee und ihre islamistischen Verbündeten nicht geschafft, hier entscheidende militärische Erfolge zu erzielen. Der Kanton Afrin hat sich lange auf die Angriffe vorbereitet. Auch im Falle eines Städtekrieges sollte niemand daran zweifeln, dass sich die gesamte Bevölkerung Afrins erfolgreich gegen den türkischen Kolonialismus verteidigen und ihm einen historischen Schlag versetzen wird.