“Von der demokratischen Autonomie hin zu einem demokratischen Syrien”

salih_muslimmDas Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit im Interview mit dem Co-Vorsitzenden der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) Salih Muslim, Oktober 2015

Ihre Partei der Demokratischen Union (PYD) hat Ende September ihren Kongress durchgeführt. Welche Diskussionen und Debatten standen dabei im Vordergrund? 

Das Motto unseres diesjährigen Kongresses „Von der demokratischen Autonomie hin zu einem demokratischen Syrien“ spiegelt gleichzeitig auch den Leitgedanken unserer aktuellen Parteiprogrammatik wieder. Der Parteitag hat nochmal Impulse für Möglichkeiten einer Gesamtlösung des Syrien-Konflikts geliefert. Zeitgleich standen natürlich auf personelle und organisatorische Um- und Neustrukturierungen auf der Agenda. Die Teilnahme zahlreicher kurdischer Parteien aus sämtlichen Teilen Kurdistans und der Diaspora hat die zentrale Bedeutung der Geschehnisse in Rojava und Syrien für die Freiheit der KurdInnen und sämtlicher Unterdrückter Bevölkerungsgruppen der Region nochmals bestätigt.

Vor kurzem wurde die Gründung der Einheiten des demokratischen Syriens deklariert. Welche Bedeutung trägt diese militärische Allianz für die demokratische Selbstverwaltung von Rojava und im Gesamtkontext für den Rest des Landes?

Die Gründung ist ein bedeutender jedoch zugleich auch ein verspäteter Schritt. Seit dem Beginn des Aufstandes waren wir bestrebt mit moderaten Gruppierungen ähnliche Bündnisse einzugehen. An dieser Stelle ist es wichtig, diese Allianz nicht nur auf die militärische Zusammenarbeit zu reduzieren, sondern auch auf die politische Ebene zu transferieren und eine ähnliche Einheit zu statuieren. Dies würde einen bedeutenden Meilenstein in der syrischen Revolution darstellen.

Seit etwa einem Monat greift auch Russland aktiv im Militärgeschehen in Syrien ein. Der Presse war eine Übereinkunft zwischen Moskau und Washington zu entnehmen. In welcher Weise wird sich die militärische Präsenz Russlands auf Syrien und die Region im Gesamten ausdrücken. Welche Risiken und vielleicht auch Chancen bereitet das Interagieren von unterschiedlichen internationalen und regionalen Kräften  in Syrien, die allesamt eine andere Interessenspolitik verfolgen?

Die USA waren über die militärische Intervention Russlands informiert. Im Kampf gegen den Terrorismus kann bis zu einem bestimmten Grad von einer Zusammenarbeit ausgegangen werden. Wie im Anschluss entsprechend der veränderten Konjunktur und Interessenslage das Agieren der beiden Kräfte aussehen wird, kann zum jetzigen Punkt nicht genau abgesehen werden. Jedoch können die einzelnen regionalen Kräfte nicht mehr ohne Weiteres die verschiedenen Terrorgruppen unterstützen. Den islamistischen Terrororganisationen steht nun eine viel größere Front gegenüber. Jedoch besteht in dieser Konstellation immer noch die Gefahr einer Vertiefung beziehungsweise eine Transformation des Interessenskriegs in Syrien. Sollte sich diese Tendenz bewahrheiten, würde die Region in ein unabsehbares Chaos verwandeln.

Auch wenn von einer wesentlichen Veränderung der Strategie der USA nicht gesprochen werden kann, ist doch ein Wechsel in der Taktik zu erkennen. Der Plan moderate Rebellen auszubilden und auszurüsten wurde für gescheitert erklärt. Wie sieht die derzeitige Strategie der USA aus. In welcher Art und Weise wird sie in dem syrischen Konflikt agieren?

Die USA wird keinen erneuten Versuch unternehmen, um neue Kriegseinheiten aufzubauen. Stattdessen wird sie unter den vorhandenen Akteuren, diejenigen selektieren, die ihren Interessen am nahesten stehen. Und diese dann unterstützen. Sie bedient sich einer pragmatischeren Herangehensweise.

Die Lage in Nordkurdistan und der Türkei, sowie in Südkurdistan und im Irak sind mehr als angespannt. Wie wirken sich die derzeitigen Geschehnisse in diesen Nachbarstaaten und –regionen auf Rojava aus?

Zweifellos wirkt sich die derzeitige Situation in der Türkei und die Politik der türkischen Regierung sehr negativ auf Rojava und Syrien aus. Der Beginn von Verhandlungen zwischen der türkischen und kurdischen Seite würde einen positiven Beitrag für die Entwicklung in Rojava leisten. Selbstverständlich weist ebenfalls der kurdische Autonomieregion im Nordirak eine politische Fragilität auf, die es auf schnellster Weise zu lösen gilt. Wir begrüßen sämtliche Demokratisierungsbestrebungen in allen Teilen der Region.

Die derzeitige Tagesordnung in Europa wird gegenwärtig von der Flüchtlingsfrage bestimmt. Trotz massiver Kritik aus dem In- und Ausland reiste die deutsche Bundeskanzlerin Merkel zwei Wochen vor den Wahlen in die Türkei und traf sich dort mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan. Auf diesem Treffen signalisierte Merkel die Bereitschaft sehr großen Forderungen der Türkei nachzukommen und umstrittene Zugeständnisse zu tätigen. Wie sieht Ihre Einschätzung dieser Annäherung Europas an die Türkei aus?

Die Türkei benutzt die Flüchtlingsfrage als Erpressungsmittel. Bedauerlicherweise hat sie damit auch noch Erfolg. Sie erklärt seinen europäischen Nachbar offen, wenn ihr nicht wollt, dass die Flüchtlinge weiter nach Europa reisen, dann bedarf es größerer finanzieller Hilfe und Unterstützung für die türkische Politik. Dass die Türkei eine ethnische und religiöse Selektierung bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge betreibt, wird genauso verschwiegen, wie die Verantwortung, die die Türkei in dieser Frage hat. Da die Türkei die Grenze zu Rojava für humanitäre Hilfe nicht zulässt, kann die dortige Selbstverwaltung die zahlreichen Binnenflüchtlinge, die nach Rojava geflohen sind, nicht mehr versorgen. Deutschland als größter Geldgeber humanitärer Hilfe sollte daher eher Druck auf die Türkei ausüben, damit zumindest die Grenzen für humanitäre Hilfe geöffnet werden.

Wie kann Ihrer Meinung nach das Flüchtlingsproblem gelöst werden. Was könnte und sollte Europa tun?

Europa sollte diejenigen Staaten, die den Terror unterstützen, versuchen daran zu verhindern. Eine aktive Unterstützung des Lösungsprozesses der kurdischen Frage, würde einen bedeutenden Beitrag für die Lösung der Konflikte in der Gesamtregion beitragen. Demokratische Kräfte sollten mehr Unterstützung finden. Vor allem Rojava wird von Entwicklungshilfeleistungen und humanitärer Hilfe aus Europa nahezu ausgeschlossen. Als Grund wird oftmals die Rücksichtnahme auf die Türkei aufgeführt. Dies sollte nicht maßgebend sein.