Ali Çiçek, Mitarbeiter von Civaka Azad, in einem Jahresrückblick über die zweite Etappe des Internationalen Komplotts gegen die kurdische Freiheitsbewegung und die Rolle Deutschlands, 14.12.2018
Das Jahr 2018 neigt sich dem Ende zu. Es begann mit dem Besatzungsangriff der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten und endet ähnlich ereignisreich: Zum einen finden unbefristete Hungerstreiks kurdischer Inhaftierter in türkischen Gefängnissen und Aktivisten in Europa für Abdullah Öcalan statt. Zum anderen droht Erdogan mit einer türkischen Intervention östlich des Euphrat, worauf die Demokratische Föderation Nordsyrien mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes reagiert. Es war ein Jahr, das geprägt war von ideologischen Angriffen gegen die kurdische Freiheitsbewegung, sowohl in Kurdistan, Rojava, als auch in Europa, insbesondere in Deutschland.
Efrîn, Öcalan und 25 Jahre PKK-Verbot
Ich möchte drei Beispiele geben, die exemplarisch für diese ideologischen Angriffe und ihre Folgen stehen. Da wären es zum einen die unzähligen Solidaritätsaktionen während des zweimonatigen Afrin-Widerstands Anfang des Jahres. Dabei wurden wie immer Parolen gerufen, u.a. für die Freiheit Abdullah Öcalans. Ich kann mich noch an die Reflexe einiger Demonstrationsteilnehmer gegenüber den Parolen „Biji Serok Apo“ erinnern, die sagten: „Wir sind hier für Afrin und Rojava. Ruft nur Slogans die direkten Bezug dazu haben. Was hat Öcalan mit Afrin zu tun?“. Im Jahr 2018 jährte sich auch das deutsche PKK-Verbot zum 25. mal. Auch dagegen wurden Proteste vorbereitet. In den Diskussionen über die möglichen Protestformen angesichts des Jahrestages und im Kontext der verschärften Kriminalisierung und Verfolgung kurdischer Aktivisten und Strukturen sowie solidarischer Kreise kristallisierte sich eine Tendenz heraus, die in folgende Richtung ging: „Lasst uns die PKK nicht in den Fokus stellen. Die YPG/YPJ sind gesellschaftlich anerkannter in Deutschland. Aktionen für die Aufhebung der Verbote der YPG/YPJ sind erfolgversprechender“. Das Jahr 2018 war auch geprägt vom Zusammenrücken kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten und linker Kräfte in Deutschland. Es wurden gemeinsam Diskussionsseminare zum Demokratischen Konföderalismus organisiert und kurdische Kulturzentren als gemeinsame Bildungsorte genutzt. Die Räume sind oft geschmückt mit kurdischen Fahnen, Porträts Öcalans oder zentraler Figuren des kurdischen Freiheitskampfes. So war die Reaktion einer Person angesichts der vielen Fahnen und Porträts: „Warum hängt man Fahnen und Bilder Öcalans, der PKK und YPG/YPG an derselben Stelle auf, wo doch der deutsche Staat genau solche Bilder nutzt um alles in einen Topf zu werfen?“.
Kampf zwischen demokratischer und kapitalistischer Moderne
Über die Besatzung Afrins und ihre Folgen wurde und wird viel diskutiert. Dieser offene Völkerrechtsbruch ist ein Schandfleck für die internationale Gemeinschaft. Doch der Widerstand von Afrin mit seinen über 1000 gefallenen Selbstverteidigungskämpferinnen und -kämpfern hat den demokratischen Kräfte noch einmal klar vor Augen geführt, dass der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung im Allgemeinen und die Rojava-Revolution im Besonderen im Wesentlichen einen Kampf zwischen zwei Weltanschauungen darstellt – zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen der demokratischen und kapitalistischen Moderne. In politischer Hinsicht ist von drei Linien bzw. Akteuren die Rede: Zum einen die Hegemonialmächte, wie die USA, Russland und die EU-Länder. Zum zweiten die regionalen Nationalstaaten, also die Türkei, der Iran, Irak und Syrien. Und zum dritten die lokalen Gesellschaften, die Frauen, die Werktätigen, die unterdrückten Identitäten und Bevölkerungsschichten. Während es den beiden ersten Akteuren lediglich darum geht den Kuchen im Mittleren Osten unter sich aufzuteilen und sich dabei so viel wie möglich selbst zu sichern, ist es der dritte Akteur, der gänzlich andere Interessen hat – nämlich Demokratisierung und Befreiung vom Joch der Fremdbestimmung. Im Kern gibt es also nur zwei ideologische Linien: Die der kapitalistischen Staaten, ob global oder regional, auf der einen Seite und die der Völker, denen es in Rojava erstmals gelungen ist einen Raum zu befreien und selbst zu gestalten.
Wird die Revolution ihren Weg gehen?
Viel wurde auch über das taktische politisch-militärische Bündnis der demokratischen Selbstverwaltung in Nordsyrien mit der imperialistischen USA diskutiert. Das Zweckbündnis nahm mit dem Widerstand in Kobane seinen Anfang und erreichte seinen militärischen Höhepunkt mit der Befreiung von Rakka. Viel wurde und wird über die Zukunft des demokratischen Projekts nach Rakka spekuliert, da der ‚gemeinsame Feind‘ Islamischer Staat (IS) nun vernichtend geschlagen wurde. Wird die Revolution weiter ihren Weg gehen können oder ins kapitalistische Weltsystem integriert werden?
Erzfeind der USA
Die Revolutionäre Rojavas unterstrichen ihre Vision für die Zukunft der Region mit einem riesigem Banner Öcalans im Stadtzentrum von Rakka, vor dem sich hunderte YPJ-Kämpferinnen aufstellten, um ihren Sieg als einen Sieg für alle Frauen der Welt zu deklarieren. Die USA reagierte prompt mit einer Erklärung des Pentagons, in der sich auch ihre längerfristige Strategie widerspiegelte: „Die PKK wird seit 1997 von der USA als eine Terrororganisation definiert und wir betrachten die PKK als destabilisierenden Akteur in der Region. Wir verurteilen das Öffnen des Posters vom PKK-Gründer Abdullah Öcalan in Rakka.“ Politische Kommentatoren interpretierten diese Erklärung der USA vor allem als an den NATO-Partner Türkei gerichtet, doch an dieser Stelle hilft ein ideologischer Blick weiter. Es war dieselbe USA, die vor ziemlich genau 20 Jahren das Internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan in die Wege leitete und umsetzte. Öcalan ist in seiner Gestalt als Architekt der PKK, dem Paradigma des Demokratischen Konföderalismus und der Revolution in Rojava ein Erzfeind der USA. Er ist es, der nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, der Integration nationaler Befreiungsbewegungen ins staatliche System und nach dem prophezeitem ‚Ende der Geschichte‘ erklärte: „Auf den Sozialismus zu bestehen, bedeutet auf das Menschsein zu bestehen“. So sagte der Ministerpräsident Bülent Ecevit nach der Festnahme Öcalans 1999, dass er immer noch nicht ganz verstanden habe, warum die USA ihnen Öcalan ausgeliefert habe. Diese Worte verdeutlichen die Nebenrolle der Türkei im Internationalen Komplott. Währenddessen erklärt Öcalan in seinen Gefängnisschriften ausführlich, die er auf der Gefängnisinsel Imrali verfasste, dass er als ein ‚Antikapitalist‘ vom kapitalistischem System zur Rechenschaft gezogen wird.
Die zweite Etappe des Internationalen Komplotts
20 Jahre sind seit dem Internationalen Komplott vergangen. Die Gefangennahme Öcalans war nur eine Dimension des Konzepts gegen die PKK. Die andere Dimension war der Versuch innerhalb der PKK die sozialistische Linie, die sich in der Person Öcalans manifestierte, zurückzudrängen und liberale Elemente zu stärken, um damit eine PKK zu erschaffen, die ins Greater Middle East-Konzept der USA passt – eine PKK, die abkehrt vom Guerillakampf, einer angeblich veralteten und für den 21. Jahrhundert untauglichen Methode, und nicht mehr die Frage stellt: ‚Wie leben?‘
Das Internationale Komplott blieb erfolglos. Doch im Laufe der vergangenen 20 Jahre wurde weiter versucht die PKK zu zerschlagen. Dabei wird vor allem die Strategie verfolgt, die Führung der kurdischen Bewegung zu liquidieren und zu spalten. Parallel zum Internationalen Komplott wurden Kampagnen unter dem Motto „Ja zur PKK, nein zu Apo!“ gestartet. Diese Versuche haben im Jahr 2018 ein neues Niveau erreicht, so dass man die Phase als die zweite Etappe des Internationalen Komplotts bewerten kann. Neben den brutalen materiellen Angriffen gegen befreite Gebiete wie dem Kanton Afrin oder der gezielten Tötung des KCK-Exekutivrats Zeki Sengal im August dieses Jahres in Sindjar durch einen Drohnenangriff des türkischen Militärs auf fremden Staatsterritorium, haben wir es mit ideologischen Angriffen zu tun. Symbolisch für die zweite Etappe des Internationalen Komplotts ist die anhaltende Totalisolation Abdullah Öcalans und der Versuch seine Gefangenschaft zu normalisieren. Hinzu kommt die Entscheidung der USA, Kopfgeld auf die drei führenden Persönlichkeiten des kurdischen Freiheitskampfes Duran Kalkan, Cemil Bayik und Murat Karayilan auszusetzen. Die ersten Kommentare hinsichtlich der US-Entscheidung betonten, der USA ginge es darum, die Türkei angesichts der engen Kooperation der USA mit den kurdischen Kräften zu beruhigen.
Im Kern jedoch geht es darum am Vorbild der ‚tamilischen Lösung‘ in Sri Lanka eine militärische Lösung gegen die PKK durchzusetzen. Denn es ist die PKK mit ihrer Vision eines demokratischen Mittleren Ostens, die ein Hindernis für die kapitalistische Neugestaltung der Region darstellt. Die USA macht dabei aus ihren Absichten kein Geheimnis. So wurde bereits Mitte 2016 ein Dokument eines US-Think-Tanks veröffentlicht, in der klar eine Strategie der Liberalisierung des revolutionären Potentials Rojavas für die Region formuliert wurde. So ist die zentrale These in dem Strategiepapier, die politisch zentralen Akteure in Nordsyrien, z.B. die PYD, von der PKK und damit auch ihrem Ideengeber Öcalan zu trennen. Erfahrungen und Mechanismen damit demokratische Aufbrüche mit antikapitalistischem Anspruch im kapitalistischen Nationalstaatensystem aufgehen zu lassen hat der US-Imperialismus reichlich. Die Diffamierungskampagne gegen die PKK, das damit zusammenhängende Timing Kopfgeld in Millionenhöhe gegen drei zentrale von der kurdischen Gesellschaft angesehene Persönlichkeiten auszuschreiben oder die US-Reaktion auf das Öcalan-Banner in Rakka, das Abdullah Öcalan keine Person sei, die des Respektes würdig sei, lassen sich in diesem Kontext verorten.
Die Rolle Deutschlands
Am Internationalen Komplott, dass im Februar 1999 in die Verschleppung Öcalans mündete, wirkten neben der USA auch England, Israel, Russland, Griechenland und Deutschland mit. Während der Odyssee Öcalans durch Europa sprach Deutschland ein Einreiseverbot gegen ihn aus. Damals lag ein deutscher Haftbefehl gegen Öcalan vor, der nach geltendem Recht zu seiner Verhaftung und Auslieferung nach Deutschland hätte führen müssen. Doch das eigene Gesetz wurde missachtet und auf eine Auslieferung nach Deutschland verzichtet. Die Bundesregierung verweigerte Öcalan Asyl und gab damit das Signal, dem alle anderen europäischen Regierungen folgten. Öcalan Asyl zu gewähren oder in Deutschland vor Gericht zu stellen, hätte bedeutet, das Knäuel von historischen und sozialen Widersprüchen und Problemen mitten in das Zentrum Europas zu tragen. In dieser ‚internationalen Verschwörung‘ spielte alle beteiligte Staat also eine ganz eigene Rolle.
Auch im Jahr 2018 unterstützte Deutschland den türkischen Staat materiell im Kampf gegen die kurdische Gesellschaft, die PKK und die Idee des Demokratischen Konföderalismus. Wir kennen alle die Bilder der deutschen Leopard-Panzer in Afrin oder des roten Teppichs, mit dem Erdogan bei seinem Deutschland-Besuch in Berlin willkommen wurde. Über die wirtschaftlichen Verflechtungen Deutschlands und der Türkei wurde viel geschrieben. Deswegen möchten wir an dieser Stelle einen stärkeren Blick auf die ideologische Auseinandersetzung Deutschlands mit der kurdischen Gesellschaft und ihrer politischen Avantgarde, also der kurdischen Freiheitsbewegung, werfen.
Die Geschichte der ideologischen Angriffe begann lange vor dem PKK-Verbot, das sich 2018 zum 25. mal jährte. Der kurdische Aktivist Mehmet Demir berichtete im Gespräch mit Civaka Azad: „Der erste physische Angriff des Staates erfolgte dann 1986. Am 21. März des Vorjahres hatte sich die Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) gegründet, und zum ersten Jahrestag, der zugleich das Datum des Newrozfestes ist, sollte in der Mercatorhalle in Duisburg eine große Feier stattfinden. An diesem Tag hatten die deutschen Sicherheitskräfte die Autobahnzufahrten in die Stadt gesperrt. Die Menschen, die in Bussen zur Feier reisen wollten, wurden raus gezerrt, auf der Autobahn mit dem Gesicht nach unten zu Boden gebracht und einzeln kontrolliert. Der Grund für diesen umfassenden Angriff war, wie sich später herausstellte, ein Gerücht, wonach Abdullah Öcalan auf dieser Veranstaltung auftreten und eine Rede halten werde.“ (Informationsdossier von Civaka Azad Dezember 2018: ‚Die Geschichte kurdischer Selbstorganisierung in Deutschland‘)
Internationale Arbeitsteilung
Der Krieg und die Massaker in Kurdistan sowie die internationalen Repressionen gegen die kurdische Freiheitsbewegung werden schwerpunktmäßig im Rahmen der NATO unter dem Deckmantel ‚bilaterale‘ Beziehungen‘ und mit den Erfordernissen der NATO-Partnerschaft als Begründung organisiert. Deutschland war und ist nach wie vor Teil dieses Kriegs. So wie vor 20 Jahren beim Internationalen Komplott jeder Staat eine eigene Rolle spielte, gibt es auch während der zweiten Etappe des Komplotts wieder eine internationale Arbeitsteilung zur Schwächung und Zerschlagung der kurdischen Bewegung. Während die USA wie oben beschrieben ideologisch in den Mittleren Osten interveniert, auf die kurdische Gesellschaft versucht einzuwirken und sie von der PKK und Öcalan zu entfremden, wird der ideologische Kampf in Europa von Deutschland, dem Land mit der größten kurdischen Diaspora, vorangetrieben. Die einleitend im Artikel genannten Erfahrungsbeispiele zeigen, dass auch in Deutschland versucht wird die PKK und Öcalan, also die Vertreter einer selbstbewussten kurdischen Politik mit universell-demokratischem Anspruch, von der Gesellschaft und der Revolution in Rojava zu trennen. Es geht im Kern um dieselbe Absicht, doch die Methoden variieren. In Deutschland werden subtilere Methoden angewandt als im Mittleren Osten, z.B. Kriminalisierung, Verbote, Diffamierungskampagnen und in den letzten beiden Jahren im Kontext der Rundschreiben des Bundesinnenministeriums willkürliche Spiele mit dem deutschen Recht und der kreativen Auslegung des PKK-Verbots.
Die Stärke der kurdischen Freiheitsbewegung, die es ihr ermöglichte, alle Vernichtungskonzepte und das Internationale Komplott vor 20 Jahren zu überwinden, liegt in ihrem Vertrauen auf die eigene Stärke und in ihrer gesellschaftliche Basis. Während vor knapp einem Jahr die kapitalistische Moderne in Gestalt der Türkei die demokratischen Errungenschaften in Afrin angriff, ist die kurdische Gesellschaft nun in die Offensive getreten, um die Totalisolation auf Imrali zu brechen, was weitreichende Implikationen hat: Durch die jüngst weltweit begonnenen Hungerstreiks und andere gesellschaftliche Proteste erklärt sie klar und deutlich: „Ja zur PKK, ja zu Apo!“ Mit dieser Entschlossenheit wird sich die kurdische Gesellschaft in Nordsyrien, den anderen Teilen Kurdistans und in der Diaspora auch den drohenden türkischen Angriffen auf die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien entgegenstellen.