Anstieg der Fälle von Gewalt gegen Frauen in der Türkei
Özgür Sevgi Göral, Anwältin und Wissenschaftlerin
Mein Beitrag thematisiert die Frauen- und Ehrenmorde, die ein zentrales und dringlichstes Problem in der heutigen Türkei darstellen. Der Grund, diese Problematik als so zentral und dringlich zu kategorisieren – obwohl es zahllose weitere Probleme von Gewalt und Unterdrückung gibt, mit denen Frauen konfrontiert sind –, ist die Tatsache, dass das Recht auf Leben ein fundamentales Recht ist. Themen wie Militarismus, Nationalismus, Chauvinismus und Frauenfeindlichkeit können ebenfalls nicht verschwiegen werden, wenn Frauenmorde genau betrachtet und analysiert werden.
Lassen Sie uns mit den tragischen Fakten beginnen: In den letzten zehn Jahren wurden tausende Frauen ermordet. Die Rate der Frauenmorde stieg von 2002 bis 2009 [in der Regierungszeit der AKP, Anm. des Übers.], Angaben des Justizministeriums zufolge, um 1400?%. Im Jahr 2002 wurden 66 Frauen ermordet – im Jahr 2009 waren es 953. Es ist fast unnötig zu erwähnen, dass dies die offiziellen Zahlen sind, während die Dunkelziffer weit höher liegt – denn nicht alle Fälle werden angezeigt oder bekannt und unzählige Frauen wurden, wie z.?B. auch Gülay Yasar, in den Selbstmord gedrängt.
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2012 wurden in der Türkei 93 Frauen ermordet. Berichten von Frauenorganisationen zufolge wurden 88? % der weiblichen Opfer von Verwandten oder Bekannten ermordet. Ehegatten, Väter, Onkel, Neffen, Brüder, Liebhaber und Söhne waren die Täter. In den meisten Fällen mussten die Frauen sterben, weil sie sich scheiden lassen wollten, denjenigen heiraten wollten, den sie liebten, selbstbestimmt eine Arbeit aufnehmen oder verlassen wollten oder eine Abtreibung vornehmen wollten. Mit anderen Worten: Die Frauen wurden ermordet, weil sie über ihr eigenes Leben entscheiden wollten. Eifersucht und Ehrenmorde sind ebenfalls weit verbreitete Motive. Darüber hinaus enthüllen die Berichte einen weiteren wichtigen Aspekt: 93?% der Frauen wurden vor ihrer Ermordung misshandelt und/oder gefoltert. Tugba Genç und Mahmure Karakule sind zwei Beispiele dafür.
Es gibt mehrere Gründe für eine derart erschreckende Entwicklung: die Aufrechterhaltung einer rigiden patriarchalen Gesellschaftsstruktur in sämtlichen Bereichen des Lebens; die politische Kultur des Frauenhasses, die Frauen zu Zielen von Gewalt macht – insbesondere auch dadurch, dass ermordete Frauen als promiskuitiv, unmoralisch oder lügnerisch angegriffen werden; militaristische, nationalistische, chauvinistische und machistische Praktiken, die in der gesamten Gesellschaft verankert sind und natürlich auch die mangelnde staatliche Intervention zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen.
Umfassende Konzepte zum Schutz von Frauen sind notwendig
Die Regierung hat zwar am 8. März ein »Gesetz zum Schutze von Frauen und Familienmitgliedern« etabliert, einige Fernsehspots, die die Gewalt an Frauen verurteilen lanciert und Mechanismen wie »Panik-Knöpfe« installiert. Um die Ursachen verändern zu können, müssten aber weit tiefergreifende und umfassendere Konzepte angewandt werden. Frauenmorde sind in der Türkei zwangsläufig mit der Weltanschauung der Dominanz und Überlegenheit des Mannes verknüpft, der zufolge Männer und Frauen unterschiedlicher Natur sind. Konzepte der Gleichberechtigung würden diese Weltanschauung überwinden. Wenn die Gleichberechtigung der Geschlechter jedoch auf Basis dieser Argumentation verweigert wird, so bedeutet dies die Festschreibung des Status quo der Überlegenheit des Mannes für die Ewigkeit. Demzufolge können außer leichten Verbesserungen der Situation keine fundamentalen Verbesserungen umgesetzt werden. Auf eine solche Weise kann dann zwar Gewalt gegen Frauen formal verurteilt werden – solange jedoch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen nicht als Daseinsform akzeptiert und umgesetzt wird, sind das Leben der Frauen, ihr Körper, ihr Wohlbefinden und ihr Wohlstand von der Güte, Toleranz und der persönlichen Ethik der männlichen Bevölkerung abhängig. Unglücklicherweise ist es, völlig unabhängig vom Willen der politischen Subjekte, von der Ideologie der natürlichen Ungleichheit von Frauen und Männern zur Legitimierung von Gewalt gegen Frauen nur ein Schritt.
Lassen Sie mich einige Beispiele dafür benennen. Wie bereits geschildert, werden Frauen den Berichten zufolge wegen Entscheidungen über ihr eigenes Leben wie z.?B. Scheidung, Ehe, jemanden treffen, Erziehung ermordet. In den meisten Fällen lehnt einer der Männer aus der Familie eine der Entscheidungen der Frau ab und tötet sie dann, wenn sie sich nicht seinem Willen unterordnet. Die Legitimität wird mit dem Widersetzen der Frau gegen die »Anordnung« des Täters begründet. Der Mythos der »untertänigen« Frau entstammt der o.?g. unegalitären Sichtweise, die den Mann als übergeordnet festschreibt. Wenn auch Vertreter des Staates diese unegalitäre Sichtweise leben, vertreten und verkörpern, dann wird es sehr schwierig, wirkungsvolle Mechanismen zum Schutz der Frauen umzusetzen.
Staatliche Institutionen bieten keinen ausreichenden Schutz für Frauen
Ich muss dabei noch einmal betonen: In den meisten Fällen haben sich die Frauen vor den Morden an die Polizei oder Gerichte gewandt, um zu versuchen, sich zu schützen. Die »Verantwortlichen« schickten sie jedoch in sämtlichen Fällen mit der Begründung, dass Konflikte normal seien, sie nicht übertreiben sollten, oder um die Haushalte nicht zu desintegrieren oder die Kinder in formal »intakten« Familien aufwachsen zu lassen, wieder nach Hause. Als Folge davon wurden die Frauen direkt zu Mordopfern. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Staat keine effektiven Schutzmechanismen kennt und anwendet. Auch die Statistiken zeigen das deutlich: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2012 standen 75?% der ermordeten Frauen technisch gesehen unter anderem in der oben genannten Weise unter staatlichem Schutz. Auch Frauen, die nach Schutz fragen und sich in »Frauenschutzhäusern« aufhalten, sind keinesfalls sicher. 37?% der sich dort aufhaltenden Frauen wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres 2012 ermordet. Die Entscheidungen der Gerichte sind ebenfalls zu kritisieren; in nahezu sämtlichen Fällen von Frauenmorden bekamen die Täter einen Strafnachlass, wenn sie sich darauf beriefen, dass sie sich durch die Immoralität der ermordeten Frauen provoziert gefühlt hätten. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass das gleiche Argument bei Straftaten gegen lesbische, schwule und transsexuelle Menschen zur Reduzierung des Strafmaßes führt. Auf diese Weise wird die Grundlage für die Straflosigkeit oder geringe Bestrafung für Mord in diesen Fällen gelegt.
Institutionelle Ungleichberichtigung muss überwunden werden
Um Gewalt gegen Frauen und insbesondere Frauenmorde zu bekämpfen, ist es notwendig, Schutzräume für Frauen einzurichten, eine justiziable Praxis umzusetzen, die die Täter nicht schützt, und effektive und ernst gemeinte Wege und Mechanismen zum Schutz der Frauen auf breiter gesellschaftlicher Basis einzuführen. In diesem Zusammenhang müssen der Staat und die Akteure der Zivilgesellschaft gemeinsam sämtliche politischen, sozialen und kulturellen Vorurteile und Diskurse bekämpfen, die auf der Grundlage der Ideologie der männlichen Dominanz und des Patriarchats beruhen. Auch die institutionelle Ungleichberechtigung muss in diesem Rahmen überwunden werden.
Ich muss hinzufügen, dass sich bereits sehr lange politische, zivile und soziale Akteure neben den staatlichen Institutionen gegen Frauenmorde engagieren. So nehmen z.?B. bekannte Filmschauspielerinnen an Demonstrationen teil – und eine Vielzahl von Frauenorganisationen unterschiedlicher politischer Ausrichtung arbeitet zum Teil auch gemeinsam daran, diese Morde zu verhindern. Der Raum für die öffentliche Diskussion zu dem Thema hat sich in den letzten drei Jahren ausgeweitet. Trotzdem werden der Inhalt und die Terminologie des Diskurses von türkischem Nationalismus, Militarismus und Chauvinismus negativ beeinflusst.
Morde können nicht ausschließlich auf die Rückständigkeit einer Bevölkerungsgruppe reduziert werden
Als die Frauenmorde öffentlich diskutiert wurden, war dies anfangs eng mit der kurdischen Bevölkerung verknüpft. Begründet wurde das damit, dass die Frauenmorde mit Unterentwicklung und Ignoranz und einer spezifischen Kultur und Tradition zusammenhingen – und deshalb hauptsächlich von Kurden begangen würden, die in ihrer Entwicklung zurückgeblieben wären. In Zusammenhang mit dieser Argumentation sprach man dann von Ehrenmorden.
Auch wenn einige Morde im Namen der Ehre begangen werden, beschränkt diese Sichtweise die Bandbreite der Frauenmorde. Ich möchte hier keine Einführungsveranstaltung in Feminismus abhalten – aber es ist faktisch richtig, dass Frauen unabhängig von ihrer Klasse, ihrem ethnischen Ursprung, ihrer religiösen Überzeugung und ihrer sozialen Herkunft mit Gewalt konfrontiert sind. Diese Morde können nicht ausschließlich auf die Rückständigkeit einer Bevölkerungsgruppe reduziert werden, da auch »gebildete« Männer derartige Straftaten begehen. Die Opfer leben über die gesamte Türkei verteilt, in unterschiedlichen ökonomischen Verhältnissen und unterschiedlichen Lebensstilen. Sie sind sämtlich Opfer von Gewalt. Der Mord an Münevver Karabulut ist eines der Beispiele dieser »Vielfalt«. Die 18-jährige junge Frau wurde von Cem Garipoglu, dem Sohn einer bekannten Istanbuler Familie der Oberschicht, in Istanbul gefoltert und ermordet. Er schnitt ihren Kopf ab und warf ihn in den Mülleimer. Im Verlauf der Gerichtsverhandlung kam ans Tageslicht, dass die Eltern des Täters ihrem Sohn bei dem Verwischen der Spuren behilflich gewesen waren. Es gibt eine Vielzahl von Fällen von Frauenmorden, die von Tätern aus der Mittelschicht oder der oberen Mittelschicht begangen wurden, von gebildeten und sozial anerkannten Männern. Das zeigt, dass es sich bei Frauenmorden nicht um ein Phänomen, das auf Traditionen vormoderner Gesellschaften beruht, sondern um eines, das auch die Moderne par excellence widerspiegelt, handelt.
Zudem sind Frauenmorde eher enger mit politischen Herangehensweisen als mit der Kultur an sich verknüpft. Ich zitiere dazu eine feministische Wissenschaftlerin*: »Ich sage nicht, dass kulturelle Traditionen nicht bestehen – und ebenfalls behaupte ich nicht, dass Menschen ihren Handlungen nicht auch dadurch einen Sinn geben, dass sie sich auf Traditionen berufen oder diese entwickeln. Ich denke viel eher, dass jede Ausprägung von Traditionen auch eine Wechselbeziehung mit der Verteilung von Macht und somit auch mit der Politik hat. Die gleichen Traditionen können in unterschiedlichen politischen Atmosphären auf völlig unterschiedliche Art und Weise gelebt und weiterentwickelt werden und somit völlig verschiedene Wirkungen entfalten.« Das spricht eindeutig dafür, die Gleichberechtigung der Geschlechter als Perspektive zu unterstützen.
Die Ethnisierung der Morde stigmatisiert die kurdische Bevölkerung als rückwärts orientiert
Ein weiteres Problem mit der Reduzierung der Frauenmorde auf den Zusammenhang mit Tradition im Zusammenhang mit den KurdInnen ist die offensichtlich rassistische Herangehensweise dieses Ansatzes. Die Ethnisierung der Morde stigmatisiert die kurdische Bevölkerung als rückwärts orientiert und grundsätzlich kriminell veranlagt und gewalttätig. Zusätzlich werden dadurch die türkische und die kurdische Bevölkerung ideologisch voneinander separiert. Die türkische Gesellschaft wird als »unschuldig« im Zusammenhang mit den Frauenmorden betrachtet und muss sich demzufolge weniger mit der Notwendigkeit sozialen Wandels auseinandersetzen. Zudem werden Reformen des Staatsapparates usw. plötzlich aufgrund dessen als unnötig deklariert. Die kurdische Frauenbewegung muss nun schon eine sehr lange Zeit, in Zusammenarbeit mit weiteren feministischen Organisationen, gegen diese rassistische und diskriminierende Herangehensweise kämpfen. Diese Herangehensweise wird auch sehr ähnlich in der Ethnisierung von Kriminalitätsraten, der Stadtpolitik und Fragen der Arbeit praktiziert. Auf den Punkt gebracht, wird jedes politische Problem in stigmatisierender Art und mit den immer gleichen Stereotypen mehr oder weniger stark mit der kurdischen Bevölkerung verknüpft. Dadurch wird institutionell ein kultureller und politischer Alltagsrassismus erzeugt, der die Öffentlichkeit entscheidend beeinflusst.
Ich denke, dass dieses rassistische Vorgehen untrennbar mit der kurdischen Frage in ihrer humanen, politischen und sozialen Ausprägung verbunden ist. Der seit 30 Jahren andauernde Krieg hat die Gestalt unserer Leben lange Zeit entscheidend mitgeprägt. Staatlicherseits, von den Mainstreammedien und weiteren politischen Akteuren wurden Gewalt, Militarismus, Nationalismus, die Ideologie der türkischen Überlegenheit sowie Rassismus, Chauvinismus und struktureller Frauenhass in der Praxis und in den Diskursen kreiert und propagiert. Wir haben die Angewohnheit, die Bilder der Gewalt alltäglich in Form der Anzahl von Verlusten im Krieg zu sehen. Gewalt wurde systematisch in die Gesellschaft getragen – ein politischer und gesellschaftlicher Ausnahmezustand ist allgegenwärtig. Unser tägliches Leben wurde durch ein derart hohes Ausmaß von Gewalt gegen die »Widerständigen/Ungehorsamen« politisch vergiftet. Gleichermaßen sind auch Gewalt gegen Frauen und Frauenmorde mit diesem politischen Ansatz der Vernichtung der »Widerständigen/Ungehorsamen« verknüpft. Ich will damit nicht sagen, dass diese Aspekte austauschbar und vergleichbar sind. Es ist aber eine unübersehbare Tatsache, dass die genannten Vorgehensweisen jeweils ihren Ursprung in Herangehensweisen der Vernichtung im Umgang miteinander in Konfliktsituationen haben.
Lassen Sie uns also die berühmte Frage stellen: Was muss getan werden?
Zuerst sollten wir breitere und stärkere Bündnisse gegen Frauenmorde bilden – das beinhaltet eine Anzahl politischer Organisationen. Anstatt orientalistische Sichtweisen, die die Tradition betonen, zu stärken und zu verbreiten, sollte die »internationale Gemeinschaft« die Solidarität unter den Frauenorganisationen stärken und unterstützen, während sie gleichzeitig die Regierungen unter Druck setzt, ernsthaftere Schritte gegen jede Form der Gewalt gegen Frauen zu unternehmen. Wir brauchen zudem mehr Unterstützung auf nationaler und internationaler Ebene sowie mehr rechtliche, administrative und soziale Mechanismen zur Verhinderung von Frauenmorden.
Kurdistan Report Nr. 165 Januar/Februar 2013