Widersprüche in der türkischen Politik

Eine Fußnote zum Erdogan-Besuch von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

Seit geraumer Zeit scheinen die beiden führenden Staatsmänner der Türkei Abdullah Gül und Recep Tayip Erdogan nicht mehr einer Meinung zu sein. Dies scheint sich auch in den Aussagen über den Hungerstreik der kurdischen politischen Gefangenen, der seit dem 12. September andauert, widerzuspiegeln. Während der türkische Ministerpräsident Erdogan am vergangen Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Berlin die Existenz eines Hungerstreiks abstritt, und meinte: „So etwas gibt es nicht. Dies ist alles nur Show“, äußerte Staatspräsident Gül zur selben Zeit in einem Gespräch mit einem Gewerkschaftsvertreter, dass es sich bei dem Hungerstreik um ein sehr wichtiges Thema handele; „darum muss sich gekümmert werden, ansonsten wird die Lösung in eine noch weitere Ferne gerückt werden.Ich verfolge diese Angelegenheit aus der Nähe.

Zur gleichen Zeit traf sich der türkische Justizminister Ergin mit seiner deutschen Amtskollegin in Ankara. Auf die Nachfrage von Leutheusser-Schnarrenberger zur aktuellen Situation der Hungerstreiks antwortete Ergin: „Es befinden sich aktuell 683 Gefangene in 66 verschiedenen Gefängnissen im Hungerstreik.“ Zwei Tage davor hatte sich Erdogan, nach 48 Tagen Hungerstreik zum ersten Mal dazu geäußert. „Es gibt niemanden der hungert. Der Justizminister ist dort gewesen. Niemand hungert, jeder isst alles“, antwortete Erdogan auf die Frage eines Journalisten.

Paradoxerweise spricht derselbe Justizminister nicht nur von einem Hungerstreik, er nennt überdies die genau Anzahl der Hungerstreikenden. Staatspräsident Gül betont die Ernsthaftigkeit der Lage und ruft zur Auseinandersetzung mit dem Hungerstreik auf. Nur Erdogan möchte von all dem nichts wissen. Indessen macht sich Erdogan durch solche Aussagen zum Gespött der türkischen Medien, wie „Die Welt“ in ihrer gestrigen Ausgabe berichtet. Mittlerweile berichtet auch die Weltöffentlichkeit im großen Umfang von dem Hungerstreik der kurdischen politischen Gefangenen. Internationale Organisationen wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty Internation und die ärztliche Weltfriedensorganisation IPPNW rufen die türkische Regierung zur Einleitung von dringenden Schritten auf.

Schon früher hatte Erdogan, kurz nach dem ersten Wahlsieg der AKP auf einer Auslandsreise in Moskau (im Dezember 2002) auf die Frage eines russischen Exilkurden, wie er denn gedenke die kurdische Frage zu lösen, geantwortet: „Wenn du denkst, es gibt keine Kurdenproblematik, dann gibt es eben auch keine Kurdenproblematik.“ Bereits zu dieser Zeit vermittelte Erdogan in seiner Mentalität die Denkweise, wenn du es nicht siehst, dann ist es auch nicht da. Beziehungsweise auf den gegenwärtigen Fall bezogen, wenn du sagst, das gibt es nicht, dann gibt es das auch nicht.
Wie lange wird Erdogan an seiner ignoranten Haltung festhalten? Wie lange wird der türkische Ministerpräsident dem Hungerstreik von den politischen Gefangenen weiter tatenlos zusehen? Wann wird Erdogan dem Druck der Weltöffentlichkeit beigeben müssen?
In Brüssel ist für morgen eine Großdemonstration aus Solidarität mit den Hungerstreikenden angesetzt. Es werden zehntausende Menschen aus ganz Europa erwartet. Ebenfalls in zahlreichen Städten der Türkei und Nordkurdistans soll es am morgigen Tag zu massenhaften Protestaktionen kommen. Unterdessen gab das dem Ministerpräsidenten direkt unterliegende Gouvernement der Stadt Amed (Diyarbakir) bekannt, dass die für morgen angekündigte Großkundgebung verboten wurde. Die BDP (Partei für Frieden und Demokratie) rechnet trotzdem mit zehntausenden Menschen bei dem Protest für die Hungerstreikenden, denn die Forderungen der Gefangenen sind ihre Forderungen.

Schreibe einen Kommentar