Wir Frauen vertrauen uns selbst …

kadin konferansiAbschlussresolution der 1. Frauenkonferenz des Mittleren Ostens
Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V., Düsseldorf, 4. Juni 2013

Vom 31. Mai bis zum 2. Juni fand in Amed (Diyarbakir) die 1. Frauenkonferenz des Mittleren Ostens statt. Die von der DÖKH (Demokratische Freie Frauenbewegung) organisierte Veranstaltung stand unter dem Motto »Jin, Jiyan, Azadî« (Frauen, Leben, Freiheit) und war den drei am 9. Januar in Paris ermordeten kurdischen Politikerinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez gewidmet. Drei Tage diskutierten 250 Frauen aus 26 Ländern des Mittleren Ostens sowie Nordafrikas über ihre Erfahrungen und Perspektiven im Kampf für die Befreiung vom patriarchalen Herrschaftssystem und über die aktuellen politischen Entwicklungen in der Region.

Am zweiten Tag der Konferenz wurde im Namen der Teilnehmerinnen mit einer vor dem Tagungsort verlesenen Presseerklärung die Polizeigewalt in Istanbul verurteilt. »Der Taksim-Platz gehört allen«, hieß es in der Erklärung: »Die Angriffe richten sich gegen demokratisch legitimierte Rechte der Bevölkerung, wie das Recht auf Protest und Einspruch. Wir Frauen unterstützen alle Menschen, die sich für Bäume, die Natur und das Recht zu atmen einsetzen.«

Am Ende der dreitägigen Konferenz hielt die Korsitzende der BDP Gültan Kisanak im Namen der Delegierten eine Rede, in der sie darauf hinwies, der Zweck der Konferenz sei die Stärkung der internationalen Solidarität und des gemeinsamen Kampfes »fernab des westlich-orientalistischen Blickwinkels« gewesen: »Wir danken der DÖKH dafür, dass sie uns zusammengebracht hat, und wir grüßen den Hohen Rat der Frauenbewegung Kurdistans KJB, der revolutionäre Veränderungen im Frauenbefreiungskampf initiiert hat. In diesem Sinne betrachten wir auch diese Konferenz als ein Ergebnis des Kampfes kurdischer Frauen.«

Zu den im Mittleren Osten und in Nordafrika stattfindenden Entwicklungen erklärte Gültan Kisanak: »Für uns Frauen birgt diese kritische Phase sowohl neue Möglichkeiten als auch Risiken. Wir tragen die historische Verantwortung, uns in diesen Veränderungsprozess organisiert und richtungsweisend einzubringen.«

In der anschließend verlesenen Abschlussresolution heißt es: »Wir werden ein Kommunikationsnetzwerk für alle Konferenzteilnehmerinnen aufbauen. Um unsere Zusammenarbeit zu stärken, wird bis zur Durchführung der zweiten Konferenz eine rotierende Koordinationsgruppe die Kommunikation und die politische Solidarität zwischen den Delegierten gewährleisten.

Wir werden eine Beobachtungsgruppe für die Flüchtlingslager zusammenstellen, in denen vor dem Krieg in Syrien geflohene Frauen leben.

Auch Frauen sind von den Veränderungen im Mittleren Osten und Nordafrika betroffen. Sie beteiligen sich aktiv an den stattfindenden Kämpfen. Aber bei jedem Machtwechsel werden die Rechte von Frauen weiter abgebaut. In Kollaboration mit dem patriarchalen Herrschaftssystem werden Gewalt, Übergriffe und Vergewaltigungen als Mittel eingesetzt, um uns Frauen aus dem politischen und öffentlichen Bereich und den Entscheidungsgremien rauszudrängen. Unser Geschichtsbewusstsein und unsere Erfahrungen zeigen, dass radikale Religiosität und auf der Vorstellung eines monistischen Nationalstaates beruhender Laizismus zu den grundlegenden Gefahren für die Freiheit von Frauen gehören. Ein Hauptthema unseres Kampfes ist deshalb, unseren Kampf gegen diese beiden Modelle zu verstärken und den gegenwärtigen Veränderungsprozess in eine Frauenrevolution umzuwandeln. Keine Ideologie, Religion oder Glaubensrichtung darf als Druckmittel gegen Frauen verwendet werden. Die Wahl einer Frau bezüglich ihrer Lebensweise oder ihrer Kleidung darf zu keiner Form von Diskriminierung führen oder ihre sozialen, politischen, Bildungs-oder Arbeitsrechte einschränken.

Wir erklären, dass wir gegen Vergewaltigung, Steinigung, weibliche Genitalverstümmelung, Frauenmorde, staatliche und patriarchale Männergewalt gegen Frauen kämpfen werden, genauso wie gegen die neoliberale Politik, die Frauen in ungesicherte Arbeitsverhältnisse drängt. Wir teilen außerdem mit, dass wir gemeinsame Aktivitäten starten werden, um eine internationale Öffentlichkeit zur Unterstützung von Frauen herzustellen, die von der Todesstrafe bedroht sind. Gemeinsam werden wir gegen Folter und Misshandlungen in Haft kämpfen.

Wir stellen uns gegen jede Form der Diskriminierung aufgrund von ethnischer Herkunft, Ideologie, religiöser Überzeugung, sexueller Identität und Orientierung. Auch die Rechte derjenigen ohne religiöse Überzeugung müssen verteidigt werden. Alle Völker haben das Recht, ihre Muttersprache zu bewahren und zu verteidigen. Das Recht auf Bildung und Leben in der Muttersprache gehören zu den Forderungen von Frauen.

Wir sind gegen jede Form von Besatzung und äußerer Intervention. Wir glauben daran, dass nationale und soziale Kämpfe nicht von dem Kampf für Frauenrechte getrennt werden können und dass diese Kämpfe zusammen geführt werden müssen.

Wir lehnen das mono-nationalstaatliche Modell ab und schlagen ein demokratisch-pluralistisches Nationenmodell vor. Gegen die imperialistische Politik kämpfen wir für die Geschwisterlichkeit der Völker. Der Kampf gegen Faschismus und jede Art der Diktatur gehört zu unserer Grundhaltung.

Wir erklären, dass wir bis zur Freilassung aller aus politischen Gründen inhaftierten Frauen, die sich in den auf der Konferenz vertretenen Ländern für unsere Rechte, unsere Freiheit und Demokratie einsetzen, auf politischer, juristischer und demokratischer Ebene weiterkämpfen werden. Wir rufen die Regierungen dazu auf, diese Gefangenen unverzüglich freizulassen.

Wir erklären hiermit den 9. Januar, an dem die kurdischen Politikerinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez in Paris ermordet wurden, im Gedenken an alle Frauen, die in den auf der Konferenz vertretenen Regionen im politischen Kampf ihr Leben verloren haben, zum gemeinsamen Aktionstag gegen politische Morde.

Als Frauen meinen wir, dass Friedensverhandlungen nicht zu einem wirklichen Friedensaufbau führen können, wenn nicht eine gleiche und auf Geschlechtergleichberechtigung beruhende Vertretung von Frauen gewährleistet ist. Deshalb laden wir alle Frauen ein, verstärkt für die Repräsentation von Frauen in Friedensverhandlungen zu kämpfen. Wir unterstützen die Friedensgespräche, die zwischen Abdullah Öcalan als Vertreter des kurdischen Volkes und dem türkischen Staat eingeleitet wurden. Wir erklären, dass wir uns einsetzen werden, damit aus diesen Verhandlungen Resultate hervorgehen, die den Freiheitsforderungen des kurdischen Volkes entsprechen. Wir fordern Freiheit für Abdullah Öcalan. Wir unterstützen den Kampf um Rechte und Freiheit in Kurdistan, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von vier Staaten kolonialisiert wurde.

Wir Frauen betrachten die Frage der Befreiung des kurdischen und des palästinensischen Volkes und der palästinensischen Flüchtlinge als Hauptprobleme im Mittleren Osten. Ohne die Freiheit dieser beiden Völker kann es in der Region keinen wirklichen Frieden geben. Wir unterstützen den Befreiungskampf des palästinensischen und des kurdischen Volkes und aller anderen Völker. Wir erinnern an das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Wir erklären, dass wir den Kampf des palästinensischen Volkes für das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und die Befreiung des palästinensischen Territoriums gegen den Zionismus unterstützen.

Wir fordern die Freilassung der kurdischen politischen Gefangenen Zeynep Celaliyan; der tunesischen Aktivistin Amina, die inhaftiert wurde, weil sie sagte »mein Körper gehört mir«; der palästinensischen Anführer Ahmad Sa´adat und Marwan Barghuthi sowie des Menschenrechtsaktivisten Abdulhadi al-Khawaja aus Bahrein.

Als Frauen lehnen wir politisch, ideologisch und ethnisch begründete Diskriminierung hinsichtlich der Rechte und Freiheit von Frauen ab. Wir erklären, dass wir unabhängig von der politischen Meinung und ideologischen Herangehensweise gemeinsam gegen unsere gemeinsamen Probleme kämpfen werden, mit denen wir aufgrund unseres Frauseins konfrontiert sind.

Deshalb werden wir zeitgleich eine gemeinsame Kampagne gegen staatliche und patriarchale Gewalt durchführen, um damit die gegen Frauen gerichtete Gewalt im öffentlichen und privaten Raum sichtbar und bekannt zu machen. Als Zeitpunkt schlagen wir den 25. November vor, den Kampftag gegen Gewalt an Frauen.

Wir werden uns auch gegen die Zerstörung der Natur und unserer kulturellen Geschichte durch Besatzung und Krieg stellen.

Die Konferenz stellt für uns Frauen eine neue Ausgangsbasis für einen internationalen gemeinsamen Kampf gegen die Herrschenden, die Diktatoren und das patriarchale Herrschaftssystem dar. Es liegt an uns, diese Grundlage kontinuierlich zu stärken. Wir Frauen vertrauen uns selbst und wir sagen, dass es Frauen sein werden, die dieser Region den Frieden bringen.«

Stellungnahmen zur ersten Frauenkonferenz des Mittleren Ostens der DÖKH

Aysel Tugluk, Kovorsitzende des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK), Amed:
»Als Frauen mögen wir vielleicht an verschiedenen Orten leben, doch unsere Probleme sind die gleichen. Es ist wichtig, dies im Hinblick auf die Zukunft richtig zu analysieren. Was wir als kurdische Frauen erreicht haben, haben wir durch den Kampf erreicht. Denn die bisherigen Gesellschaftssysteme basieren auf der Leugnung der Frau. Wir haben dieses System als kurdische Frauen ernsthaft hinterfragt und unseren Widerstand auf dieser Kritik aufgebaut. So haben wir eine Frauenideologie geschaffen.«

Rabab Ibrahim Abdulhadi, Dozentin an der San Francisco State University und Gewinnerin des Nationalen Arabisch-Amerikanischen Buchpreises 2012, Palästinenserin:
»Dass Frauen aktiv am palästinensischen Kampf teilnehmen, hat auch die Situation der palästinensischen Frau weitergebracht. Frauen haben mehr Rechte im juristischen Sinne erlangt. Beispielsweise haben wir erreicht, dass eine alleinerziehende Frau ihrem Kind ihre nationale Identität weitergeben kann. Zudem gibt es in unserem Vorstand genauso viele Frauen wie im US-Kongress. Aus diesem Grund haben palästinensische Frauen durch ihre Teilnahme am Freiheitskampf auch ihren Rechten als Frauen ernsthaft einen Weg gebahnt. Wenn wir uns die Situation der Frauen in dieser Region anschauen, sehen wir eine extrem ungerechte Machtverteilung. Doch die kurdische Frauenbewegung in dem von der Türkei kolonialisierten Kurdistan ist äußerst weit entwickelt in dieser Hinsicht. Gleichzeitig haben die kurdischen Frauen sich in vielen Bereichen weit entwickelt, beispielsweise vieles auf bemerkenswerte Art und Weise analysiert. Wie die kurdischen Frauen wissen die palästinensischen Frauen genau, was sie wollen und dass sie dafür kämpfen müssen. Sie sind sich des politischen Kontexts bewusst, dass Kinder in Gefängnisse gesteckt und Menschen getötet werden. Diese Art von Konferenzen und Tagungen sind Orte, an denen den Stimmen von Frauen Gehör verschafft wird. Frauen schweigen in Anwesenheit von Autoritätspersonen, also von Männern. Der Ort, an dem die Frau dem Mann sagen kann: ›Stopp, hier haben wir das Sagen‹, ist der Ort, an dem die Frau gestärkt wird.«

Malalai Joya, afghanische Aktivistin, Autorin und ehemalige Parlamentarierin, Afghanistan:
»Es war für mich sehr wertvoll, für die afghanischen Frauen, die entsetzliches Leid ertragen müssen, hierherzukommen. Außerdem war es für mich eine Quelle der Inspiration, den Kampf der kurdischen Frau kennenzulernen.
In Afghanistan gibt es gesetzlich drei politische Strukturen. Sie alle sprechen die Sprache des Islams und bauen auf dem Islam auf. Aus diesem Grund decken auch diese Strukturen, wie überall sonst auf der Welt, die Verbrechen an Frauen in der Partnerschaft. Seit kurzem wird versucht, einige Änderungen am Gesetz vorzunehmen. All diese Änderungen sind gegen Frauen gerichtet. Eine der wichtigsten ist das Herabsetzen des legalen Heiratsalters von achtzehn Jahren auf neun Jahre. Sie versuchen, Zwangsehen legitim aussehen zu lassen. Sie versuchen es wieder zu legalisieren, dass ein Mann vier Ehefrauen haben kann. Tatsächlich zeugen diese Entwicklungen von Faschismus und der Gewalt an Frauen. Die Türkei hilft diesen korrupten Gruppen in Afghanistan. Aus diesem Grunde sind wir sehr glücklich, wenn wir die freundschaftliche kurdische Opposition in der Türkei sehen, die ebenfalls nach Freiheit strebt. Wenn sich Regierungen gegen uns richten, müssen wir uns gegen sie mobilisieren. (…) Ich glaube nicht, dass die US-Streitkräfte im Jahr 2014 abziehen werden. Sie versuchen nun, die Taliban für den Frieden einzusetzen. Doch dieser Nachkriegszustand wird in Afghanistan eine schrecklichere Phase als den Krieg hervorrufen. Wenn die Taliban an die Macht kommen, geraten Frauen zwischen die Fronten zweier blutiger Mächte. (…) Diese Konferenz ist wichtig, um ein globales Netzwerk zu kreieren. Das ist mir wichtig. Wir müssen sowohl die Solidarität zwischen uns wie auch unsere Verbindungen mit der Außenwelt stärken.«

Hamide Yüksel, Aktivistin der Bewegung Demokratischer Freier Frauen (DÖKH), Amed:
»Wir haben diese Konferenz organisiert, um die einzigartigen Fragen der Frauen zu diskutieren, und wir haben unser Ziel erreicht. Auch wenn wir in verschiedenen Regionen leben, unsere Sprachen und Hautfarben unterschiedlich sind, gibt es Elemente, die uns als Frauen zusammenbringen. Wir wollten uns zusammenschließen, um gemeinsame Lösungen zu finden, um eine Einheit zu formen. Für den Austausch von Erfahrungen von Frauen im Mittleren Osten war die Konferenz in jeder Hinsicht sehr produktiv.«

Fatma Gök, Kovorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Istanbul:
»Ich denke, dass sich die Frauen nach der Konferenz besser verstanden haben. Diese historische und wichtige Konferenz hat alle Völker Mesopotamiens und Anatoliens zusammengebracht. Der Mittlere Osten ist eine Region voller Besatzung und Zerstörung. Ich finde diese Konferenz wichtig, weil sie dazu beigetragen hat, den Widerstand der Frauen zu vereinen, um damit die verschiedenen Methoden, mit denen Frauen in dieser Region unterdrückt werden, aufzuheben.«

Hüda Kaya, Schriftstellerin, Antikapitalistische Muslime, Ankara:
»Frauen im Mittleren Osten haben viele ernste Probleme. Das Mittelalter, in dem Frauen als ›Hexen‹ verbrannt wurden, unterscheidet sich kaum von den heutigen Verbrechen an Frauen unter Konzepten wie ›Ehre‹ oder ›Ehrenmord‹. (…) Hätten Frauen größeren Anteil an der Konstruktion unserer Welt gehabt, wäre sie nicht in diesem Zustand. Durch diese Konferenz habe ich mehr Hoffnung für den Mittleren Osten geschöpft.«

Isaac Samiaran, Mitglied der Assyrischen Demokratischen Union, Schweden:
»Das Christentum hat eine wichtige Rolle beim Aufstand des assyrischen Volkes gespielt. Am meisten sind Frauen von der fortlaufenden Unterdrückung des assyrischen Volkes betroffen. Der Druck des Osmanischen Reiches auf die Völker in Mesopotamien hat die Frau marginalisiert. Nicht nur Kurdinnen, sondern viele weitere Frauen, die Volksgruppen und Glaubensrichtungen angehörten wie der armenischen und assyrischen, fielen religiöser Unterdrückung zum Opfer.«

Quelle: Kurdistan Report Nr. 168 Juli/August 2013

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