Nach der Vielzahl von Anschlägen in den letzten Tagen in Syrien und im Irak stellt sich vielen die Frage, ob diese Angriffe ein Comeback des IS ankündigen oder andere Faktoren hinter der Zunahme der Angriffe stehen.
Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) hatten im März 2019 mit der Befreiung von al-Bagouz die Territorialherrschaft des selbsternannten Kalifats beendet. Auch wenn Tausende IS-Dschihadisten festgenommen werden konnten, bildeten sich im Irak und Syrien Untergrundstrukturen aus. In Distrikten wie Deir ez-Zor, Raqqa und Hama in Syrien und Kerkûk, Bagdad und Anbar im Irak führen diese Netzwerke immer wieder Angriffe durch. Die Frequenz und Qualität dieser Angriffe hat in den letzten Tagen deutlich zugenommen.
Dutzende Anschläge seit Anfang Dezember
Seit Dezember 2020 hat der IS acht Anschläge in Deir ez-Zor, acht in Raqqa, zehn in Hama, fünf in Homs und zwei in der Umgebung von Aleppo verübt. Kurz vor dem Jahreswechsel fand der blutigste Angriff des IS statt, bei dem mindestens 28 Soldaten des Regimes auf der Straße zwischen Deir ez-Zor und Palmyra massakriert wurden. Die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) spricht darüber hinaus von Dutzenden bei IS-Angriffen in der Wüste bei Hama getöteten Soldaten und Milizionären des Regimes.
Damaskus unternimmt nichts Ernsthaftes gegen den IS
Die Anwesenheit des „Islamischen Statt” (IS) in der Wüste im Westen von Deir ez-Zor, also in dem Gebiet unter der Kontrolle des Assad-Regimes, war niemals ein Geheimnis. Das Regime in Damaskus und seine Unterstützer haben jedoch niemals einen ernsthaften Kampf gegen die IS-Präsenz dort geführt. Beobachtern zufolge ist das dem Plan geschuldet, die von den USA unterstützten Gruppen in der Region Tanef an der jordanischen Grenze unter Druck zu setzen. Darüber hinaus führt die Tatsache, dass diese Region auf der Route nach Bukemal liegt, dem Hauptweg iranischer Milizen in den Irak, zu verschiedensten Spekulationen.
Die Rolle der Türkei bei der Wiederbelebung des IS
Der größte Faktor, der zum Wiedererstarken des IS führte, war die Invasion des türkischen Staates in Nordsyrien. Mit der Invasion zogen sich viele IS-Mitglieder in die Gebiete unter türkischer Herrschaft zurück. Viele von ihnen sind mit Hilfe der Türkei aus den Internierungslagern und Gefängnissen in Nordsyrien ausgebrochen. Die Präsenz und die Reorganisierung des IS in den Gebieten unter türkischer Kontrolle ist ein offenes Geheimnis.
Operationen der QSD gehen weiter
Die QSD setzten auf gezielte Operationen gegen die IS-Netzwerke und konnten immer wieder Zellen insbesondere in der Region Deir ez-Zor ausheben. Im Jahr 2020 fanden zwei großangelegte QSD-Operationen und 25 gezielte Operationen gegen IS-Zellen in den Distrikten Deir ez-Zor und Raqqa statt. Dabei wurden Hunderte mutmaßliche IS-Mitglieder festgenommen und große Mengen an Waffen beschlagnahmt.
Gebiete unter Kontrolle des IS
Siyamend Elî, Presseverantwortlicher der YPG, erklärt gegenüber ANF, der IS sei an den Orten, an denen er jetzt diese Angriffe ausführe, von verschiedenen Kräften, die in Syrien Politik machen, geduldet worden: „Nachdem der IS in al-Bagouz zerschlagen worden war, existierte er vor allem in al-Bukamal, Deir ez-Zor, Palmyra und Hama weiter. Tatsächlich haben einige Kräfte dem IS erlaubt, dort weiterzubestehen, um ihn in Zukunft als Werkzeug einsetzen zu können.“ Der IS habe diese Phase als Zeit der Ausbildung und Reorganisierung genutzt und seine Strategie geändert, beobachtet der YPG-Sprecher und fährt fort: „Der IS führt jetzt viel mehr Überraschungsangriffe durch und hat seine Kräfte aufgestockt.“
Russland legte Schwerpunkt auf Nordsyrien
Elî erinnert daran, dass Russland und der Iran mit der Begründung nach Syrien gekommen seien, um „syrisches Territorium zu schützen“, dass aber beide Kräfte sich nicht mit den ländlichen Gebieten befassen, sondern die „für sie strategisch wichtigen Städte“ in den Mittelpunkt gestellt hätten.
„Die Konzentration Russlands auf Til Temir und Ain Issa und allgemein auf Nordsyrien gab dem IS die Möglichkeit, diese Angriffe durchzuführen“, sagt Elî und betont, der IS stelle für Russland keine Priorität dar. Israels Angriffe auf iranische Streitkräfte hätten dazu geführt, dass der IS seine Angriffe in diesen Regionen intensiviert habe, so der Pressesprecher der Volksverteidigungseinheiten YPG. Er stellt fest, dass das Regime ohne den Iran und Russland nicht in der Lage sei, Krieg zu führen.
„Koordination mit den QSD notwendig“
„Daher konnte der IS sie in vielen Gebieten überraschen“, erklärt Elî. „Russland und das Regime sollten sich mit den QSD im Kampf gegen den IS und die unter verschiedenen Namen auftretenden kleinen Gruppen koordinieren. Wenn dies nicht geschieht, wird die Lage östlich des Euphrat sehr ernst werden.“
Die Angriffe belasten das regionale Kräfteverhältnis
Der Journalist Nazım Daştan verfolgt ebenfalls die Entwicklungen in der Region aus der Nähe und sieht in der Zunahme der IS-Angriffe keine zufällige Entwicklung. Von einer Wiederbelebung des IS zu sprechen, sei es „noch etwas zu früh“, allerdings sei klar: „Der IS kommt wieder an die Oberfläche. Auch wenn ich nicht glaube, dass dies in großem Umfang geschehen wird, kann es das Kräfteverhältnis in der Region belasten. In den kommenden Tagen können die Angriffe weiter zunehmen.“
„Die internationalen Mächte neutralisieren sich gegenseitig“
Daştan weist darauf hin, dass die USA und Russland weiterhin versuchten, das Gebiet des jeweils anderen zu beschneiden und Grenzen innerhalb Syriens festzulegen. Daraus resultiere der Raum, aus dem heraus der IS seine Angriffe durchführen könne. Daştan sagt: „Wir können dies als einen Prozess sehen, in dem sich die internationalen Mächte und Regionalmächte von neuem für das Jahr 2021 messen.“
Zur Position des IS sagt Daştan: „Es wird schwer sein, eine dermaßen diskreditierte Kraft wie den IS in früherem Ausmaß von neuem zu beleben. Der IS kann aber diesen Prozess, in dem sich internationale Kräfte gegenseitig neutralisieren, als Chance für seine Reorganisation und Stärkung nutzen.“
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