Gespräch mit Redur Xelil, Sprecher der Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Rojava/Nordsyrien
Martin Dolzer, zurzeit auf Delegation* in Rojava, 21.09.2014
Seit 73 Stunden herrscht eine ununterbrochene Auseinandersetzung um Kobané, den mittleren der drei Kantone von Rojava an der Grenze zur Türkei. Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hat hier einen Großangriff mit modernsten schweren Waffen gestartet, die sie in Mossul erobert hat. Per Zug wurden nun zusätzlich über die Türkei Panzer und große Geschütze direkt an die türkisch-syrische Grenze gebracht. Die Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten YPG sind von drei Seiten gleichzeitig in heftige Abwehrkämpfe verwickelt und leisten Widerstand gegen IS, die mehrere Dörfer eingenommen hat. Es wird von einer großen Anzahl getöteter Dschihadisten und einigen gefallenen Mitgliedern der Selbstverteidigungseinheiten berichtet.
Trotz der heftigsten Angriffe auf Rojava seit 2011 findet Redur Xelil Zeit unsere Fragen zu beantworten. Wir sitzen in seinem Büro im Souterrain eines Hauses mitten in Qamishlo, der Hauptstadt des östlichsten Kantons Cizire im Dreiländereck von Syrien, Türkei und Irak. Die YPG begreift sich als überethnische und überreligiöse Verteidigungseinheit zum Schutz der Bevölkerung vor den Angriffen islamistischer Gruppen und regionaler Mächte. Sie wurde aus der Notwendigkeit von Selbstverteidigung von derart umkämpften Regionen wie Kurdistan gegründet.
Redur Xelil schildert die politische und militärische Situation mit großer Offenheit und Klarheit. Er erklärt die extrem gute Ausrüstung der Terroristen des IS von amerikanischen Panzern über deutsche Milan-Raketen bis zu modernsten Wärmedetektoren. IS kontrolliert eine Region vom irakischen Mossul über Tikrit nach Syrien über Süd-Hassake nach Kobane und kann deshalb ohne größere Probleme Waffen verschieben. Kämpfer aus den Kriegen in Afghanistan, Irak und Somalia, ergänzt von Soldaten der Armee Saddam Husseins haben das nötige Wissen zur Bedienung der modernen Waffen und schulen IS-Kämpfer im Umgang damit.
Die YPG, die Rojava schon drei Jahre lang erfolgreich gegen IS verteidigt, besitzt keine gleichwertigen Waffen. Sie bezieht Kraft und Erfolg aus ihrem unbedingten Widerstandswillen, die Menschen in Rojava zu verteidigen. Allerdings ist die Lage sehr ernst. Während die PKK ihre Unterstützung ansagte und 3000 Guerillas nach Kobanê schickt, hält sich die KDP von Mesud Barzani zurück und entsendet keine Peschmerga. Im Gespräch im Newroz-Flüchtlingscamp in Derik im Kanton Cizîrê hatten wir zuvor erfahren, dass die aus Şengal geflohenen ezidischen Flüchtlinge sich von der KDP verraten fühlen, da die Peschmerga sich kurz vor den Angriffen und Kriegsverbrechen der IS kampflos aus Şengal zurückzogen hatten. YPG und PKK erkämpften daraufhin einen Korridor, durch den zehntausende Menschen fliehen konnten.
Die Luftangriffe der Amerikaner auf IS-Stellungen im Irak erklärt Redur Xelil für nicht aufrichtig, denn das Zentrum und die Hauptstellungen der Terrororganisation befinden sich in Syrien. Die Angriffe der USA würden den IS aus dem Irak nach Syrien treiben, wo er sich dann vornehmlich gegen die kurdischen Gebiete/Rojava richte.
Die jetzt vom US-Kongress bestätigte Entscheidung, „gemäßigte Rebellen“ in Syrien auszurüsten, zu bewaffnen und in Saudi Arabien auszubilden, begegnet Redur Xelil mit einem Achselzucken: Ob Free Syrien Army (FSA), Al Nusra Front oder Islamische Front: sie seien ideologisch nicht weit weg vom IS und zu schwach, um einen derart aufgerüsteten, aggressiven Gegner zu bekämpfen.
Bleibt die Frage, warum die USA nicht die YPG in Rojava unterstützt. Die Erklärung des Sprechers der YPG aus diesem umkämpften Gebiet bestätigt nur das Naheliegende: Die Regierung der USA und ihre Verbündeten haben aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Interessen seit Jahren die KDP im Norden des Irak unterstützt. Demgegenüber seien die Menschen in Rojava nicht von vergleichbarem strategischen Interesse, die Selbstverwaltung dort eher links positioniert. Sie hätten von Anfang an das US-amerikanische Projekt im Mittleren-Osten nicht unterstützt.
Der tiefere Grund für die Nichtanerkennung und Nichtunterstützung der demokratischen Strukturen in Rojava liege allerdings darin, dass das Modell der Demokratischen Selbstorganisierung im Widerspruch zur kapitalistischen Moderne stehe. Deshalb unterstütze man sie nicht im Kampf gegen die Angriffe des IS. Das entbehrt nicht einer einsehbaren Logik, ist allerdings Zeugnis einer zynischen und menschenfeindlichen Logik.
Für Redur Xelil gibt es keine Zweifel, dass die USA mit ihrem militärischen Potential den IS in kürzester Zeit vernichten könnte. Mit modernen Waffen wie Drohnen und zielgenauen Lenkwaffen wäre das kein Problem. Die Terrororganisation werde allerdings als destabilisierende Kraft gebraucht und benutzt. Sie solle eine Atmosphäre von Angst und Schrecken im gesamten Mittleren Osten verbreiten. Nach Angriffen des IS sollten die Menschen in den Regionen dann die USA um Hilfe bitten. Auch in Europa werde diese Angst vor dem Näherrücken des Terrors geschürt. Wenn es die Regierung der USA mit ihrer Bekämpfung des IS ernst meine, müsste sie dagegen das Zentrum des IS in Syrien angreifen. Sämtliche regionalen und internationalen Akteure hätten das Entstehen und Wachstum von ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien), wie sich IS zuvor nannte, beobachten können, man habe aber bewusst weggeschaut und die Terrororganisation gefördert, um sie zu benutzen.
Wir bekommen Dokumente gezeigt, die beweisen, dass der Terror aus und über die Türkei nach Syrien reist. Pässe, Ausweise, Militärmarken, Listen von Kämpfern und Waffen die Mitgliedern der IS und der Al Nusra Front aus Libyen, Tunesien, Bahrein und der Türkei abgenommen wurden.
Redur Xelil ist ein politisch klarsichtiger Freiheitskämpfer, illusionslos und ohne ideologische Barrieren. Die YPG schützt offensichtlich die Menschen vor systematischen Angriffen auf eine funktionierende demokratische Gesellschaftsstruktur, die für den gesamten Mittleren Osten als Vorbild dienen könnte.
Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, ihren ganzen Einfluss auf die türkische Regierung auszuüben, dass sie die Grenze zu Syrien für die IS schließt und die Unterstützung der Terrororganisation sofort beendet. Zudem muss das Embargo gegen die Selbstverwaltung und Menschen in Nordsyrien/Rojava sofort aufgehoben werden. Auch die Humanitäre Hilfe für die ezidischen Flüchtlinge muss auf Rojava ausgeweitet werden.
Nach den Ereignissen von Şengal erleben wir einmal mehr, dass es die Verteidigungseinheiten der Selbstverwaltung in Rojava (YPG) und der PKK sind, die die Bevölkerung vor Kriegsverbrechen, wie Mord, Vergewaltigung, Versklavung und Vertreibung zu schützen versuchen.
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*Vom 14. September bis voraussichtlich 24. September wird eine Delegation mit den TeilnehmerInnen Prof. Dr. Norman Paech, Dr. med. Gisela Pentecker (IPPNW), Rechtsanwältin Britta Eder sowie dem Soziologen Martin Dolzer (beide Wissenschaftliche Projektmitarbeiter von Andrej Hunko, Mitglied des Bundestags und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, DIE LINKE) und Yilmaz Kaba (Vorstandsmitglied der Föderation der Ezidischen Vereine e.V.) in die Kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak und nach Rojava (Nordsyrien) reisen.