Ziel der AKP ist es, aus jeder kurdischen Kommune ein Freiluftgefängnis zu machen

Murat Karayilan
Firatnews, 27.09.2016

Im Folgenden veröffentlichen wir den zweiten Teil der Übersetzung eines Radiointerviews von Dengê Kürdistan mit dem PKK-Exekutivratsmitglied Murat Karayılan. Im diesem Ausschnitt erklärt Karayılan, was die AKP mit der Absetzung kurdischer BürgermeisterInnen beabsichtigt und welche Bedeutung der Aufruf des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan in dieser Phase hat.

Die AKP-Regierung führt im Prinzip unter dem Vorwand, gegen die Organisation von Fethullah Gülens vorzugehen, einen Krieg gegen die Kurdische Freiheitsbewegung und das kurdische Volk. Nun wurden 24 Stadtverwaltungen der DBP (Demokratische Partei der Völker) unter Zwangsverwaltung gestellt. Kurdische Lehrerinnen und Lehrer wurden entlassen. Weshalb nimmt es die Regierung in Kauf, in so eine Konfrontation mit der kurdischen Bevölkerung zu treten?

Früher versuchte die AKP, Teile der kurdischen Gesellschaft für sich zu gewinnen. Sie versuchte vor allem, Persönlichkeiten, die eine gewisse Anerkennung in der Bevölkerung genossen, für sich zu gewinnen, um so auf größere Teile in der kurdischen Gesellschaft auszustrahlen. Aber nun hat sie von dieser Politik abgelassen. Wenn man sich die derzeitige Gegebenheit anschaut, so wird man keine kurdische Person in den Reihen der AKP finden, der von der Gesellschaft geachtet wird. Diejenigen KurdInnen, die sich noch in den Reihen der AKP herumtreiben, sind ausschließlich auf ihren eigenen Profit aus und agieren wie Agenten und Kollaborateure der Regierung in Kurdistan.

Die AKP fährt deshalb nun eine andere Strategie. Sie will über den Krieg gegen die KurdInnen an neue Wähleranteile in der türkischen Gesellschaft gelangen. Sie setzt auf die nationalistischen Gefühle in der türkischen Bevölkerung. Die potentiellen kurdischen Stimmen spielen da fast schon keine Rolle mehr.  Stattdessen zielt die AKP darauf ab, mit Gewalt den Widerstand der kurdischen Bevölkerung zu brechen. Sie will, dass die kurdische Bevölkerung sich ihrer Herrschaft ergibt. Aus diesem Grund attackiert sie wirklich alle Teile der kurdischen Gesellschaft. Sie ist, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit, auf einen Streich 11.000 kurdische Lehrerinnen und Lehrer zu entlassen. Sie ist selbst bereit, ganze kurdische Städte dem Erdboden gleich zu machen. Das ist der Beweis dafür, dass die AKP in Kurdistan derzeit ausschließlich mit dem Mittel der Gewalt Erfolge für sich zu verbuchen versucht.

Und selbstverständlich hat die AKP unseren Vorsitzenden Apo (Abdullah Öcalan) ganz oben auf ihre Zielscheibe gesetzt. Die türkische Regierung versucht mit den Mitteln der schweren Isolation und des psychologischen Krieges direkt gegen seine Person vorzugehen. Doch unsere Bevölkerung hat sich mit besonderer Vehemenz dieser Frage angenommen. Das kurdische Volk ist überall in Kurdistan und in Europa auf die Straßen gegangen. In Amed (Diyarbakir), Strasbourg, Rojava und Russland sind Menschen in den Hungerstreik getreten. Das hat Erdoğan und seiner AKP große Angst vor einem stetig wachsenden gesellschaftlichen Widerstand eingeflößt, weswegen sie aus taktischen Gründen einen Familienbesuch auf der Gefängnisinsel Imrali gestattet haben.  Das bedeutet allerdings nicht, dass die Isolation unseres Vorsitzenden aufgehoben wäre. Sein Bruder durfte ihn einmalig besuchen. Und am gleichen Tag des Besuches hat die AKP 24 Stadtverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt. Sie ist also an einer Stelle einen Schritt zurückgewichen, um an anderer Stelle einen noch größeren Angriff zu starten.

Die Message Abdullah Öcalans nach dem Besuch seines Bruders ist national wie international auf viel Resonanz gestoßen. Wie sollten die demokratischen Kräfte die Message aus Imrali begreifen und bewerten?

Sowohl die demokratischen Kreise als auch die gesamte Welt haben gesehen, dass die Türkei die kriegstreibende Kraft in diesem Konflikt ist. Zuvor hatten uns verschiedene Kreise dazu aufgerufen, einen Waffenstillstand auszurufen, damit ein neuer Verhandlungsprozess mit der Türkei beginnen könne. Wir hatten hierauf mit einer Deklaration reagiert. Aber genauso wie unsere Deklaration kommt auch die Erklärung unseres Vorsitzenden einer Antwort auf die Aufrufe zum Waffenstillstand gleich.

Aus der Message aus Imrali wird nochmals deutlich, dass der türkische Staat diejenige Seite ist, die diesen Konflikt mit Hilfe von Gewalt und Staatsterror bewältigen will. Die AKP möchte auf diesem Wege ihre Macht festigen und hierfür nimmt sie bewusst das anhaltende Blutvergießen in Kauf.

Den Schritt, die kurdischen Kommunen unter Zwangsverwaltung zu stellen, haben die VertreterInnen der kurdischen Politik als Putsch bezeichnet. Das ist eine richtige Feststellung. Die AKP und Erdoğan halten ihre Macht mithilfe dieses Putsches aufrecht. Die türkische Regierung begründet diesem Putsch damit, dass die kurdischen Stadtverwaltungen die PKK unterstützt hätten. Es sei Geld aus den Kommunen zur PKK in die Berge geflossen. Dass diese Behauptungen völlig aus der Luft gegriffen sind, steht außer Frage. Bereits zuvor wurden Beamte aus Ankara in die kurdischen Kommunen entsandt, um nach Ungereimtheiten in den Stadtverwaltungen zu suchen, die zu einer Absetzung der BürgermeisterInnen hätte führen können. Die Arbeit der Beamten blieb ergebnislos. Deshalb versucht die türkische Regierung nun mithilfe dieses Putsches die Kurdische Freiheitsbewegung zu schwächen.

Die ehemalige türkische Ministerpräsidenten Çiller hat in den Jahren 1994 und 1995 eine ähnliche Zielsetzung verfolgt. Sie hat den schmutzigen Krieg nach Kurdistan getragen. Das, was die AKP und Erdoğan nun versuchen, gleicht in der Zielsetzung dem Vorhaben von Çiller. Genau hiergegen hat die kurdische Bevölkerung in Sur, Cizre, Nusaybin, Şırnak, Hezex, Gever, Silopi und Farqin Widerstand geleistet. Es wurde ein richtiger Krieg ausgetragen. Das war ein Krieg gegen das Vernichtungskonzept der AKP. Nun versucht die AKP dieses Konzept auf einer anderen Ebene fortzuführen.

Was wollen sie damit erreichen? Sie wollen die Hoffnung und den Willen des kurdischen Volkes brechen. Sie sind sich dessen bewusst, dass die kurdischen Stadtverwaltungen eine gute Arbeit geleistet haben. Und gerade deswegen erachten sie es als notwendig, diese Stadtverwaltung den BürgermeisterInnen der DBP zu entziehen. Das Ziel der AKP ist es, aus jeder kurdischen Kommune ein großes Freiluftgefängnis zu machen. Die kurdische Bevölkerung soll überall die Präsenz des türkischen Staates spüren. Sobald der Kurde seinen Kopf erhebt, soll er den türkischen Staat erblicken und spüren. Dieser permanente Druck soll dazu führen, dass die kurdische Bevölkerung ihren Widerstand und sich selbst aufgibt. Sie werden diese Praxis auch weiter ausweiten. Weitere Stadtverwaltungen werden unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Sie werden auch die Isolation unseres Vorsitzenden aufrechterhalten und weiter verschärfen. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Denn es so werden sie versuchen, den Willen der kurdischen Bevölkerung zu brechen.

Die Angriffe auf die Stadtverwaltungen, auf kurdische AktivistInnen und Abgeordnete halten an. Sie werden auch versuchen, die kurdischen Abgeordneten zu verurteilen und hinter Gitter zu stecken. Es soll möglichst alles ausgelöscht werden, was der kurdischen Bevölkerung Kraft und Mutgibt. So soll die Bevölkerung unterdrückt und zur Selbstaufgabe gezwungen werden. Aus diesem Grund befindet sich unsere Bevölkerung derzeit in einer historisch bedeutenden Phase. Der Widerstand für die BürgermeisterInnen und für die Freiheit unseres Vorsitzenden ist zugleich auch ein Widerstand für die Wahrung des eigenen Willens und gegen die vom türkischen Staat aufgedrängte Selbstaufgabe.

 

Erster Teil des Interviews: Der türkische Kolonialismus greift aus einer Position der Schwäche an