Zu Besuch bei Cemil Bayik in Kandil

cemil-bayik-1-eylul-son-gun_742377_720_400Fehim Taştekin in Südkurdistan und Rojava (Teil 2), 01.10.2014

Während der bewaffnete Arm der PKK sich an einer breiten Front, die von Südkurdistan bis nach Rojava reicht, im Kampf mit dem Islamischen Staat IS befindet, war es für mich wichtig zu verstehen, wie die PKK-Führung in Kandil über die aktuellen Entwicklungen in der Region denkt. Ich bekam die Gelegenheit dies mit Cemil Bayık persönlich zu besprechen. Das ganze entwickelte sich etwas überraschend. Eigentlich war ich damit beschäftigt, die Möglichkeiten auszuloten, wie ich von Südkurdistan nach Rojava gelangen konnte. Doch dann bekam ich die Nachricht, dass solch eine Möglichkeit für mich bestehen würde. Ich nahm natürlich sofort an.

Am 19. September reiste ich nach Kandil. Ich hoffe eigentlich noch an dem Tag das Gespräch zu führen. Doch das klappte nicht. Ich verbrachte die Nacht also in den Bergen. Mit mir war ein älterer Mann aus Maxmur gekommen. Er wollte seinen Sohn in den Bergen besuchen. Am Abend kamen wir in einer geselligen Runde zusammen. Das einzige Gesprächsthema war natürlich Kobanê.

Gegen 22.30 Uhr erhielt ich die Nachricht, dass das Gespräch am nächsten Morgen geführt werden könnte. Nach dem Gespräch würde ich mich auf den Weg nach Rojava machen.

„Die AKP hat keine Ausreden mehr“

Nach dem Frühstück bekam ich die Gelegenheit mit dem Kovorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Cemil Bayık zu sprechen. Am Tag unseres Gesprächs war gerade der dritte Tag der Angriffe auf Kobanê. Nur wenige Stunden vor unserem Gespräch hatten der IS die 49 türkischen Geiseln freigelassen. Wir sprachen über beide Themen, aber auch über den Lösungsprozess. „Der Prozess hängt unmittelbar mit der Situation in Kobanê zusammen“, erklärte Bayık. Er gab an, dass die Türkei in einem Bündnis mit dem IS stecke, um die Errungenschaften der Kurden in Rojava zu vernichten. Der Beweis hierfür sei der Zugtransport von Waffen und Munition, die vor vier Tagen durch die Türkei an die türkisch-syrische Grenze nahe Tel Ebyad geliefert worden waren. Laut Bayık war das die türkische Gegenleistung für die Freilassung der Geiseln. Sollte Kobanê fallen und die Türkei versuchen eine Pufferzone zu errichten, käme das dem Ende des Prozesses und dem Beginn eines neuen Krieges gleich. „Die Türkei kann im Norden keine Lösung anstreben, wenn sie zugleich versucht, in Rojava die Errungenschaften der Kurden zu vernichten.“

Ich fragte nochmal nach der Pufferzone. „Auch wenn es unwahrscheinlich aussieht, dass die Türkei das hinkriegt, wie würdet ihr auf eine Pufferzone reagieren?“
Er drückte seine Antwort in deutlichen Worten aus: „Dann ist der Prozess zu Ende. Denn die Pufferzone wäre gegen uns gerichtet. Wir werden keinen Prozess aufrechterhalten, der zur Vernichtung der Errungenschaften der Kurden in Rojava führt. Das käme dem Verrat an unserer Bevölkerung gleich.“

Auf meine Frage, wie die kurdische Bewegung im Falle eines Endes des Prozesses agieren würde, antwortete Bayık wie folgt: „Wir wollten die Frage auf dem Wege der demokratischen Politik lösen. Aber die entsprechende Reaktion der Gegenseite blieb aus. Das Ziel der AKP war es, die Kommunalwahlen und die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Und jetzt sind die Parlamentswahlen das nächste Ziel. Wir hatten ihnen eine Frist bis Ende September aufgelegt. Früher sagten sie uns, dass sie nicht immer so agieren können, wie sie es eigentlich wollen. Jetzt zählen diese Ausreden aber nicht mehr viel. Sie stellen die Regierung und den Präsidenten. Sie kontrollieren das Parlament, den Geheimdienst und das Militär. Das ist also nicht mehr eine AKP-Regierung sondern der AKP-Staat. Wie gesagt, wir dulden keine Ausreden mehr. Deswegen haben wir gesagt, dass sie nach den Präsidentschaftswahlen noch einen Monat erhalten. Wenn dann die Verhandlungen nicht beginnen, werden wir diesen Prozess nicht mehr weiterführen. Und dann kann es von verstärkten Akten des zivilen Ungehorsams bis hin zu Aktionen der Guerilla kommen.“

Auf die Frage, wie der bewaffnete Kampf in Südkurdistan mit dem Prozess in Nordkurdistan aus Sicht der PKK zusammenpasst, lautet die Antwort: „Wir agieren im Sinne unseres Selbstverteidigungskonzepts. Das gilt auch für Südkurdistan. Wir sind dort nicht aktiv geworden, um dort Gebiete oder die Errungenschaften der Kurden unter unsere Kontrolle zu bringen. Das Ziel war die Verteidigung und wir wurden von den politischen Parteien der Region um Unterstützung gebeten. Es muss verstanden werden, dass die PKK nicht hinter einem Stück Erde oder einem Staat her ist. Wir wollen auch nicht die Kurden von allen anderen Völkern der Region separieren. Uns geht es um die Erschaffung einer demokratischen Gesellschaft, in welchem die Geschwisterlichkeit der Völker maßgeblich ist und in welchem jede Gruppe sich mit ihren Eigenheiten, ihrer Sprache und ihrer Kultur frei organisieren und Teil des Ganzen sein kann.“

Radikal, 01.10.2014, ISKU

 

1. Teil der Reportage von Fehim Taştekin: Erste Station Maxmur