Der Bombenanschlag von Ankara: Eine Koproduktion der Dokumaci-Zelle und der AKP?

Ankara_bombenanschlagCivaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 19.10.2015

Es passieren drei Anschläge binnen knapp vier Monaten. Die Attentäter gehören jedes Mal derselben islamistischen Zelle an. Diese Zelle wurde allerdings schon bereits knapp zwei Jahre zuvor von den staatlichen Behörden enttarnt. Seit ihrer Enttarnung werden alle Telefongespräche der wichtigsten Akteure dieser Zelle abgehört, die Mitglieder verfolgt und einige von ihnen sogar zwischenzeitlich festgenommen und befragt. Dennoch kommt es eben zwei Jahre später zu einer tödlichen Reihe von Anschlägen dieser Gruppe. Was würden Sie sagen? Haben die staatlichen Behörden einfach versagt? Oder haben sie die Gruppe vielleicht aus irgendwelchen Gründen gewähren lassen?

Doch bevor Sie die Frage für sich beantworten, erst einmal noch ein Blick auf die Details:

Der Bombenanschlag von Amed

Es ist einer der letzten Wahlkampf-Großveranstaltungen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) vor den Parlamentswahlen am 07. Juni diesen Jahres. In Amed (Diyarbakir) kommen hunderttausende TeilnehmerInnen zu der Veranstaltung an diesem 05. Juni, also zwei Tage vor dem Wahltag, zusammen. Während die Sonne auf die große Straßenkreuzung vor der Bühne knallt, wartet die Menschenmenge gespannt auf den Höhepunkt der Veranstaltung, auf die Rede des HDP Kovorsitzenden Selahattin Demirtas. Doch um 17.50Uhr, kurz vor der Rede von Demirtas, kommt es auf dem Versammlungsplatz zu zwei Bombenexplosionen. Insgesamt vier Menschen kommen durch den Bombenanschlag ums Leben.

Es stellte sich heraus, dass ein 20jähriger mit dem Namen Orhan Gönder verantwortlich für den Anschlag in Amed war. Gönder war zuvor für den Islamischen Staat (IS) in Syrien aktiv. Organisiert für den IS wurde der Mann in der Stadt Adiyaman. Dort besuchte er regelmäßig das „Islam Teehaus“, in welchem wohl auch weitere angehende IS-Mitglieder verkehrten. Die Gruppe, die von Adiyaman aus für den IS in den heiligen Krieg nach Syrien reiste, wurde später auch unter dem Namen „Dokumacilar“, benannt nach einem Mustafa Dokumaci, bekannt. Die Dokumacilar-Zelle war in Girê Spî (Tall Abyad) für den IS aktiv. Nachdem die kurdischen Einheiten der YPG und YPJ Mitte Juni die Stadt Girê Spî vom IS gesäubert hatte, flohen die noch übrigen Mitglieder der Dokumacilar wieder zurück in die Türkei. Gönder war schon früher wieder in die Türkei zurückgereist. Weder er noch seine Kampfgenossen mussten sich bei ihrer Rückreise in die Türkei vor einer Verhaftung fürchten. So konnte er auch in aller Seelenruhe den Anschlag in Amed vorbereiten und umsetzen.

Brisant ist, dass zum Zeitpunkt des Anschlags die AKP vermutlich schon wusste, dass sie nach dem 07. Juni nicht mehr alleine regieren werden könne. Öffentliche Umfrageergebnisse sagten nämlich voraus, dass die HDP die 10%-Hürde knacken und den Einzug ins Parlament schaffen würde. Es gab deshalb nicht wenige Stimmen, die hinter dem Anschlag einen Versuch der AKP sahen, kurz vor den Wahlen das Land ins Chaos zu stürzen, um so den Wahltermin kurzfristig noch zu verschieben. Durch das besonnene Handeln der HDP, die nach dem Anschlag mit Dringlichkeit ihre Anhänger dazu aufrief, sich zu keinen  weiteren Protesten zusammenzufinden, sondern schlichtweg nach Hause zu gehen, blieb die Lage allerdings bis zum Wahltag ruhig.

Der Bombenanschlag von Suruç

Der nächste Anschlag der Dokumacilar-Zelle ereignete sich am 20. Juli in Suruç. Angriffsziel dieses Mal waren 33 Jugendliche der Föderation der Sozialistischen Jugendverbände (SGDF), die nach einer Presseerklärung im Kulturverein von Suruç nach Kobanê einreisen wollten, um dort aktiv beim Wiederaufbau der Stadt mitzuwirken. Dieses Mal jagte sich ein Seyh Abdurrahman Alagöz in die Luft. Alagöz und Gönder, der in Amed die Bomben hochgehen ließ, kannten sich nicht nur aus Adiyaman, sie sollen auch gemeinsam in Girê Spî für den IS gegen die kurdischen Einheiten gekämpft haben.

Auch Alagöz war für die türkischen Behörden kein Unbekannter. Denn nicht nur Seyh Abdurrahman sondern auch sein „verschollener“ Bruder Yunus Emre Alagöz galten als aktive Mitglieder der Dokumacilar-Zelle, auf die der türkische Staat seit 2013 bereits ein Auge geworfen hatte. Weshalb der Anschlag dennoch von den staatlichen Behörden nicht unterbunden wurde, bleibt unklar.

Der zweite Attentäter war ein gewisser Ömer Deniz Dündar. Dündar ist ebenfalls kein Unbekannter für die türkischen Behörden. Er wurde sogar im Rahmen der eingeleiteten Untersuchungen des türkischen Staates zur Dokumaci-Zelle zwischenzeitlich festgenommen, doch dann wieder auf freien Fuß gesetzt. Danach reiste er nach Syrien, um für den IS zu kämpfen. Der Vater des Attentäters berichtet, dass er bereits vor Monaten persönlich um die Festnahme seines Sohnes bei den Polizeibehörden gebeten habe. Ömer Deniz sowie sein Zwillingsbruder Mahmut Gazi Dündar seien von Mustafa Dokumaci persönlich für den IS geworben worden und nach Syrien gegangen.

Die Anschläge von Ankara

Der eben genannte verschollene Bruder Yunus Emre Alagöz gilt nun als einer der zwei Attentäter beim Anschlag von Ankara. „Seit zwei Jahren werden die Gespräche von Yunus Emre Alagöz von den Behörden aufgezeichnet“, erklärte am Freitag, den 16. Oktober  der CHP-Abgeordnete Eren Erdem auf einer Pressekonferenz im türkischen Parlament. In einem seiner Telefongespräche mit einem Bekannten aus Adiyaman im Mai dieses Jahres soll der Attentäter von Ankara folgendes gesagt haben: „Vielleicht wird das unser letztes Gespräch sein. Das gilt sowohl für meinen Bruder Abdurrahman (Attentäter von Suruc) als auch für mich, so Gott will.“

Lässt der Staat die „Dokumaci-Zelle“ gewähren?

Die Attentäter der letzten Monate gehören allesamt der „Dokumaci-Zelle“ an und sie alle stammen aus Adiyaman. Es wird davon ausgegangen, dass diese Zelle mit knapp 60 bis 70 Leuten in Girê Spî gegen die kurdischen Einheiten gekämpft hat. Eine unbekannte Anzahl von ihnen ist nach der Befreiung von Girê Spî klamm und heimlich wieder in die Türkei zurückgekehrt. Die Zelle selbst ist den Behörden seit dem Jahr 2013 ein Name, denn damals war die Staatsanwaltschaft aufgrund von Untersuchungen über Al-Kaida Strukturen in der Türkei auf die Dokumacilar gestoßen, von denen einige bereits damals eine Ausbildung in Afghanistan erhalten hatten. Die Mitglieder der Zelle stehen seitdem unter Beobachtung der türkischen Behörden, ihre Telefongespräche werden abgehört.

Doch die Dokumaci-Zelle hat es in der Türkei nicht auf staatliche Einrichtungen abgesehen. Die jüngsten Angriffe beweisen, dass sie in der Türkei nur kurdische und linke Strukturen ins Visier genommen hat. Und die jüngsten Anschläge zeigen, dass die Zelle trotz der „Verfolgung“ der türkischen Behörden frei agieren und ihre tödlichen Pläne umsetzen kann.

Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob der türkische Staat die Dokumacilar frei agieren lässt, solange diese ihre Angriffe gegen diejenigen politischen Strukturen verübt, die der AKP selbst auch ein Dorn im Auge sind? Auch nicht auszuschließen ist, dass der türkische Geheimdienst MIT diese Gruppe bewusst lenkt und für ihre Zwecke missbraucht.

Die Fakten deuten stark auf eine Verwicklung des türkischen Staates bei den jüngsten Anschlägen der Dokumacilar hin.Verwundern würde das nicht. Denn die AKP-Regierung hat in der jüngeren Vergangenheit in Syrien auch vor einer Zusammenarbeit mit dem IS nicht zurückgeschreckt und setzt gegenwärtig ihre Zusammenarbeit mit den islamistischen Gruppen der Al-Nusra Front und Ahrar al-Sham fort. Die Zusammenarbeit mit islamistischen Terrorgruppen wäre für Erdogan und seine AKP also kein Neuland.