Michael Knapp, Historiker, Kurdistan Solidaritätskomitee Berlin, 24.09.2014
Seit dem 15.09.14 erleben wir eine Offensive des Islamischen Staats IS gegen den Selbstverwalteten Kanton Kobanê im Norden Syriens, ein Teil der Region, die auf Kurdisch Rojava, also Westen genannt wird. Kobanê ist ein Ort in dem etwa 500.000 Menschen leben, 200.000 davon Flüchtlinge aus dem Rest Syriens, sowohl KurdInnen, als auch AraberInnen. Der IS rückt nun auf Kobanê vor mit dem dezidierten Ziel, die Region zu erobern und alle die nicht ihrem Weltbild entsprechen zu ermorden. Zwischen einem Massaker von genozidalem Ausmaß, vergleichbar mit den Morden in Şengal stehen einzig und alleine die Volksverteidigungskräfte der YPG und YPJ. Kobanê wurde schon zuvor monatelang vom IS belagert und hat nun eine neue Offensive begonnen, gegen welche die Volksverteidigungskräfte der Selbstverwaltung YPG/YPJ mit aller Kraft Widerstand leisten. Es wurden aus Sicherheitsgründen mittlerweile über 100 Dörfer evakuiert und zum militärischen Kampfgebiet gegen den IS erklärt. Die Auseinandersetzungen finden unter ungleichen Voraussetzungen statt, während die Selbstverteidigungseinheiten kaum über schwere Waffen verfügen, greift der IS mit modernen Waffensystemen u.a. 50 Panzer an. Diese stammen teilweise aus erbeuteten US-Beständen aus dem Irak und zum anderen auch aus Waffenbeständen der Türkei.
Der Nahostkorrespondent Patrick Cockburn von der britischen Tageszeitung Independent stellt daher in ihrer Ausgabe vom 22.09.14 die berechtigte Frage, ob die 49 türkischen Diplomaten, die am 19.09. aus der Gefangenschaft des IS freigelassen worden sind, gegen die Unterstützung der Türkei gegen den kurdischen Kanton Kobanê ausgetauscht worden seien. Cockburn thematisierte auch das auffallende Detail, dass ausschließlich türkische Geiseln freigekommen seien: „Nach dem Aussehen der Geiseln und ihrer Kleidung zu urteilen, scheinen die Geiseln sehr wenig erlitten zu haben. Der Unterschied zur Behandlung des englischen Lastwagenfahrers der vom ISIS als Geisel genommen wurden war oder der rituelle Mord an den Journalisten zeigen dies deutlich.“ Die Enthauptungsvideos, Verstümmelungen, Vergewaltigungen und Morde durch den IS an kurdischen, aber auch einigen westlichen Geiseln und den Regionalbevölkerungen sind allgemein bekannt. Gerade in diesem Zusammenhang ist es auch für Cockburn augenfällig:
„Dass der türkische Republikspräsident Recep Tayyip Erdoğan nicht bereit ist, sich darüber zu äußern, warum ISIS die 49 türkischen Staatsbürger freigelassen hat. Dies erhöht den Verdacht von verdeckten Beziehungen zwischen Ankara und ISIS. Er weist zurück, ISIS ein Lösegeld oder sonstige Versprechen gemacht zu haben. Er lässt also die Frage unbeantwortet, wie es sein kann, dass der ISIS, dessen Markenzeichen seine Gnadenlosigkeit ist, diese türkischen Geiseln ohne Gegenleistung freigelassen hat.“
Auch für Cockburn ist bemerkenswert, dass während Erdoğan die Gründe für die Freilassung der Geisel als Staatsgeheimnis bezeichnet, zur genau gleichen Zeit mit den Angriffe auf Kobanê durch IS begannen und damit die Flucht der dortigen kurdischen Bevölkerung über die „türkische“ Staatsgrenze ausgelöst worden ist.
Nach Angaben von Cockburn sind 12.000 Dschihadisten über die türkische Grenze in den Irak und nach Syrien eingedrungen und die Türkei habe keinerlei Bemühungen unternommen, dies zu unterbinden. Erst gegen Ende des Jahres 2013, unter dem Druck der USA, habe die Kontrolle an der Grenze etwas zugenommen.
„Tausende Dschihadisten haben unter den Augen des türkischen Militärs die Grenze überquert“
Die Beobachtungen von Cockburn sind bedeutsam und ihnen ist hinzuzufügen, dass zwischen dem 15. und dem 21.09 von AugenzeugInnen nicht nur türkische Waffentransporte an den IS bei Kobanê beobachtet worden sind (Vgl. ANF), die Waffen wurden mit Militärlastwagen und Zügen über die Grenze gebracht, sondern auch tausende Dschihadisten sollen vom türkischen Militär über die Grenze geschleust worden sein.[1] Nach Angaben von den beiden Dorfbewohnern Ahmed H. und Feredun Q., konnte direkt vor der Offensive des IS sowohl der logistische, als auch die personelle Unterstützung des IS durch die Türkei an der Grenze beobachtet werden. Im Osten der Region Kobanê wurden nach diesen Angaben tausende Dschihadisten aus der Türkei mit Bussen zur Grenze bei den Dörfern Dinayikê und Yapsê gebracht.
Beobachtungen von Fact Finding Delegationen, wie die Delegation der Kampagne Tatort Kurdistan, welche die Region im Mai bereisten, bestätigen ähnliche Beobachtungen aus der Gebiet um Serê Kaniyê. Dort konnten sich nach Angaben von verschiedensten AugenzeugInnen Dschihadisten immer wieder frei über die Grenze unter den Augen von türkischen Sicherheitskräften bewegen, und es wurde mehrfach die Übergabe von Logistik und Material beobachtet.
Der Menschenrechtsverein IHD erklärte in seinem Bericht vom 23.07.14[2], dass in der Nähe der Stadt Karkamış bei Antep, also auf türkischem Territorium für den IS ausgebildet wird und auch türkische Militärberater wurden in Falludja bei der IS vom irakische Staat festgenommen. Dies zeigt, dass die Unterstützung der Türkei für den IS sowohl vor, als auch nach der Geiselnahme der 49 türkischen Diplomaten stattgefunden hat. Die Türkei wurde also keineswegs erpresst, sondern scheint sich in einer strategischen Partnerschaft mit dem IS gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava und ihren traditionellen Feind Syrien zu befinden. Die Geiselname erscheint in diesem Kontext mehr als ein Feigenblatt für die inoffizielle Politik der Türkei, als eine existenzielle Erpressung. Zumal Spiegel Online direkt nach der Geiselname schon berichtet hatte, dass es den türkischen Spezialkräften im Konsulat in Mossul verboten gewesen sei, auf IS-Terroristen zu schießen.
Die kurdische Bewegung in dieser Region, aber auch in Nordkurdistan/Türkei arbeitet an einem Projekt unter dem Namen Demokratischer Konföderalismus, das den unitäran Nationalstaat ablehnt und für die Repräsentation aller kulturellen und religiösen Identitäten eintritt. Diese Ideen stellen für die monistische Türkei ein rotes Tuch dar, stellen sie doch die Idee von „Einer Nation, Einer Sprache und Einer Religion“ in Frage und setzen statt auf blinden Zentralismus auf kommunale Selbstbestimmung. Entwickelt wurde dieses Projekt vom inhaftierten Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan und der kurdischen Freiheitsbewegung. Dieses Projekt, was durchaus das Potential besitzt für eine nachhaltige Friedensordnung im Mittleren Osten zu sorgen, wird von der Türkei als Terrorismus betrachtet, während der IS ein Bündnispartner zu sein scheint. Dafür spricht auch, dass das türkische Militär und die türkische Polizei von Tag schärfer gegen Flüchtlinge und DemonstrantInnen an der Grenze um Suruç vorgeht und dabei sogar scharfe Waffen einsetzt. Dabei spielt der türkische Staat ein gefährliches Spiel und gefährdet so den Friedensprozess mit der PKK massiv. Die Unterstützung des IS wurde am 23.09. von Abdullah Öcalan als „Verletzung des Waffenstillstands“ charakterisiert und auch der KCK-Exekutivratsvorsitzende Murat Karayilan erklärte hierzu: „Die Haltung des türkischen Staats, die in Kobanê deutlich geworden ist, hat den Prozess, der Lösungsprozess genannt wird, bedeutungslos gemacht.“ Es handelt nun seit 1993 um den 9. Waffenstillstand der kurdischen Freiheitsbewegung, der durch die Aggression des türkischen Staates in Frage gestellt wird. Es stellt sich die Frage wie viele Menschen noch massakriert werden müssen, bis endlich die Unterstützung der Türkei für den IS nicht mehr ignoriert wird und entsprechend unter Druck gesetzt wird dies zu beenden. Das Hinnehmen dieser Politik bedeutet den Krieg im Mittleren Osten mutwillig zu befeuern.
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[1] Vgl. ANF 23.09.14
[2] Vgl. http://www.evrensel.net/haber/88883/ihd-raporu-isid-turkiyeyi-lojistik-us-olarak-kullaniyor.html#.VCG5RxaW31U
Türkei: Waffen für IS – Flüchtlinge als Waffe
„Ein zweites Sengal verhindern“
Beweise, dass Waffen nach Syrien gehen