Die Rojava Linie ist auch ein Schutz der Türkei

fehim-tastekinFehim Tastekin*, Journalist und außenpolitischer Redakteur bei Radikal, 09.07.2014

Rojava liegt innerhalb der Grenzen des von der ISIS als Kalifat genannten „Islamischen Staates“. ISIS betrachtet Rojava, das in Syrien den heftigsten Widerstand leistet, als Hindernis für das Kalifat. (…)

Ich nehme an, dass niemand der Einnahme der 200.000 Einwohner-Stadt Rakka in Syrien durch die ISIS (Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien) einen Wert beimisst. Viele mögen darüber auch die Nase gerümpft haben. Aber das auf den ersten Blick unwichtig erscheinende Rakka stellt für die ISIS nicht nur den Übungsplatz für ihre „Scharia-Verwaltung“ dar, sondern hat darüber hinaus an strategischem Wert gewonnen. Denn durch das 90 km südlich von Sanliurfa-Akçakale gelegene Rakka ist die Macht zum Norden und Nordwesten an die türkische Grenze und zum Südosten durch den langgezogenen Fluss Firat gestärkt worden. Durch diese Linie des Flusses Firat haben sie das im Osten Syriens liegende und ölreiche Deir ez-Zor und einige nordöstliche Gebiete im Umkreis von Haseke eingenommen. Und sie haben dadurch auch den logistischen Zufluss zur Front im Irak gesichert. Die zweite Etappe war der Fall Mosuls, wodurch sie die Linie am Fluss Dicle eingenommen haben. Während als dritte Etappe der große Krieg in Bagdad erwartet wurde, hat ISIS, die sich nun Islamischer Staat (IS) nennt, schwere, von der irakischen Armee eingenommene Waffen, darunter auch Raketen über Abu Kamal nach Deir ez-Zor, Rakka und Dscharabulus in Syrien transportiert.

Es wurde erwartet, dass das erste Ziel von ISIS im Gebiet Rojava, in welchem die Kurden drei autonome Kantone errichtet haben, der Kanton Cezirê sein würde. Aber ISIS hat den in der Mitte liegenden Kanton Kobanê ins Vezier genommen. Seit dem 2. Juli greift ISIS mit 10 Panzern und schwerem Geschütz die kurdische Region an. Durch die Einnahme von Rakka/Sarrin im Süden, Tel Ebyads im Osten und Dscharabulus im Westen wurde der Angriff auf Kobanê für die ISIS erleichtert.

Hohe Verluste trotz schwerer Waffen
Ich habe den stellvertretenden Außenminister des Kantons Kobanê, Idris Nassan, zur aktuellen Lage befragt. Nach seinen Angaben hat ISIS, die die Region aus drei Richtungen angreift, die drei 40 bis 45 km westlich vom Fluss Firat liegenden Dörfer Zor Mugar, Beyadi und Ziyarete eingenommen. ISIS versuche, die Milizen der Volksverteidigungseinheiten (YPG) abzuwehren und habe über 100 Verluste gehabt. Sie seien gezwungen gewesen, sich aus den eingenommenen Gebieten zurückzuziehen und haben einen Hummer, einen Panzerwagen und einige russische Maschinengewehre zurückgelassen. Die YPG, die aus dem Zielgebiet der ISIS Zivilisten evakuierte, erlitten 16 Verluste. Bei einem Angriff am Montag auf das westlich vom Scheich Süleyman Grabmal liegende Dorf Kun Eftar ist mit Granaten beschossen worden. Dort hat die YPG zwei Verluste erlitten und ISIS 20 bis 30 Kämpfer verloren. Nachdem ISIS bei den Angriffen über Dscharabulus nicht den erhofften Erfolg erzielt hat, haben sie nun begonnen, aus dem Osten aus Tel Ebyad anzugreifen. ISIS hat gestern das acht Kilometer von Tel Ebyad liegende Dorf Evdiko angegriffen, bei dem sechs Menschen auf kurdischer Seite getötet wurden. Und ISIS hat im Dorf Ebu Surra, 60 km südlich von Tel Ebyad, einen mit Sprengstoff geladenen, von der YPG gestoppten LKW in die Luft gejagt, wobei vier YPG Mitglieder getötet wurden. Laut regionalen Quellen zwingt ISIS, die in Dcharabulus Kurden gekreuzigt hatte, zudem auf diese Weise die Menschen in dieser Region zur Flucht. Die Kurden dürfen zwar Dscharabulus verlassen, aber die Rückkehr ist ihnen verboten. ISIS scheint damit eine Säuberungspolitik der Region von Kurden zu verfolgen!

Die Kurden mobilisieren sich
Die Kurden sind bei dem Thema Kobanê sehr empfindlich. Als die KCK zur Mobilmachung aufgerufen hat, sind aus verschiedenen Ländern Kämpfer nach Rojava gegangen. Nassan sagte dazu: „Aus den Reihen der PKK sind Leute zur Hilfe gekommen, aber diese waren Parteimitglieder aus Kobanê. Sie schützen ihr eigenes Land. Es hat nichts mit der PKK zu tun, sondern man kann von einer allgemeinen Mobilmachung reden. Kurden sind aus verschiedenen Regionen der Türkei, des Iran, Iraks und Syriens gekommen, um Kobanê zu verteidigen. Wir haben Gefallene, die von außerhalb gekommen waren.

Der Journalist Amed Dicle sagt, dass die Menschen aus der Region einen starken Dialog zur PKK haben, weil Abdullah Öcalan Beziehungen zu Kobanê geknüpft hatte. „Öcalan ist 1979 von Suruç nach Kobanê gegangen und blieb dort 40 Tage. Mit den dort geknüpften Verbindungen hat er sich dem Mittleren Osten zugewandt. Aber er hat seine Beziehungen zu Kobanê niemals aufgegeben. Tausende junge Menschen aus Kobanê sind der PKK beigetreten und haben in verschiedenen Gebieten Kurdistans ihr Leben gelassen. Der erste Gefallene der PKK aus Rojava kam aus Kobanê. Auch die Revolution in Rojava am 19. Juli 2012 begann in Kobanê.“

Jemand scheint das, was Kobanê erleidet, auf Grund dieser Vergangenheit und den Beziehungen als berechtigt anzusehen, denn ISIS kann sich noch immer unbeeinflusst an den Grenzen der Türkei bewegen.

ISIS wird mit Strom aus der Türkei beliefert
Idris Nassan hat die Beschuldigung syrisch kurdischer Vertreter, ISIS nutze die gegenüber den türkischen Grenzübergängen Akçakale und Karkamis liegenden Städte Tel Ebyad und Dscharabulus zum logistischen und militärischen Durchfluss, erneuert. „Tel Ebyad und Dscharabulus sind offiziell geschlossen, aber von hier aus finden Durchgänge zu den von der ISIS kontrollierten Gebieten statt. Am Grenzpunkt Rai, 40 km westlich von Kobanê werden gleicherweise illegale Übergänge zugelassen.“

Die Feststellungen des Journalisten Barzan Iso aus Kobanê unterscheiden sich ebenfalls nicht von meinen: „Auch wenn gesagt wird, die Grenzübergänge wären geschlossen, wird ISIS in ihren kontrollierten Gebieten von der Grenze her unterstützt. Vor kurzem hat eine Hilfsorganisation aus Katar eine große Hilfslieferung nach der von ISIS eingenommenen Stadt Dscharabulus geschickt. Zudem wird Strom an Gebäude wie das Krankenhaus, das Rathaus und unter Befehl der ISIS stehende Kulturzentren aus der Türkei geliefert, da das Elektrizitätswerk in der Region nicht mehr funktionsfähig ist.“

Drei Gründe für Kobanê
Warum aber ist Kobanê das Ziel? Zunächst einmal liegt Rojava innerhalb des von ISIS ausgerufenen Kalifats des „Islamischen Staates“. ISIS hat schon früher in Umlauf gebracht, dass sie das vom Baath-Regime in Ayn al-Arab (arabisches Auge) umbenannte Kobanê in „Ayn al-Islam“ (Islamisches Auge) benennen werden. Die Bedeutung Kobanês wird an einigen Punkten deutlich: Erstens betrachtet ISIS das sich am heftigsten wehrende Rojava als Hindernis vor dem Kalifat in dieser Region. Und Kobanê ist das schwächste Glied in Rojava. Nach Aussagen Nassans will ISIS mit der Einnahme Kobanês das Projekt der demokratischen Autonomie zusammenbrechen lassen. Mit diesem Ziel wendet ISIS sich an den türkischen Staat. Zweitens möchte sie mit der Einnahme Kobanês die von ihnen eingenommenen Grenzpunkte um Mürsitpinar ergänzen, um an den Grenzen zur Türkei mächtiger zu sein. Und drittens durchkreuzt Kobanê ihren Durchfluss zwischen Dscharabulus und Tel Ebyad. ISIS ist gezwungen, statt der 85 km Direktweg zwischen diesen Punkten, 250 km um Kobanê herum zu gehen. Wenn Kobanê fällt, ist im Osten Cezirê und im Westen Afrîn dran. Afrîn liegt wie eine Insel zwischen Araber und Turkmenen und grenzt im Norden und Westen an die Türkei. Aber die Regionen südlich und östlich von Arfîn sind in der Hand der Islamischen Front. Einige der Dörfer zwischen Afrîn und Dscharabulus werden von ISIS und andere von der Islamischen Front kontrolliert. Teile der Islamischen Front, die in der Vergangenheit das Leben in Afrîn zur Qual machten, sind seit einiger Zeit Feinde von ISIS. Aber falls darunter welche fallen, wie in Deyr el-Zor oder der ISIS beitreten, dann ist Afrîn in ernsthafter Gefahr.

Beängstigendes Schweigen
ISIS erhält von der internationalen Gesellschaft in Bezug auf Syrien und Irak eine große Toleranz. Die Welt bleibt passiv, als diese Organisation mit der Bombardierung vier heiliger Grabmäler von Sunniten, Arabern und Sufisten in Mosul und acht Moscheen (Zeynebiye) von Schiiten im Internet bewarb. Und wenn das Ziel der Angriffe Kurden sind, ist die Welt von Grund auf blind und taub. Während die Welt bei den von der Boko Haram entführten Mädchen in Nigeria die Antennen ausfuhr, schweigt sie zu den 160 Jugendlichen aus Kobanê, die am 28. Mai auf dem Rückweg von einer Prüfung aus Aleppo entführt wurden und noch immer von ISIS als Geiseln gehalten werden. Ich befürchte, dass auch in der Türkei durch die anhaltende Kurdenphobie dies keine ausreichende Furcht auslöst. Was sie nicht verstehen möchten ist, dass die einzige Kraft, die ISIS von den Grenzen der Türkei fernzuhalten imstande ist, der Widerstand in Rojava ist. Falls das vollständige Schweigen oder die mittelbare Unterstützung dazu dient, Rojava zu ersticken, dann bedeutet dies es in Kauf zu nehmen, dass falls diese Linie fällt, wird sich ISIS auf einer Länge von 450 km aktiv an die Türkei heran lehnen.
* Fehim Tastekin wurde 1972 in Oltu in der Türkei geboren und studierte bis 1997 Politikwissenschaft und Orientwissenschaften in Istanbul. Ab 1996 begann er seine journalistische Tätigkeit für verschiedene türkische Zeitungen, u.a. bei der Hürriyet-Gruppe. Seit 2003 ist er Redakteur und Kolumnist der Tageszeitung Radikal in Istanbul und schreibt auf Türkisch. Seit einigen Jahren ist Tastekin außenpolitischer Redakteur bei Radikal.
Dabei liegt der Schwerpunkt seiner Arbeit auf dem Mittleren Osten, Syrien, die Kurdenfrage und der türkischen Politik im Mittleren Osten.

Radikal; 09.07.2014, ISKU
Original: http://www.radikal.com.tr/yazarlar/fehim_tastekin/rojava_hatti_turkiyeyi_savunma_hatti-1200799