Die AKP-Diktatur und die kurdische Frage

Zübeyir Aydar, Exekutivratsmitglied des Kurdistan-Nationalkongresses KNK

Die Entwicklungen der letzten zwei Monate in der Türkei und Nordkurdistan waren gekennzeichnet von zunehmenden Militäroperationen, den KCK-Verfahren, der anhaltenden Isolationsfolter gegen den Repräsentanten des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan. Kurzum, von der lösungslosen Politik der türkischen Regierung in Bezug auf die kurdische Frage. Des Weiteren bestimmten die Auseinandersetzungen in Syrien sowie die Entwicklungen im syrischen Teil Kurdistans, in Westkurdistan, die politische Tagesordnung.

Die Militäroperationen weiteten sich ab Juni auf alle Regionen des türkischen Nordkurdistan aus. Folglich nahmen die Gefechte und die Verluste auf beiden Seiten zu. Gegen diese vermehrten Militäroperationen des türkischen Staates verstärkte die kurdische Guerilla ihre Straßenkontrollen und militärischen Aktivitäten. So führten Guerilla-Einheiten am 19. Juni 2012 einen großangelegten Angriff auf eine Militärstation im Dorf Şitîzan (Kızıltaş), Kreis Colemêrg-Gever (Hakkâri-Yüksekova), durch.

Dabei verloren nach Angaben der Volksverteidigungskräfte (HPG) annähernd 100 türkische Soldaten und 7 GuerillakämpferInnen ihr Leben. In diesem Zusammenhang wurden von der Guerilla auch 4 Sikorsky-Helikopter abgeschossen. (Diese Angaben sollen nicht den Krieg verherrlichen, sondern auf die Dimension der Gewalt und deren Opfer hinweisen.) Die HPG erklärten, mit dem Angriff von Şitîzan sei die Phase revolutionärer Operationen begonnen worden und sie würden nicht aus der Region abziehen. Weitere Operationen, Angriffe und Gefechte folgten.

Am 23. Juli standen einige Straßen und Gebiete in Şemzînan (Şemdinli) unter der Kontrolle der Guerilla. Daraufhin erklärten die HPG wiederum, eine neue Operationsphase mit dem Ziel begonnen zu haben, Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen und auch zu halten. In den folgenden Tagen meldeten sie, ihre revolutionären Operationen auch auf Gever (Yüksekova) und Çelê (Çukurca) ausgeweitet zu haben. Tatsächlich finden seit dem 23. Juli in den ländlichen Gebieten dieser drei Regionen täglich Militäroperationen statt, eine Art Stellungskrieg wird geführt. Nach lokalen Informationsquellen hat der Staat die Kontrolle über diese Gebiete verloren. Der Zugang zu den dortigen Militärstationen ist auf dem Boden kaum möglich, daher wird der Kontakt über den Luftweg gehalten. Nach dem Verlust der Kontrolle über diese Regionen griff der türkische Staat auf Methoden zurück, die in den 90er Jahren gängig gewesen waren: Zwangsumsiedlungen mit der Absicht, die Dörfer zu entvölkern, sowie bestimmte Gegenden zu Sperrgebieten zu erklären. Seit dem 23. Juli sind bereits Dutzende Dörfer entvölkert, die Garten-, Land- und Ackerflächen der DorfbewohnerInnen zerstört und verbrannt worden. Durch den Einsatz von Brandbomben kommt es zu Waldbränden. Die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) agiert dort nach der Logik: „Was uns nicht gehört, soll auch niemand anderem gehören.“ Die Region soll aus der Luft und vom Boden aus beschossen und zerstört werden.

Im zivilen Bereich haben in den vergangenen zwei Monaten die seit drei Jahren anhaltenden politischen Operationen, die sogenannten KCK-Operationen, gegen kurdische PolitikerInnen, NGO-VertreterInnen, AktivistInnen sowie gegen Mitglieder unterschiedlicher Berufsverbände nichts von ihrem Tempo verloren. Ein kurzer Rückblick: Die sogenannten KCK-Operationen, benannt nach der ausnahmslos allen Betroffenen vorgeworfenen Mitgliedschaft in der oder Betätigung für die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), begannen am 14. April 2009 und richteten sich anfangs gegen VertreterInnen und PolitikerInnen der Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Später wurden sie auf andere zivilgesellschaftlich und berufsverbandlich Organisierte ausgeweitet. Im Zuge dieser Operationen sind bislang annähernd 10 000 Menschen, unter ihnen Abgeordnete, BürgermeisterInnen und andere KommunalpolitikerInnen, AkademikerInnen, SchriftstellerInnen, AnwältInnen, Journalis­tInnen, GewerkschaftlerInnen, SchülerInnen und StudentInnen festgenommen und zu einem großen Teil in Haft behalten worden. Alle diese Menschen werden des Terrorismus beschuldigt, obwohl niemand von ihnen in Gewaltaktionen verwi­ckelt war und nicht einmal ein Messer sichergestellt werden konnte.

Jüngst war die Konföderation von Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes (KESK) das Angriffsziel. In den frühen Morgenstunden des 25. Juni wurden ihre Zentrale und zahlreiche Nebenstellen zeitgleich durchsucht und insgesamt 58 Personen, unter ihnen auch der KESK-Vorsitzende Lami Özgen, festgenommen. Die Erklärung des KESK-Generalsekretärs Ismail Hakkı zu diesen Operationen war äußerst aufschlussreich: „Alle unsere festgenommenen FreundInnen kennzeichnen zwei Eigenschaften: Erstens waren es die fleißigsten KollegInnen, zweitens sind sie alle KurdInnen.“ Egal wo die Polizeioperationen durchgeführt werden, die eigentliche Zielgruppe sind die KurdInnen.

Am 2. Juli 2012 begann dann schließlich in Silivre nach langen Haftzeiten der Prozess gegen 205 Angeklagte im Istanbuler KCK-Hauptverfahren, unter ihnen Führungskräfte der BDP, WissenschaftlerInnen, SchriftstellerInnen, JournalistInnen. Viele internationale ProzessbeobachterInnen waren anwesend. Auch dieser Prozessauftakt war dadurch gekennzeichnet, dass dem Antrag der Angeklagten auf Verteidigung in ihrer Muttersprache vom Gericht nicht stattgegeben wurde. Nur einzelne Angeklagte äußerten sich auf Türkisch, weil es ihre Muttersprache ist. Nach einer Prozesswoche wurden einige wenige freigelassen, aber keine, die ihre Verteidigung auf Kurdisch beantragt hatten.

Ein weiterer absurder KCK-Prozess – gegen insgesamt 50 AnwältInnen, von denen 37 seit längerem im Gefängnis sitzen – begann vom 16. bis 18. Juli in Istanbul. Dessen Besonderheit ist die Gemeinsamkeit aller in diesem Verfahren Angeklagten, dass es sich bei ihnen um VerteidigerInnen von Abdullah Öcalan handelt. Sie alle haben ihn zu unterschiedlichen Zeiten auf der Gefängnisinsel Imralı getroffen und ihn juristisch vertreten. Auch hier lautet die Anschuldigung auf „Mitgliedschaft und Führungsfunktion in einer terroristischen Organisation“. Dieser Prozessauftakt wurde von annähernd 1000 JuristInnen aus der Türkei sowie Hunderten aus dem Ausland verfolgt. Auch hier entfachte sich der Streit um das Recht auf Verteidigung in der Muttersprache.

Die von der BDP und dem Kongress für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) für den 14. Juli 2012 in Amed (Diyarbakır) geplante Großkundgebung, mit der gegen die verschärfte Isolationshaft des kurdischen Volksrepräsentanten Abdullah Öcalan protes­tiert und die Forderung nach einer Lösung für die kurdische Frage auf der Grundlage der Demokratischen Autonomie bekundet werden sollte, war ja nach anfänglicher Genehmigung vom Gouverneur drei Tage vorher verboten worden. Die kurdische Bevölkerung beugte sich diesem Verbot nicht und ging trotzdem auf die Straße. An diesem Tag war die Stadt von Polizei und Militär belagert, denn tausende Sicherheitskräfte waren aus anderen Städten nach Amed berufen worden und gingen mit verschärfter Gewalt gegen die DemonstrantInnen vor. Amed verwandelte sich an diesem Tag regelrecht in einen Kriegsschauplatz. Die Polizei terrorisierte die Stadt, setzte massenhaft Pfeffergas ein. Infolge der Angriffe wurden Hunderte von Menschen, unter ihnen auch Abgeordnete und BürgermeisterInnen der BDP, verletzt. Der Abgeordneten von Îdir (Iğdır), Pervin Buldan, wurde mit einer gezielt geschossenen Gaskartusche das Bein gebrochen. Gleichzeitig wurden Hunderte festgenommen und verhaftet. All das ist die Praxis einer Politik der AKP, um mit allen Mitteln die BDP politisch zu isolieren. Wäre die Kundgebung nicht verboten gewesen und hätte das nicht zu diesen Ausschreitungen geführt, dann hätten Hunderttausende friedlich und kraftvoll ihre Botschaft vermittelt. Aber genau das sollte unterbunden werden, die Stärke der BDP sollte nicht zum Vorschein kommen.

Der kurdische Volksrepräsentant Abdullah Öcalan wird seit 13 Jahren und 6 Monaten allein in einer Zelle im F-Typ-Hochsicherheitsgefängnis auf der Gefängnisinsel Imralı gehalten. Von 1999 bis 2009 war er dort der einzige Insasse gewesen, dann wurden fünf weitere Gefangene auf die Insel verlegt. Er verbringt die Zeit, bewacht von mehr als 1000 auf der Insel stationierten Soldaten, in Isolationshaft. Das Imralı-Gefängnis unterscheidet sich von allen anderen, weil es einem Sonderstatut unterliegt. Öcalan und die anderen fünf Imralı-Insassen genießen nicht die Rechte, die anderen Gefangenen zustehen. Bis heute wurde ihm so z. B. kein Fernsehen zugestanden. Trotz der Berichte des Antifolterkomitees des Europarates (CPT) und seiner Forderungen nach Verbesserung der Haftbedingungen ist in dieser Richtung bislang nichts unternommen worden. Mit Sonderbefugnis der Regierung werden nun seit über einem Jahr die Isolationshaftbedingungen noch weiter verschärft. Seit dem 27. Juli 2011 verhindert die Regierung willkürlich, dass Abdullah Öcalan sein Recht auf Konsultation mit seinen RechtsvertreterInnen wahrnimmt oder Besuch von seinen Familienangehörigen erhält. Alle Besuchsanträge (bislang über 100) der AnwältInnen werden mit unseriösen und haltlosen Begründungen wie „defektes Boot“ oder „zu schlechtes Wetter“ indirekt abgelehnt. Folglich ist Öcalan mit den weiteren fünf Gefangenen auf Imralı seit über einem Jahr völlig von der Außenwelt abgeschnitten und seitdem gibt es keinerlei Informationen über sie. So wie das ungerechte und rechtswidrige Verhalten der türkischen Regierung hält auch das Schweigen der internationalen Institutionen an.

Die Entwicklungen im Nachbarland Syrien sind ebenfalls von Bedeutung. Seit über 17 Monaten hält der Aufstand gegen die Baath-Diktatur an. Der Freiheitskampf des Volkes in Syrien ist legitim. Auch die KurdInnen haben unter diesem Regime viel Leid erfahren müssen und beteiligen sich an diesem Kampf seit dessen Beginn überwiegend friedlich. Die anhaltenden Auseinandersetzungen scheinen das Regime geschwächt zu haben, gegenwärtig hat es Schwierigkeiten, manche Regionen – kurdische Gebiete sind ebenfalls darunter – zu kontrollieren. Die KurdInnen haben die Situation als Chance begriffen und einige Städte in Südwestkurdistan unter ihre Kontrolle gebracht. Als weiterer wichtiger Schritt der kurdischen Opposition gilt die Gründung des „Kurdischen Hohen Rates“ am 24. Juli, in dem alle kurdischen Gruppen in Syrien vertreten sind. Auf ihre Bekanntgabe hin gingen in ganz Südwestkurdistan hunderttausende KurdInnen auf die Straßen, um sie zu feiern. Die stärkste kurdische Partei in Südwestkurdistan, die Partei der Demokratischen Einheit (PYD), ist ebenfalls in diesem Bündnis vertreten. Die Tatsache, dass die KurdInnen ihre eigene Selbstverwaltung aufbauen, widerstrebt am meisten der Türkei. Deren Regierungs- und ParteirepräsentantInnen, allen voran Ministerpräsident Erdoğan und Staatspräsident Gül, legen eine hysterische KurdInnenfeindschaft an den Tag und geben äußerst harte und bedrohliche Erklärungen ab. Als Reaktion auf die Entwicklungen im syrischen Teil Kurdistans hat die Türkei militärische Belagerungsposten nahe den kurdischen Gebieten errichtet. Über die Medien wird eine umfassende antikurdische Hetzkampagne geführt.

Für die KurdInnen sind solche Kampagnen der türkischen Regierungen nichts Neues. Anlässlich prokurdischer Entwick­lungen im Nachbarland Irak reagierten die damaligen türkischen StaatsvertreterInnen vor Jahren ähnlich. Bekanntlich betrachtet die Türkei jegliche kurdische Errungenschaft als Bedrohung und bekämpft sie entsprechend. Was momentan im Hinblick auf Syrien geschieht, ist dasselbe. Sie erklären, die PYD stehe der PKK nahe und sie würden in keinster Weise eine irgendwie geartete Vertretung dieser Partei im (neuen syrischen) System akzeptieren. In diesem Zusammenhang reis­te der türkische Außenminister Davutoğlu mit einer großen Delegation in das südkurdische Hewlêr (Arbil). Er traf den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, Mesud Bar­zani, VertreterInnen der Regionalregierung und einiger südwestkurdischer Parteien, außer der PYD. Ihr Ziel war es, die neu proklamierte kurdische Einheit zu sprengen, was dort zu einer gewissen Krise führte. Doch aufgrund eines umsichtigen Verhaltens der PYD und der anderen kurdischen Parteien scheiterte das Vorhaben Davutoğlus vorerst. Die Drohungen und Absichten der Türkei in dieser Richtung halten aber noch immer an.

Die AKP-Regierung hatte sich zu Beginn ihrer Amtszeit auf die Werte Recht, Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheiten bezogen und auf diese Weise auch Hoffnungen geweckt. Aber sobald es um die kurdische Sache geht, unterscheidet sich ihre Politik in keinster Weise von der ihrer Vorgängerregierungen, und die aufgelisteten Werte verlieren ihre Bedeutung. Sie hat sich im Allgemeinen immer mehr von diesen Werten und Begriffen entfernt, je stärker sie ihre Macht ausgeweitet hat. Sie sind nur dann DemokratInnen, wenn es ihnen in den Kram passt. Ministerpräsident Erdoğan duldet keinerlei Kritik. Seine Äußerungen aus der jüngsten Zeit sind schockierend. Von denjenigen JournalistInnen, die ihn kritisiert haben, wurden diejenigen mit kurdischem Hintergrund größtenteils ins Gefängnis gesteckt, diejenigen türkischer Provenienz überwiegend entlassen. Oppositionelle und JournalistInnen werden mit Namen und Foto in systemtreuen Presseorganen öffentlich gemacht und zur Zielscheibe erklärt.

Mit welcher Mentalität wir es zu tun haben, soll folgendes Beispiel illustrieren: Der türkische Innenminister Idris Naim Şahin äußerte angesichts der Gefechte in Colemêrg (Hakkari) Anfang August: „Die außerordentliche Tagesordnung des Landes ist nicht nur auf die militärischen Auseinandersetzungen zu begrenzen. Diese Gefechte finden in Istanbul ihre Fortsetzung in Schriftwerken. Die Mörsergranaten, die auf Geçimli [Polizeistation, die am 4. August von der Guerilla angegriffen wurde] abgefeuert wurden, unterscheiden sich nicht von den Zeitungsartikeln, die hier in Ankara geschrieben werden.“ Wie können sich die BürgerInnen eines Landes sicher fühlen, wenn ein solcher Innenminister die Sicherheit gewährleisten soll? Die Bewertung überlasse ich den LeserInnen.

Der kurdischen Karte kommt im Hinblick auf die Entwick­lungen in der Türkei und in der Region immer mehr Bedeutung zu. Ein Erstarren in antikurdischer Politik hat bislang keiner Regierung der Türkei Nutzen gebracht, geschweige denn dem Lande selbst. Immer mehr KolumnistInnen und ExpertInnen erklären, dass die Türkei mit ihrer bisherigen KurdInnenpolitik regional nicht in der Lage sein wird, eine positive Rolle zu spielen. Die KurdInnen als die lokalen VerliererInnen nach dem Ersten Weltkrieg werden die GewinnerInnen von heute sein. Die politischen und militärischen Fähigkeiten, die sie heute zeigen, beweisen deutlich, dass sie entschlossen sind, aus der Neuordnung der Region als ein Volk mit Status hervorzugehen. Wer diese Realität ignoriert und dieser Entwicklung mit aller Kraft entgegenzutreten versucht, wird die Chance nicht genutzt haben und sich zunehmend zu einer reaktionären Kraft entwickeln, die selbst ein Hindernis in der Region darstellt.

Aus dem Kurdistan Report Nr. 163 entnommen

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