Die Türkei auf dem Weg zum Verfassungsreferendum

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 23.02.2017

Wie bekannt, hat das türkische Parlament am 21. Januar dieses Jahres die aus 18 Artikeln bestehende geplante Verfassungsänderung abgesegnet. Mit 367 Stimmen, also einer 2/3 Mehrheit, hätte das Parlament die Verfassungsänderung alleine verabschieden können. Doch dafür haben die gemeinsamen Stimmen der AKP und MHP Abgeordneten nicht ausgereicht. Da allerdings die Hürde von 330 Stimmen im Parlament genommen werden konnte, wird nun per Referendum über die Verfassungsänderung abgestimmt. Zuvor musste noch der türkische Staatspräsident Erdoğan seine Unterschrift unter die geplante Verfassungsänderung setzen, was er am 10. Februar tat. Und dann konnte der Tag des Referendums verkündet werden: Der 16. April 2017.

Es gab zunächst Spekulationen darüber, weshalb Erdoğan sich so lange Zeit mit der Unterzeichnung gelassen hatte. Immerhin geht es um die Verfassungsänderung, mit der ein System in der Türkei etabliert werden soll, das komplett auf seine Person zugeschnitten ist. Und auch sonst sind solche Verzögerungen nicht gerade üblich für den türkischen Staatspräsidenten, der lieber schnell als langsam handelt. Manch einer vermutete deshalb schon, dass Erdoğan es nicht zum Referendum kommen lassen wird, da die Umfragen derzeit mehr Nein- als Ja-Stimmen prognostizieren. Doch diese Spekulationen wurden dann mit der Unterzeichnung des Entwurfs durch Erdoğan wiederlegt.

Am Tag des Referendums werden die türkischen Staatsbürger nun mit der Frage konfrontiert sein, ob sie der neuen Verfassung zustimmen wollen oder eben nicht. Das Ergebnis dieser schlichten Ja- oder Nein-Frage wird allerdings für die Türkei, für den Mittleren Osten und die gesamte Welt von großer Tragweite sein. Es geht nämlich um viel mehr, als eine einfache Verfassungsänderung. Es geht um die Frage, ob in der Türkei eine Diktatur etabliert wird, oder ob es gelingt, die Hoffnung auf eine Demokratisierung des Landes trotz aller Rückschläge noch am Leben zu halten. Eigentlich ist in der Türkei seit den Wahlen vom 7. Juni 2015 das Thema Demokratie aufs Abstellgleis gestellt worden. Dasselbe gilt auch für die Menschenrechte im Land. Mit dem Verfassungsreferendum bietet sich nun womöglich die vorerst letzte Möglichkeit, das Gesicht der Türkei in Richtung Demokratie zu wenden. Hierfür bedarf es allerdings einer großen Kraftanstrengung. Und trotz aller Schikanen, Repressionen und Angriffe der AKP versucht die Opposition eine solche Kampagne für den Erhalt der Demokratie in die Wege zu leiten

Auf der anderen Seite ist auch klar, dass bei einem “Ja” zum Referendum die Türkei vollends in die Ein-Mann-Diktatur geführt wird. Der Staatspräsident wird diejenigen Entscheidungen fällen können, die ihm belieben und es wird in der Praxis keine Instanz geben, die ihn zu kontrollieren vermag. Welche Folgen das Ganze haben kann, das zeigen die Erfahrungen aus dem derzeitigen Ausnahmezustand. Auch hier regiert der Staatspräsident ungehindert. Er kann am Parlament vorbei mittels Dekreten das Land führen. Das Ergebnis dessen ist, dass selbst das Recht auf Leben mit Füßen getreten wird, wie wir es derzeit tagtäglich in Kurdistan sehen.

Ursprünglich war der Ausnahmezustand zum Zwecke des Kampfes gegen die Putschisten, insbesondere gegen die Gülen-Gemeinde ausgerufen worden. Doch in der Realität sind vor allem linke Kräfte und die Kurden nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 auf die Zielscheibe der AKP geraten. Ganze 102.000 Menschen wurden seitdem aus ihren Arbeitsverhältnissen entlassen. Es immer noch unklar, wie und durch wen diese umfangreiche Zusammenstellung an Namen von Personen angefertigt wurden, die wohl schon länger auf der Abschussliste standen. Unter den Entlassenen befinden sich hunderte Akademiker, die allein wegen der Unterzeichnung einer Friedenserklärung die Stellung räumen mussten. Hinzu kommen unzählige Lehrer und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Nicht zu vergessen sind auch die hunderten Radio- und Fernsehsender, Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Zeitschriften und Internetseiten, die geschlossen wurden.

Staatspräsident Erdoğan und seine AKP-Regierung verspüren mittlerweile noch nicht einmal das Bedürfnis, ihre Medienzensurpolitik zu verschleiern. Unter dem Label der “nationalen Sicherheit” wird rabiat gegen Journalisten und Medien vorgegangen. Hinzu kommt der  Entschluss der türkischen Medienaufsichtsbehörde RTÜK, die in ihrer Mehrheit aus AKP-Mitgliedern besteht, dass fortan Eilmeldungen über Terroranschläge in den Medien verboten sind. Bevor also eine Meldung über einen Anschlag in der Türkei an die Öffentlichkeit weitergegeben werden kann, muss diese durch RTÜK abgesegnet werden.

Bekämpfung der HDP als Teil der AKP-Referendumskampagne

Allein in der vergangenen Woche wurden in der Türkei mehr als 2000 Mitglieder der HDP festgenommen. Diese Festnahmewellen fallen mitten in eine Zeit, in der die Partei ihre “Nein-Kampagne” vorbereitet.  Die Repressionen gegen die HDP und ihre Teilorganisationen sind allerdings keine neue Situation. So stehen derzeit 75 von insgesamt 103 Stadtverwaltungen der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der größten Teilorganisation der HDP, unter Zwangsverwaltung und werden von AKP-Bürokraten geleitet. In den übrigen Stadtverwaltungen, in denen die DBP bei den Kommunalwahlen 2014 die Mehrheit erlangt hatte, ist jede Entscheidung der Bürgermeister an das Einverständnis des Gouverneurs geknüpft, was de-facto ebenfalls einer Zwangsverwaltung gleichkommt. Hinzu kommt, dass derzeit 13 Abgeordnete der HDP sich in Haft befinden. Allein die gegebene Situation reicht aus, um die Legitimität eines Verfassungsreferendums in Frage zu stellen.

Seit den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 ist die HDP einem enormen staatlichen Druck ausgesetzt. Ihr wird geradezu der Raum für die politische Betätigung entzogen.  Zu den jüngsten Ergebnissen dieser Politik zählen die Aberkennung des Abgeordnetenmandats der inhaftierten HDP Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und die erneute Festnahme des HDP-Abgeordneten Idris Baluken. Es scheint, dass die AKP mittlerweile auch damit begonnen hat, ihre Repressionspolitik auf andere Kreise zu übertagen: So wurde Sera Kadigil, Mitglied des Vorstands der kemalistischen CHP, kurzzeitig festgenommen, nachdem sie zuvor in einer Fernsehsendung ausführlich die Auswirkungen der geplanten Verfassungsänderung geschildert hatte. Sie ist nun aufgrund von “Beleidigung des Präsidenten” angeklagt worden und in politischen Fernsehsendungen ist sie auch kein gerngesehener Gast mehr. Bei der rechtsradikalen MHP hat unterdessen auch eine Säuberungswelle gegen all jene begonnen, die sich gegen die Einführung des Präsidialsystems stellen. Zahlreiche Mitglieder der Partei haben nun mit Ausschlussverfahren zu kämpfen. Eine Saalveranstaltung von über 1.500 MHP-Mitgliedern, die sich gegen die Verfassungsänderung stellen, wurde am 18. Februar in Ankara zunächst von der Polizei belagert, bevor die Stromleitungen im Saal gekappt wurden. Mit Hüseyin Sözlü wurde zudem ein prominentes MHP-Mitglied, der zugleich Bürgermeister von Adana ist, und zum Lager der “Nein-Sager” innerhalb der MHP gehört, zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Grund ist zwar offiziell eine Korruptionsaffäre, aber das überzeugt nicht wirklich jeden. Adana, immerhin die viertbevölkerungsreichste Stadt der Türkei, soll nun ebenfalls unter Zwangsverwaltung gestellt werden.

Mit dem Krieg gegen die Kurden das nationalistische Wählerpotential mobilisieren

Hatte der türkische Staat im vergangenen Jahr sich der Kriegsverbrechen in einer Vielzahl von kurdischen Städten schuldig gemacht, so hat sie nun ähnlich wie in den 90er Jahren begonnen, die ländliche Bevölkerung Kurdistans zu terrorisieren.  So tauchten in den letzten Tagen Bilder aus dem Dorf Xerabê Bava bei Nisêbîn in den Sozialen Medien auf, die zeigen, wie Soldaten vor den Leichnamen von Menschen posieren, die offensichtlich zuvor gefoltert worden sind. Das Dorf ist weiterhin von der Öffentlichkeit abgekapselt. Und auch in anderen Dörfer in der Region herrscht eine strikte Ausgangssperre.

Neben dem Krieg des türkischen Staates in Nordkurdistan droht die Regierung in Ankara immer wieder auch den Demokratischen Kräften Syriens und der Selbstverwaltung von Rojava. Auch hier wurden bereits mehrfach Stellungen der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten durch das türkische Militär und den mit ihr verbündeten Gruppen beschossen und angegriffen. Das Ansteigen dieser Angriffe des türkischen Staates in der Zeit vor dem Referendum werten viele als den Versuch der AKP, durch die Bekämpfung der kurdischen Errungenschaften die Werbetrommel in nationalistischen Kreisen für ein “Ja” beim Referendum zu rühren. Die MHP Wählerschaft soll so von der Notwendigkeit eines “starken Mannes” an der Spitze des türkischen Staates überzeugt werden.

In Kurdistan hat unterdessen die islamistische Hür Dava Partei (kurz Hüda-Par) bekannt gegeben, dass sie die Verfassungsänderung und somit das Präsidialsystem unterstützt. Die Anhängerschaft der Hüda-Par ist im Prinzip deckungsgleich mit den Unterstützern der islamistisch-kurdischen Organisation Hizbullah, die in den 90er Jahren gemeinsam mit den Strukturen des Tiefen Staates für unzählige Morde an kurdischen Aktivisten verantwortlich war.  Die “Nein”-Front beim Referendum reicht hingegen von der HDP über die CHP und einen Teil der MHP Wähler bis hin zur islamistischen Saadet Partei, aus deren Tradition ursprünglich auch Erdoğan und seine Gefolgschaft stammen, bevor sie die AKP gründeten.

Trotz der widrigen politischen Bedingungen, welche die Legitimität des gesamten Verfassungsreferendums in Frage stellen, ruft die Opposition im Land also zum größten Teil zu einem Nein beim Referendum auf. Doch es stellt sich vor dem Hintergrund der Situation in der Türkei auch die Frage, weshalb die Opposition nicht zu einem Boykott am 16. April aufruft? Die Antwort auf diese Frage liegt in der anfangs zur Sprache gebrachten Bedeutung des Verfassungsentscheids. Denn sollte sich die Mehrheit der Bevölkerung für ein Nein entscheiden, wird das den Grundstein für ein Ende der Erdoğan-Diktatur in der Türkei legen und die Hoffnungen auf eine Demokratisierung von Neuem erblühen lassen.

Doch wir dürfen nicht der Annahme verfallen, dass der türkische Staatspräsident bei einem Nein bis auf Weiteres seine Agenda begraben wird. Es scheint eher, dass Erdoğan in jedem Fall versuchen wird, sich an seinem Sessel festzukrallen. Viele Kreise gehen zudem davon aus, dass der Krieg gegen die Kurden sich auch bei einem Nein am Referendumstag weiter intensivieren wird. Bereits jetzt kündigen AKP-Vertreter an, dass ein mögliches Nein zu einem Bürgerkrieg in der Türkei führen wird. Dabei handelt es sich wohl um mehr als bloße Wahlkampfdrohungen, denn die AKP-Anhängerschaft hat bereits offen damit begonnen, sich zu bewaffnen. Das Ganze wirkt wie eine großangekündigte Vorbereitung auf einen Bürgerkrieg.

Ein starkes Nein wird dennoch den Plänen für eine Erdoğan-Diktatur einen herben Schlag versetzen. Aus diesem Grund mobilisieren die verschiedenen Kreise, die sich gegen die Verfassungsänderung stellen, ihre eigene Anhängerschaft und versuchen den Einschüchterungsversuchen der AKP  zu trotzen. Gelingt es der demokratischen Opposition aus diesen schwierigen Zeiten mit einem starken Nein hervorzutreten, wird das der Hoffnung auf bessere Zeiten in der Türkei in jedem Fall starken Auftrieb geben.