Es wird ein Neuanfang sein

Die YPJ-Kommandantin Clara Reqa beantwortet die Fragen des Journalisten Eren Kansoy zur Befreiung von Rakka, 23.10.2017

Wie hat euch die Bevölkerung von Rakka im Zuge der Befreiung empfangen?

Während der Unterdrückung der Bevölkerung seitens des Islamischen Staates (IS) wurden in den letzten Jahren Verleumdung und Antipropaganda gegen uns betrieben. Unsere Freunde, die für die Freiheit von Rakka und die Verteidigung der lokalen Bevölkerung ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, machten diese Kampagnen unwirksam. Indem das Volk die Aufopferungsbereitschaft und den Heldenmut unserer Freunde während des Kampfes hautnah miterlebte, wurden die Lügen des IS zunichte gemacht. Durch die Befreiung der Dörfer und Straßenzüge konnten wir die Rückkehr der lokalen Bevölkerung sicherstellen. Die Rakka-Operation wurde auf Verlangen der Bevölkerung aufgenommen. Vor der Befreiungsaktion wurde der Zivilrat von Rakka gegründet und Versammlungen wurden abgehalten, die die Vertreter verschiedener Stämme und Gruppierungen zusammenbrachten. Während der Operation erschienen in den Medien Bilder, die zeigten, dass die Bevölkerung von Rakka die Kräfte der QSD (Demokratische Kräfte Syriens), YPG (Volksverteidigungseinheiten) und der YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) mit Freude empfangen hat. Diese Kräfte haben vom Volk eine große Unterstützung erfahren. Nachdem einige Stadtgebiete befreit wurden, haben sich hunderte arabische Jugendliche der QSD angeschlossen, von denen Dutzende gefallen sind. Die Bevölkerung hat seit Jahren auf diesen Moment gewartet.

Welche Zukunft erwartet nun Rakka?

Seitdem die Befreiungsaktion gestartet wurde, werden wir mit dieser Frage konfrontiert. Nach der IS-Okkupation wird die Frage gestellt, welches System etabliert werden soll. Unsere Lebensphilosophie unterscheidet sich einerseits vom System des Baath-Regimes und andererseits ganz klar von der des Islamischen Staates. In den bisherigen befreiten Städten bzw. Regionen lassen sich die Ergebnisse dessen sehen. Vor der Befreiung von Rakka kann Manbidsch hierfür mustergültig genannt werden. Unser Ziel ist die Nordsyrische Föderation. Als Manbidsch befreit wurde, wurde der Zivilrat als auch Militärrat von Manbidsch gegründet. Unser Ziel ist es nicht nur diese Gebiete zu befreien, sondern im selben Zuge die Bevölkerung dabei zu unterstützen, eine neue Gesellschaftsform zu organisieren. Es wird Zeit in Anspruch nehmen, die Bevölkerung vom Einfluss des Baath-Regimes und des IS zu befreien. Aber mit der Unterstützung der Bevölkerung haben wir hierfür sowohl die nötige Kraft als auch den Glauben. Die Verwaltung von Rakka wird zukünftig der eigens gegründete Volksrat übernehmen. Die Verteidigung der Stadt hingegen werden die Sicherheitskräfte von Rakka übernehmen. Die Grundlage hierbei wird die Selbstverwaltung der Bevölkerung darstellen. Dieses Ziel hat für uns oberste Priorität.

Die YPJ war innerhalb der Rakka-Befreiungsoperation nicht nur an der Front aktiv, sondern auch Bestandteil der Operationskoordination. Die Freiheit von Rakka nimmt im Kontext der Entführung der êzîdischen Frauen, die hierhin verschleppt wurden, eine wichtige Rolle ein. Die YPJ nahm sich dieser Pflicht an. Was können Sie hierzu sagen?

Nicht nur an der Rakka-Operation, sondern auch in Manbidsch, Kobanê und allen anderen Operationen war die YPJ als Vorreiterin beteiligt. Sie spielten und spielen weiterhin überall eine wichtige Rolle. In Rakka, als ein Ort, wo die êzîdischen Frauen auf dem Bazar verkauft wurden, war die Beteiligung der YPJ an der Befreiungsoperation von enormer Bedeutung. Die YPJ ist nicht nur eine Verteidigungskraft. Sie repräsentiert zugleich durch ihren geleisteten Widerstand, die Verteidigung ihrer Gedanken und ihre Wirkungskraft im Leben eine neue Lebensphilosophie. Dadurch gewann sie an Bedeutung, welche seitens der Bevölkerung akzeptiert wurde. Der militärische Aufstieg der YPJ mit ihrer heutigen Durchschlagkraft stellt somit eine Antwort auf das weit zurückgehende System der Männervorherrschaft gegenüber der Frau dar, welches derzeit besonders deutlich in Form der IS verkörpert wird. Der Kampf der YPJ kommt einer Rache gleich. Wir kämpfen nicht nur im Namen der kurdischen Frauen, sondern für alle Frauen. Die Frauen innerhalb der YPJ stammen von den verschiedensten Volksgruppen ab. Im Kampf gegen die Männervorherrschaft sollten die Völker ein demokratisches System errichten, in welchem die Frauenrechte verteidigt werden. Hierbei möchten wir die Frauen der verschiedensten Völker zusammenbringen und vereinen. Die Frauen, die permanenter Gewalt ausgesetzt sind, nehmen jetzt in einer Region wie dem Nahen und Mittleren Osten im Kampf ihren Platz ein. Sie kämpfen für die Freiheit aller Völker und nehmen in diesem Kampf die Vorreiterrolle ein. Dass Frauen gar in einer Operation wie für die Befreiung Rakkas die Koordination übernehmen können, wurde bis vor Kurzem noch als ein Ding der Unmöglichkeit betrachtet. Der Kampf der kurdischen Frauen für Freiheit und die YPJ verwirklichten nun dieses ‚Wunder‘.

Sie stammen selbst aus Rakka und haben in den Reihen der YPJ an dieser Operation teilgenommen. Wer ist Clara Reqa? Was bedeutet Ihre derzeitige Anwesenheit hier für Sie? Können Sie uns Ihre Gefühle erklären, die Sie während des Kampfes empfunden haben?

Meine kurdische Familie stammt ursprünglich aus Kobanê, jedoch wuchs ich seit meiner Kindheit in Rakka auf. Als 2004 der Widerstand von Qamislo begann, war ich Studentin und kam erstmals in Kontakt mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Aufgrund der Repressionen seitens des Baath-Regimes kam ich in Untersuchungshaft. Wegen den stetig gestiegenen Repressionen nahm meine Wut von Tag zu Tag zu. Nachdem sich die YPG im Jahre 2011 gegründet hatte, nahm ich in ihren Reihen teil bis ich mich der YPJ anschloss. In Rakka bin ich zur Schule gegangen, habe hier meine ersten Freundschaften geschlossen, wodurch ich begann, das Leben kennen zu lernen. In den Straßen von Rakka fallen mir hunderte von Erinnerungen ein. Aus diesem Grund erlebe ich zwei Zeiträume in einem: einerseits in der Vergangenheit und andererseits im Hier und Jetzt. Während des Kampfes haben sich ständig Erinnerungen aus meiner Kindheit in mein Bewusstsein gedrängt. Als eine kurdische Frau, als Kämpferin der YPJ und als eine Frau, die bei der Operationskoordination teilnahm, nahm ich bei der Befreiungsaktion von Rakka teil, wo ich selbst meine Kindheit verbrachte. Diese Gefühle zu erklären, fällt mir sehr schwer. Unter Zeiten des Baath-Regimes haben wir Unterdrückung erfahren. Unsere Sprache, unsere Newroz-Feierlichkeiten und unsere Freuden wurden uns verboten. Die Kurden wurden verleugnet und ausgeblendet. Als Volk wurde unsere Freude uns ständig verboten. Momentan lebe ich die Freude aus, die uns bisher ständig verboten wurde. Erst jetzt kann ich verstehen, was uns genommen wurde.

Ich erlebe gerade zwei Momente in einem: Einerseits fühle ich die Trauer der Bevölkerung, die sie aus ihrer Leidenszeit hier erfahren hat. Und andererseits erlebe ich in großer Glücklichkeit die Befreiung der Bevölkerung.