Nordkurdistan: Schulboykott für muttersprachlichen Unterricht

Kurdische_Schule_AmedAli Çiçek, 22.09.2014

Während alle ihr Augenmerk auf die sich überstürzenden Entwicklungen im Irak und Syrien richten, ereigneten sich in der vergangenen Woche auch in Nordkurdistan wichtige Entwicklungen im langjährigen Kampf der kurdischen Zivilgesellschaft für muttersprachlichen Unterricht, die in den deutschsprachigen Mainstream-Medien keinerlei Beachtung fanden. Während für Millionen Kinder in der Türkei am vergangenen Montag (15.09.) die Sommerferien endeten und für sie die Schule wieder begann, blieben die staatlichen Schulen in vielen Provinzen im Osten des Landes leer. Millionen kurdische Kinder und Jugendliche boykottierten unter dem Motto ,,Unsere Sprache ist unsere Existenz” eine Woche lang für das Recht auf muttersprachlichen Unterricht die staatlichen Schulen Die kurdische Gesellschaft begnügte sich jedoch nicht mit einem Boykott; stattdessen wurden im Rahmen des Aufbaus der Demokratischen Autonomie in Nordkurdistan an drei Orten Pilotprojekte für Bildung in der kurdischen Sprache begonnen. Im Stadtteil Bağlar der Stadt Amed (Diyarbakir), in der Stadt Cizîr (Cizre) und in Gever (Yüksekova) wurden drei alternative Schulen eröffnet, an denen die kurdischen Kinder erstmals Unterricht in ihrer Muttersprache erhielten. Die Tagesordnung im Nordkurdistan war eine Woche lang von diesem gesamtgesellschaftlichem Boykott, den damit verbundenen Aktionen in den Metropolen, den alternativ aufgebauten Sprachschulen und von den gleich einsetzenden Repressionen des türkischen Staates betroffen.

Vor einer näheren Darstellung der Ereignisse vergangener Woche, den konkreten Forderungen der kurdischen Seite und den politischen Hintergründen, skizzieren wir kurz die Assimilationspolitik des türkischen Staates.

Linguizid an sprachlicher Vielfalt der Region

Die Türkei führt ihre Politik des ,,Linguizids” (Vernichtung einer Sprache) gegen die kurdische und viele weitere Sprachen seit 1925 in verschiedenen Facetten und Praktiken fort. Kurz nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne (1923) und des damit einhergehenden Aufbaus des türkischen „National-Staats“ wurde eine Homogenisierung (bzw. Türkisierung) innerhalb der Gesellschaft der Türkei angestrebt. Für die breite Bevölkerungssteile in der Türkei, die keine türkische Identität hatten, bedeutete dies die vollständige Leugnung ihrer Existenz sowie ihrer Sprache.

Trotz der Unterzeichnung der „Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ durch die Türkei im Jahr 1992, die eine Förderung des Gebrauchs von Regional- und Minderheitensprachen und eine Ausweitung deren Gebrauchs in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen vorsieht, werden alle in der Türkei gesprochenen Sprachen, wie Lasisch, Tscherkessisch, Arabisch und Kurdisch in den Schulen als ,,Wahlfach” eingeordnet. Forderung nach muttersprachlichem Unterricht dieser Sprachgemeinschaften wird als Separation bezeichnet. In einer Erklärung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) anlässlich des Schulbeginns am vergangenen Montag, werden die Schulen der Türkei als „Räume der ethnischen und konfessionellen Assimilation“ definiert. Neben der Kritik des türkischen Bildungssystems aufgrund der Behinderung muttersprachlichen Unterrichts, wird auch die homophobe, patriarchale und chauvinistische Mentalität in den Bildungsmethoden der staatlichen Schulen angesprochen.

Wochenrückblick: Schulboykott, alternative Kurdischschulen und staatliche Repression  

Der erste Tag des Schulboykotts begann mit Massendemonstrationen und Pressekonferenzen in der Türkei und in Nordkurdistan, auf denen muttersprachlicher Unterricht gefordert wurde. Angeleitet wurde der einwöchige Schulboykott vom Sprach- und Bildungskomitee der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), NGO’s wie TZP-Kurdî, KURDÎ DER, Mala Piştgiriyê ya Zimanê Kurdî (MAPER), der Gewerkschaften Eğitim Sen und KESK, dem Menschenrechtsverein İHD sowie dem Demokratischen Gesellschaftskongress (DTK), der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) und der Partei der Demokratischen Völker (HDP). Besonders in den Provinzen Amed (Diyarbakir), Şirnex (Şırnak), Colemêrg (Hakkari), Wan (Van), Êlih (Batman), Mêrdîn (Mardin), Mûş (Muş), Dersim (Tunceli), Çewlîg (Bingöl), Riha (Urfa), Qers (Kars), Erzerom, Erdexan (Ardahan), Sêrt (Siirt) Agirî (Ağrı) Semsûr (Adıyaman) Îdir (Iğdır) gab es eine hohe Beteiligung am Boykott.

In den Städten Amed, Cizîr und Gever wurden alternative Kurdischschulen unter Beteiligung von zehntausenden Menschen feierlich eröffnet. Anschließend begann für hunderte kurdischer Schüler erstmals Unterricht in ihrer Muttersprache. Wie erwartet, leitete die türkische Justiz am selben Tag unter dem Vorwurf der „Unerlaubten Eröffnung einer Bildungseinrichtung“ und „Verbrechen im Namen einer Organisation [gemeint ist die PKK]“ durch das Türkische Strafgesetzbuch (Türk Ceza Kanunu, TCK) Verfahren ein. Am selben Tag wurden alle drei Kurdischschulen von der Polizei geschlossen.

Die örtliche Bevölkerung eröffnete am nächsten Tag wieder die Schulen und ermöglichte, dass der muttersprachliche Unterricht fortgesetzt werden konnte. Und am selben Tag wurden die Schulen ein zweites Mal von der Polizei geschlossen. Die Bevölkerung versuchte, die Schließung durch die Polizeikräfte zu verhindern, indem sie die Schulen und deren Gärten besetzten. Die Polizei antwortete mit brutalen Übergriffen auf die AktivstInnen, die sich für muttersprachlichen Unterricht einsetzen. Auch Pressevertreter wurden mit Tränengas und Wasserwerfern an ihrer Arbeit behindert. Die Schließung der Schulen wurde mit Gewalt durch die Polizeikräfte durchgesetzt. Bis in die Abendstunden kam es daraufhin in den betroffenen Städten zu Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der türkischen Polizei, die bis zum Ende der Woche anhielten. Der türkische Justizminister Bekir Bozdağ rechtfertigt die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wie folgt: „Wenn ihr meint, nach Lust und Laune eine Schule eröffnen und Schüler unterrichten zu können, kann es keinen Rechtsstaat geben. Wenn wir alle den Rechtsstaat verteidigen wollen, müssen wir uns seinen gesetzlichen Regeln anpassen.” Die KCK erklärte in einer Stellungnahme am 16.09., dass diese menschenunwürdige Sprachpolitik der Türkei ein „kultureller Genozid” an der kurdischen Gesellschaft sei. Es zeige klar die Unaufrichtigkeit der AKP-Regierung hinsichtlich einer Lösung der kurdischen Frage.

Lösungsprozess und muttersprachlicher Unterricht

Eine der zentralen Hauptforderungen der kurdischen Seite im gegenwärtigen Dialogprozess mit der türkischen Regierung ist neben einer verfassungsrechtlichen Sicherung der Existenz, Identität und Kultur der KurdInnen, sowie einer Dezentralisierung der Türkei, die Akzeptanz muttersprachlichen Unterrichts auf allen Ebenen. So erklärte Nursel Aydoğan, DBP-Abgeordnete aus Amed, an die Regierung gewandt: ,,Ohne den Weg für muttersprachlichen Unterricht freizumachen, wird die kurdische Frage nicht gelöst werden!”. Auch Kamuran Karaca, Vorsitzender der türkischen Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen, erklärte in einer Reportage mit der Tageszeitung Özgür Gündem, dass „muttersprachlicher Unterricht Teil des Lösungsprozesses sei”.

Aufbau der demokratischen Selbstverwaltung

Der Boykott spiegelt das Verständnis der kurdischen Bewegung über den Dialogprozesses wieder. Im Rahmen der Aufbauphase der Demokratischen Autonomie gibt es keine Erwartungshaltung an den Staat. Der Staat soll durch die Schaffung von Strukturen zur Selbstorganisation und Selbstverwaltung auf allen Ebenen überwunden werden. So sind auch die drei alternativen Schulen mit muttersprachlicher Bildung aufzufassen, die wie die kurdische Bewegung erklärte, auf alle kurdischen Provinzen ausgeweitet werden sollen.

Bildungspolitik auf kommunale Ebene

In einer Reportage der Nachrichtenagentur ANF mit der Kobürgermeisterin von Amed, Gültan Kışanak erklärte diese, dass die Eröffnung von Grundschulen mit muttersprachlichem Unterricht kein Problem der Prozedur sei. Entweder müsse der Staat muttersprachlichen Unterricht geben, diese Kompetenz an die Kommunen abgeben, oder der Bevölkerung die eigenständige Eröffnung von Schulen gestatten. Kışanak wandte sich gegen kostenpflichtige Privatschulen, in denen kurdisch unterrichtet werden dürfe. Kurdischsprachiger Unterricht müsse eine öffentliche Dienstleistung werden.

„Das Problem der Muttersprache kann in der Türkei nicht mit einer zentralen Bildungspolitik gelöst werden. Deshalb müssen im Punkt Bildung den kommunalen Selbstverwaltungen Kompetenzen übertragen werden. Jede kommunale Selbstverwaltung kann seiner Bevölkerung einen Bildungsprozess organisieren, die auf die Bedürfnisse der Gesellschaft eine Antwort gibt – aber natürlich im Rahmen von zentral festgelegten Grundprinzipien. Das ist im Allgemeinen eine Maßnahme, welche die Lösung der kurdischen Frage und das Problem des muttersprachlichen Unterrichts erleichtern wird. (…) In allen europäischen Ländern läuft die Bildungspolitik auf kommunaler Ebene (…). Die Zentralregierungen legen einige Kriterien fest. Es gibt einen groben Rahmen. Diesen Rahmen mit öffentlichen Dienstleistungen zu füllen, ist Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltungen. Das ist eine vereinfachende Maßnahme, welche die Türkei auch anwenden muss”, erklärte Kışanak.

Fazit

Der einwöchige Schulboykott der kurdischen Gesellschaft zeigt klar und deutlich, dass die AKP-Regierung in der Assimilationspolitik der Türkei keine Ausnahme darstellt. Sie arbeitet weiter daran, die seit knapp 90 Jahren andauernde türkische Assimilationspolitik durchzusetzen. Gegenüber dem türkischen Staat steht jedoch der politische Widerstand der kurdischen Bewegung, die mit dem Boykott ein klares Zeichen an die türkische Regierung gegeben hat. Die kurdische Freiheitsbewegung in Nordkurdistan hat mit dem Boykott gezeigt, dass sie sich in der kurdischen Gesellschaft vergesellschaftet hat und den Demokratischen Konföderalismus selbst verwirklichen wird – nach einer „Erlaubnis” des türkischen Staates wird sie nicht mehr fragen!