Schwarze Fahne – der Kampf gegen ISIS

rojava_flaggeAnja Flach, Ethnologin, Rojava-Delegation der Kampagne TATORT Kurdistan*

Im Juli 2012 übernahmen kurdische Organisationen unblutig die Kontrolle in Städten und Dörfern in Rojava, im kurdischen Norden Syriens, entlang der Grenze zum kurdischen Gebiet der Türkei.

»Wo Syrien schon frei und demokratisch ist«, titelte jüngst sogar die Tageszeitung Die Welt ((www.welt.de/politik/ausland/article128652793/Wo-Syrien-schon-frei-und-demokratisch-ist.html)) und beschrieb die Basisorganisierung in Rojava in leuchtenden Farben. Auch wir als Delegation, die Rojava im Mai besuchten, können dies bestätigen: Gäbe es nicht das Embargo von Seiten der Türkei und Südkurdistans auf der einen Seite und die islamistischen Banden auf der anderen Seite, könnte Rojava eine Insel des Friedens und der Demokratie im Mittleren Osten sein. Die islamistischen Banden, allen voran ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien), versuchen jedoch wichtige Gebiete, vor allem in der Erdölregion im Nordosten Syriens (Cizîre) und im Nordirak, unter ihre Kontrolle zu bekommen. Dabei werden sie von fast allen regionalen Kräften direkt oder indirekt unterstützt. Alle wollen das Projekt der Demokratischen Autonomie in Rojava zerstören, das Projekt einer Frauenrevolution, denn es ist eine wirkliche Alternative und damit eine Bedrohung für ihre eigenen korrupten, patriarchalen und ungerechten Systeme.

Am 8. und 9. Mai hat ISIS die zweitgrößte Stadt des Irak, die Millionenstadt Mûsil (Mosul), erobert; sie ist das kommerzielle Zentrum des Irak und die wichtigste Durchgangsstation auf dem Weg nach Syrien. Häufiger wurden sie in Nachrichtensendungen als »sunnitische Rebellengruppe, die sich mit schiitischen Gruppen bekämpft« ((z. B. Der Standard aus Österreich, 13.6.2014)), bezeichnet , das ist mehr als verharmlosend.

Wer ist ISIS?
ISIS entstand nach der US-geführten Irak-Invasion im Jahr 2003. Ihr Anführer ist Abu Bakr al-Baghdadi. Bis Anfang dieses Jahres galt der ISIS noch als Mitglied des Terrornetzwerkes Al-Qaida. Dieses sagte sich jedoch im Februar von ISIS los. ISIS bezeichnet sich selbst als radikaler als Al-Qaida. Auch von der Al-Nusra-Front, mit der ISIS noch im Krieg in Serê Kaniyê und Til Kocer (al-Yarubiyah) Seite an Seite gegen die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ kämpfte, trennte sich ISIS inzwischen. Beide Organisationen kämpfen gegeneinander um die Kontrolle der Städte Raqqa und Deir ez Zor ((ANHA, 9.6.14)) in Syrien. Al-Nusra verliert jedoch zunehmend an Boden. Für die KurdInnen ist es ohnehin einerlei. Sie nennen alle diese radikalislamischen Gruppen, die sich in immer neuen Formationen zusammenschließen und wieder trennen, Daaisch, das arabische Kürzel für ISIS. Die Türkei unterstützt offiziell nur Ahrar al-Sham, da diese nicht auf der Terrorliste stehen. In der Tat fallen jedoch alle sogenannten Hilfsgüter und auch Waffen in die Hände von ISIS, da diese die Grenze kontrollieren. Bei unserem Besuch in Rojava hören wir immer wieder: »Wir sind die Einzigen, die gegen ISIS kämpfen, wir kämpfen hier für die ganze Welt.«

Fast alle Toten, die auf Seiten der YPG/YPJ zu beklagen sind, fielen im Kampf gegen ISIS. Die größten Verluste hatten YPG/YPJ im Kampf um die Stadt Til Hemis im Januar 2014. In allen anderen Gefechten waren die YPG/YPJ sehr erfolgreich. Obwohl die islamistischen Banden von Staaten wie Saudi-Arabien und Qatar, aber auch vom NATO-Staat Türkei, zum Teil mit modernsten Waffensystemen versorgt werden, haben YPJ und YPG beträchtliche militärische Erfolge zu verbuchen. So fielen nach Angaben des Pressezentrums der YPG im Jahr 2013 bei Gefechten 379 Angehörige von YPG und YPJ, während 2 923 Mitglieder der Dschihadisten starben. Von den 587 festgenommenen Mitgliedern der Banden waren nur 91 syrischer Herkunft! ((www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2014/172/104-ausschliesslich-zum-schutz-der-bevoelkerung-agieren)) »Die meisten kommen aus der Türkei, aber auch aus Tschetschenien, aus Libyen, Europa, es war sogar mal ein Chinese dabei«, so einer der KommandantInnen von Til Xenzir, dem westlichsten Außenposten der YPG in der Cizîre-Region. »Europa muss doch froh sein, dass wir alle ihre Islamisten hier versammeln und bekämpfen«, so Avesta, eine Kommandantin der YPJ in Serê Kaniyê.

Annähernd das gesamte kurdisch bewohnte Gebiet Syriens wurde vom Staat befreit und gegen Islamisten verteidigt, auch die Gebiete arabischer befreundeter Stämme, wie das der Shammar in der Stadt Til Koçer im Oktober 2013. ((junge Welt, 28.10.2013)) Ebenso der dazugehörige Grenzübergang zum Irak. In der Folge schlossen sich zahlreiche AraberInnen den YPG/YPJ an. Im Juli 2013 befreiten die YPG/YPJ Serê Kaniyê vollständig von den islamistischen Banden, obwohl diese direkte militärische Unterstützung von der Türkei bekamen.

Das Problem ist jedoch, dass die drei kurdischen Kantone Enklaven sind, die Gebiete zwischen ihnen werden überwiegend von ISIS kontrolliert. Während das Gebiet zwischen Afrîn und Kobanê fast unter der Kontrolle von Al-Akrad – kurdische Milizen, die der FSA nahestehen – und anderer Oppositioneller steht, ist das Gebiet zwischen Kobanê und Cizîre noch unter Kontrolle von ISIS. Diese kontrollieren auch die beiden Grenzübergänge Jarablus und Til Abyad, über die ständig Nachschub an Waffen, Kämpfern und Geld aus der Türkei kommt.

Das Grauen, das von ISIS ausgeht, ist unbeschreiblich. Am 29. Mai z. B. überfiel ISIS drei vermeintlich yezidische Dörfer in der Region Serê Kaniyê, die jedoch von arabischen Flüchtlingen bewohnt waren, und schlachtete 15 Menschen, darunter sieben Kinder, auf grauenhafte Weise ab. ((http://ezidipress.com/?p=2120, u. a. Liste der Ermordeten)) Bilder dieses Massakers, die in den kurdischen Medien erschienen, raubten uns nächtelang den Schlaf. Da ISIS-Kämpfer glauben, sie kämen direkt ins Paradies, finden sich auch zahlreiche Selbstmordattentäter. Fast täglich gibt es Meldungen über solche Anschläge, bei denen fast immer ZivilistInnen ums Leben kommen.

Während unserer Delegationsreise erklärten uns unzählige Menschen, dass sie die Grausamkeiten einfach nicht fassen können, die von ISIS begangen werden. So z. B. Gulistan Osman, eine Vertreterin von Yekitiya Star: »Einem Jugendlichen aus Dêrik wurde von den Dschihadisten die Kehle durchgeschnitten. Seine Mutter hat seitdem keine Nacht mehr geschlafen. Wenn sie irgendwo ein Messer hört oder sieht, verliert sie fast den Verstand.«

YPJ-Kämpferinnen zeigten uns Dolche, die ISIS-Kämpfer zurückließen, als sie flohen. »Diese benutzen sie, um unseren KämpferInnen die Kehlen durchzuschneiden«, so Melsa, eine Kommandantin der YPJ aus Serê Kaniyê. »Ihre Imame haben die Vergewaltigung von kurdischen Frauen und Kindern, das Zerstückeln und Plündern für halal erklärt«, so Melsa. »Für sie sind wir kafir, Ungläubige, so wie alle, die nicht ihre Ideologie vertreten«, so Melsa weiter.

Am 24.5.14 wurde der Student Muhammad Muhammad von ISIS-Kämpfern ermordet, weil er sich in Al Shiyukh auf dem Weg in die Türkei für einige Frauen einsetzte, die von ISIS-Leuten beleidigt wurden. Einer der Kämpfer stach daraufhin mehrmals mit einem Messer auf Muhammad ein. ISIS-Kämpfer enthaupteten ihn anschließend. Sein kopfloser Körper wurde nach Al Raii gebracht, eine von ISIS kontrollierte Stadt, nahe der türkischen Grenze. Dort wurde Muhammads Leichnam von ISIS an ein Auto gebunden und mehrere Stunden lang als Abschreckung für die lokale Bevölkerung durch den Ort gezogen, bevor er schließlich auf einem Gehweg abgelegt wurde – dies ist kein Einzelfall.

Momentan kursieren Videos im Netz, auf denen zu sehen ist, wie ISIS-Leute einfach aus fahrenden Autos mit halbautomatischen Waffen Fußgänger und dutzende Autofahrer abschießen, im Hintergrund läuft islamische Musik.

Auch innerhalb der eigenen Reihen wird brutal gemordet: »Diejenigen, die die Gruppe verlassen wollten, wurden seitens der Führer und einiger hochrangiger Mitglieder der dawlah unter verschiedenen Ausreden erbarmungslos abgeschlachtet«, berichtet ein Aussteiger. Er berichtet weiter, dass die Bevölkerung gezwungen wurde, eine »Steuer« abzutreten. »Diejenigen, die sich weigerten diese Tribute abzugeben, wurden als Murtad [vom Islam abgefallene] abgestempelt und hingerichtet, mit der Begründung, dass sie dem Führer gegenüber ungehorsam seien.« Auch wie der Druck aufrechterhalten wird, berichtet er: »Sie verlangen von jedem Neumitglied ein Bild und die Adresse der Wohnung und des Arbeitsplatzes. Das ist die Taktik einer Mafia-Bande. Wer einmal in die dawlah ((Arabisch: Staat)) eintritt, kommt nicht mehr lebendig raus! Viele Brüder möchten von ihnen weg, aber sie schaffen es nicht.« ((www.ahlu-sunnah.com/threads/56331-Interview-mit-einem-ehemaligen-ISIS-Mitglied-in-Syrien))

In Mûsil erklärten sie umgehend, dass nun eine neue Zeit angebrochen sei: Frauen sollen die Häuser nur verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist. Sie sollen nur Kleider tragen, »an denen Gott Gefallen findet« – weite Gewänder, die weibliche Formen verhüllen. ((www.spiegel.de/politik/ausland/irak-terrorgruppe-isis-veroeffentlicht-regeln-fuer-menschen-in-Mosul-a-974766.html))

Es ist keine große Sache zu erkennen, warum sich zehntausende den Dschihadisten anschließen, die NATO hat schließlich den halben Mittleren und Nahen Osten zerbombt und korrupte Regimes von Afghanistan bis Libyen unterstützt. Entwurzelte chancenlose Jugendliche aus den Ghettos Europas suchen hier den direkten Weg ins Paradies, denn eine Teilnahme am Konsumparadies der weißen Wohlstandsländer wird ihnen ja verwehrt. Jeder Dschihadist trägt einen kleinen Schlüssel bei sich, der ihm nach dem Tod das Paradies aufschließen soll, das hören wir immer wieder. Manchmal hört man sogar etwas Mitleid bei den YPJ-Kämpferinnen gegenüber so viel Einfalt, »aber was sollen wir mit einem 16-Jährigen machen, der fünf unserer Jugendlichen die Kehlen durchgeschnitten hat?«, fragt Axîn Amed ratlos. »Die ISIS-Kämpfer gehen ohne Furcht in den Tod, sie kämpfen, ohne etwas über das Land zu wissen, in dem sie sich befinden.« Der Kommandant von Til Xenzir berichtete uns, sie hätten schon Dschihadisten festgenommen, die glaubten, sie kämpften gegen Israel. Die multinationale Truppe hat keinerlei Bindung an die ortsansässige Bevölkerung, das macht sie so mitleids- und hemmungslos.

Eine Stärke von ISIS ist es, weit weniger als die anderen Gruppen auf Spenden aus dem Ausland angewiesen zu sein. Dennoch gelten sie insbesondere aufgrund ihrer Unterstützung durch die Golfmonarchien als finanziell besonders kräftig. Ein wichtiges Einkommensfeld von ISIS sind Plünderungen und der Verkauf von Beutegut. Die Intervention in Syrien wurde zu einem Teil mit »Steuern« finanziert, welche die Organisation von Geschäftsleuten im Irak, vor allem in Mûsil, erpresste. In Syrien setzte sich ISIS an Grenzübergängen und auf Ölfeldern fest, um Zölle zu kassieren. Es geht ihnen überwiegend um wirtschaftliche Ressourcen. ((NZZ, 12.06.2014))

ISIS überrennt Mûsil
Am 9. Juni eroberte ISIS Mûsil. Die Stadt ist wegen der nahegelegenen Ölfelder strategisch besonders wichtig. Auch den Flughafen von Mûsil hat ISIS eingenommen. Die irakische Regierung gestand ein, die Kontrolle über die gesamte Provinz Ninowa verloren zu haben.

Das kündigte sich allerdings schon länger an. Abdullah Öcalan warnte schon Anfang des Jahres, dass diese Situation eintreten könne. Mûsil bietet schon seit langem ein apokalyptisches Bild, schon seit Monaten konnte die irakische Regierung nur mit Mühe die Straße nach Syrien halten. Laut Spiegel stürmten die Islamisten zudem mehrere Gefängnisse und ließen mehr als 1400 Häftlinge in der nordirakischen Stadt frei.

Hunderttausende sollen aus Mûsil in den kurdischen Nord¬irak geflohen sein. Mittlerweile wird schon von über einer Million Flüchtlingen ausgegangen. Hunderte ZivilistInnen, Pesmerga und Soldaten starben, PDK und YNK evakuierten ihre Gebäude.

Damit steht ISIS auch wiederum kurz vor Til Koçer (al-Yarubiyah), dem einzigen Grenzübergang nach Rojava, nur diesmal auf der irakischen Seite. ((DIHA, 10.06.2014)) Dazwischen liegt nur noch das Gebiet des Gergerî-Stammes ((Unterstamm der Schabbak, sieben Dörfer in der Region Mûsil werden von den Gergerî bewohnt. Ihr Name scheint kurdischen Ursprungs zu sein und bedeutet »die Reisenden«, was mit höchster Wahrscheinlichkeit mit ihrer nomadischen Vergangenheit in Zusammenhang steht.)), der sich erfolgreich gegen ISIS wehrt.

Die Dschihadisten hatten seit Jahresbeginn bereits die Stadt Falludscha (Al Fallujah) und weite Teile der westirakischen Provinz al-Anbar unter ihre Kontrolle gebracht. Von dort aus planen sie regelmäßig Angriffe gegen die Hauptstadt Bagdad.

Warum hat die irakische Armee die Millionenstadt kampflos übergeben?

Der schiitische Regierungschef Nuri al-Maliki hat zwar die Parlamentswahlen Ende April gewonnen, ihm fehlen jedoch Koalitionspartner für die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Offensichtlich konnte ISIS zahlreiche sunnitische Stammesführer auf ihre Seite ziehen, Teile der Armee sind übergelaufen.

Büchse der Pandora geöffnet
Auf Treffen im Sommer 2012 in der Türkei in den nordkurdischen Städten Riha (Urfa) und darauf in Dîlok (Antep) war von den Regionalmächten beschlossen worden, dass die Region Rojava mithilfe der Banden zwischen den Einflusssphären der Türkei und Südkurdistans aufgeteilt werden sollte. An diesen Treffen beteiligten sich einige europäische Staaten, Saudi-Arabien, der türkische Außenminister Davutoglu und der Regionalregierung Kurdistan nahestehende Gruppen. Dort wurde ein strategischer Pakt geschlossen, dass die Regionen Afrîn und Kobanê dem Einflussbereich der Türkei zugeschlagen werden sollten, während die Region Cizîre unter dem Einfluss der Regionalregierung Kurdistan und damit direkt der USA stehen sollte. Alle Kräfte wollen die Rätebewegung in Rojava mithilfe von ISIS schwächen und den Kuchen dann untereinander aufteilen.

Der türkische Nahostexperte Haluk Gerger analysiert die Unterstützung von ISIS folgendermaßen: »Die Angriffe […von ISIS] werden von der Türkei geplant und Al-Qaida führt sie aus, der Westen, die arabischen Nationalisten und das Baath-Regime schauen dabei weg und tun so, als wüssten sie nichts. Dies zeigt deutlich, dass die Kurden wieder einmal alleine stehen.«

Diese Haltung wird belegt durch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, danach ist der Bunderegierung nichts von Massakern durch die Islamisten bekannt, obwohl die Informationen und Augenzeugen öffentlich zugänglich waren. Sie zog sich aus der Affäre, indem sie sagte, es lägen keine belastbaren Informationen vor. An anderer Stelle, als es um die Verurteilung der Selbstverwaltung in Rojava ging, war sie aber durchaus bereit, Informationen von wesentlich geringerer Qualität anzuführen. ((http://geopolitik-studien.de/wp-content/uploads/2013/09/Anlage-zu-KA-Nr.-17-14612-Die-Linke.pdf)) Dieses kleine Beispiel zeigt die politische Herangehensweise vieler westlicher Mächte, die in ISIS und Jabhat al-Nusra durchaus zumindest tolerierbar und indirekt mit Waffen zu unterstützende Alliierte gegen Assad und die kurdische Selbstverwaltung sahen.

Der kurdische Präsident Masud Barzanî versucht mithilfe eines Embargos sowie Terroranschlägen, die die Rojava-Bevölkerung zur Flucht treiben, sich die ölreiche Cezîre-Region einzuverleiben. ((civaka-azad.org/der-fall-beshir-abdulmecid-mussa-starke-hinweise-auf-verstrickung-der-suedkurdischen-pdk-regierung-bombenanschlaege-rojava/))

Barzanî strickt zudem schon lange mit an der Schwächung der irakischen Zentralregierung. Im vergangenen Jahr hatte die Regionalregierung Kurdistan über 60 000 Barrel Öl in die südtürkische Küstenstadt Ceyhan geleitet, ohne dabei das Pipeline-System Bagdads zu nutzen. Dies bedeutet eine stärkere prozessuale Unabhängigkeit des Ölhandels für Kurdistan, aber auch einen Verlust an Autorität und Einkommen für Bagdad. ((Deutsch-Türkische Nachrichten, 31.01.14))

Milizen der syrisch-kurdischen Parteien, welche der PDK Barzanîs nahestehen, sind dafür bekannt, regelmäßig mit islamistischen Banden zusammen operiert zu haben. Insbesondere AugenzeugInnen des Massakers von Til Hasil und Til Harran im Sommer 2012, bei dem über 70 Personen ermordet worden sind, berichten dies.

Alle Seiten, die Türkei, die Regionalregierung Kurdistan, aber auch die syrische Regierung, haben nichts gegen die Erstarkung von ISIS unternommen, denn in dem Punkt waren sich alle einig: Es gefiel ihnen außerordentlich gut, dass das Projekt der Demokratischen Autonomie in Rojava durch ISIS in Bedrängnis geriet. So teilen sich z. B. die Truppen von Assad mit ISIS Teile der Stadt Heseke, wobei beide Seiten nur die YPG/YPJ bekämpfen. Assad lässt ISIS-Truppen durch sein Gebiet ziehen, ohne sie zu behelligen, er bekämpft die FSA, Al-Nusra, die Islamische Front und andere, nicht aber ISIS. Kämpferinnen der YPJ, die den Hinterhalt von Til Hemis überlebt haben, berichten von einer engen Zusammenarbeit von Regime und ISIS dort. Dass Assads Truppen gegen ISIS kämpfen, ist eine Lüge, die als Begründung für Waffenlieferungen an ISIS herhält.

Die Türkei lässt diese Truppen nach Überfällen auf kurdische und arabische Dörfer in der Region Serê -Kaniyê das geplünderte Inventar auf türkischem Gebiet verkaufen und öffnet ihre Grenze für deren LKWs. So wurden in der Region Serê Kaniyê/Til Xelef zwei Lastwagenladungen mit archäologischen Funden sichergestellt, die von ISIS verkauft werden sollten. Aber nicht nur auf Kulturgüter hat es ISIS abgesehen, aus Gebieten, aus denen sich ISIS vor den YPG/YPJ zurückziehen musste, konnten wir immer wieder beobachten, dass alles, was man verkaufen konnte, mitgenommen wurde. Das können Stromkabel, Rohre, Sicherungen und Wasserhähne u. Ä. sein. So berichten uns YPJ-Kämpferinnen sogar von ISIS-Mitgliedern, die sich mit Türen, die sie gestohlen hatten, auf dem Rücken zurückzogen. Das Beutegut wird über die gut bewachte türkische Grenze gebracht und in der Türkei in Orten wie Demirkapi in der Region Riha verkauft.

Alle ausländischen Kämpfer von ISIS reisen über die Türkei nach Syrien ein. Wir selbst haben gesehen, dass Lebensmittellieferungen in von den YPG/YPJ eroberten ISIS-Stellungen aus Saudi-Arabien und der Türkei stammen und mit der Aufschrift »Hand in Hand Türkei und Saudi-Arabien« beschriftet waren. Diese Lebensmittelpakete lagen neben fertigen schweren Sprengsätzen, wie sie u. a. in Autobomben zwei Wochen zuvor in Til Xelef und Serê Kaniyê eingesetzt worden waren.

Erst am 14.6. wurde bekannt, dass sich nach Angaben verschiedener Agenturen auch Spezialkräfte der Türkei in Falludscha im Irak zur Ausbildung von ISIS-Kräften befunden hätten.

Das erste Mal ist jedoch nun auch die Türkei selbst vom ISIS-Terror betroffen, die Mitarbeiter ihres Konsulates in Mûsil wurden von ISIS verschleppt. Auch einige türkische LKW-Fahrer, die Öl transportierten, wurden entführt. ((www.zeit.de/politik/ausland/2014-06/irak-mosul-bagdad-terroristen-tuerkisches-konsulat-angriff))

Bei der Übernahme von Mûsil sind ISIS offensichtlich ungeheure Waffenarsenale der irakischen Armee sowie Devisen und Gold aus geplünderten Banken in Milliardenhöhe in die Hände geraten. Sie sind auf einem Siegeszug und bedrohen auch die zweite Ölstadt des Irak, Kirkuk und sogar die Hauptstadt Bagdad. ((www.zeit.de/politik/ausland/2014-06/irak-mosul-bagdad-tikrit-terrorgruppe-isis)) Am 16.6. überrannte ISIS Tal Afar, eine Stadt, in der 250 000 schiitische TurkmenInnen leben, diese sind nun auf der Flucht nach Sengal, in das Gebiet der kurdischen YezidInnen.

Auch wenn nun alle regionalen Kräfte gemeinsam gegen ISIS vorgehen würden, was äußerst unwahrscheinlich ist, hätten sie Schwierigkeiten, diese Büchse der Pandora wieder zu schließen.

Die westlichen und regionalen Staaten haben ein Monster geschaffen, indem sie seit Jahrzehnten islamistische Kräfte unterstützen, um antikapitalistische und demokratische Alternativen zu verhindern bzw. Regimes zu stürzen, die sich ihnen nicht vorbehaltlos unterordnen.

Pesmerga und YPG/YPJ gemeinsam gegen ISIS?
Nachdem sich die irakische Armee auch aus Kirkuk zurückgezogen hat, ist die gesamte Stadt unter der Kontrolle von Pesmerga. In Selemiye und in Til Koçer kämpfen Pesmerga und YPG/YPJ schon gemeinsam gegen ISIS. Die irakische Armee hingegen hat es immerhin geschafft, Tikrit den Händen von ISIS zu entreißen. ((hawarnews, 12.06.14))

Die YPG erklärten unterdessen, sie seien bereit, Südkurdistan gemeinsam mit den Pesmerga zu verteidigen. Sie riefen auf, nun endlich alle innerkurdischen Feindschaften zu begraben und gemeinsam gegen die Dschihadisten vorzugehen, denn der letzte Angriff sei ein Angriff auf alle KurdInnen.

In einer Erklärung heißt es: »Als YPG haben wir seit 18 Monaten gegen diese extremistischen Gruppen gekämpft. Bei vielen Gelegenheiten haben wir erfahren, dass das Ziel dieser ISIS-Banden ist, das kurdische Volk auszulöschen. Wir haben wertvolle Erfahrungen in unserem Widerstand gegen die Banden gesammelt und unsere KämpferInnen haben heldenhaft gekämpft.«

Die YPG-Erklärung endet mit einem Appell an alle Völker Kurdistans, ihre Einigkeit zu festigen und gemeinsam über Parteigrenzen hinweg Widerstand zu leisten. ((hawarnews, 10.06.14)) Die YPG nahmen die Sicherheit der Völker von Rojava, seien sie assyrisch, arabisch, turkmenisch, aramäisch oder chaldäisch, sehr ernst und garantierten sie, so Sipan Hemo, Sprecher der YPG. ((ku.firatajans.com/news/cihan/hemo-kerkuk-qudisa-kurdan-e-serketin-a-me-ye.htm))

Bei den durch die ISIS-Invasion Betroffenen scheint sich nun zumindest eine selbstkritische Haltung zu zeigen. So erklärte der Gouverneur Najmeldin Karim von Kirkuk, dass es ein großer Fehler gewesen sei, den Beschuldigungen der PDK, dass die PYD und YPG »antidemokratisch« seien, Folge zu leisten. Er erklärte: »Wir haben die PYD/YPG nicht verstanden und einen Fehler gemacht, sie leisten seit Jahren Widerstand gegen ISIS, während wir mit einem Heer von einer Million irakischen Soldaten nicht einmal ein paar Stunden aushalten konnten.« ((www.diclehaber.com/tr/news/content/view/406149?from=3392673384))

Der PYD-Kovorsitzende Salih Muslim Muhammad erklärte gegenüber Bianet: »Einige Leute sehen immer noch nicht die Tatsache: ISIS ist nur ein Instrument in den Händen anderer. Die Kräfte dahinter sind entscheidend.« ((www.bianet.org/english/diger/156395-isis-crisis-urges-kurdish-unity))

»Der Westen aber muss sich fragen, weshalb er so lange zugesehen hat, als Verbündete Waffen nach Syrien lieferten, die dann in die Hände von Extremisten gelangten. Er muss endlich erkennen, was in Syrien auf dem Spiel steht, und seine Politik ändern«, so Rainer Hermann von der FAZ. ((FAZ, 12.06.2014))

Dem ist nur hinzuzufügen, dass das Embargo gegen Rojava endlich fallen muss und nun alle Kräfte die KurdInnen stärken sollten, die offensichtlich als Einzige in der Lage sind, die Terrorbanden zu stoppen, und ein Projekt für einen demokratischen Mittleren Osten haben.

* Den gesamten Monat Mai besuchte eine Delegation aus der Ethnologin Anja Flach, dem Historiker Michael Knapp und dem Ökologen Ercan Ayboga Rojava, die befreiten Gebiete der KurdInnen im Norden Syriens. 

Entnommen aus dem Kurdistan Report 174. Ausgabe, Juli/August 2014