Taktische Spiele zwischen Religionskrieg und Unabhängigkeit

irak_lupeWas passiert eigentlich gerade im Irak?
Nihat Kaya, Journalist, aus Hewlêr (Arbil)

In der irakischen Provinz al-Anbar haben sich die kriegerischen Zusammenstöße zwischen der regulären irakischen Armee und dem Al-Qaida-Ableger »Islamischer Staat im Irak und der Levante« (ISIL), von den Medien oft auch »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« (ISIS) genannt, verstärkt, sodass der Irak ein weiteres Mal in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten ist. Zwar wirkt der Konflikt auf den ersten Blick wie ein Krieg zwischen zwei Parteien, die Realität sieht jedoch deutlich komplizierter aus. Es gilt in diesem Konflikt, den soziologischen Hintergrund, die Gesellschaftsbasis und die internationalen Unterstützer der jeweiligen Kriegsparteien genauer zu betrachten. Hierbei werden wir unmittelbar feststellen, dass der Konflikt weitaus mehr ist als eine Frage des Terrors oder ein Aufstand.

Fakt ist, dass er seit der US-amerikanischen Intervention im Irak akut ist und bis dato nie aufgehört hat. Die Angriffe und Zusammenstöße haben sogar so stark zugenommen, dass in einigen Monaten im Schnitt tausend Tote zu beklagen waren. Diese extrem hohen Zahlen sind im Schatten des syrischen Bürgerkriegs untergegangen, durch die Vorfälle in al-Anbar jedoch erneut in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit geraten.

Der Krieg in der Region al-Anbar wurde am 28. Dezember 2013 durch eine Operation der irakischen Armee gegen den sunnitischen Parlamentarier Ahmed al-Alwani ausgelöst. Hierbei starben bei einem Gefecht um sein Haus ein Bruder al-Alwanis und fünf seiner Leibwächter. Er wird der Unterstützung des Terrors bezichtigt und für einen Unterstützer und Finanzier von al-Qaida im Irak gehalten. Die irakische Regierung erklärte, dass bei der Verhaftung al-Alwanis unzählige Dokumente hätten sichergestellt werden können, auf denen auch die Namen diverser Parlamentarier verzeichnet seien, die al-Qaida unterstützen. Im Anschluss an die Verhaftung kam es in al-Anbar erneut zu regierungskritischen Protesten, die in einer bewaffneten Auseinandersetzung mündeten und Dutzende Menschen das Leben kosteten. Daraufhin erklärten 44 sunnitische Abgeordnete ihren Rücktritt und machten die Regierung dafür verantwortlich.

Als die bewaffneten Zusammenstöße zwischen Protestlern und der irakischen Armee zunahmen, schalteten sich die Clan-Chefs ein und übermittelten die Forderung der Protestler, die Armee aus ihren Städten zurückzuziehen, an die Zentralregierung in Bagdad. Die irakische Regierung hat diese Forderung, die auch von den Clans getragen wurde, unter der Bedingung akzeptiert, dass die Polizei und Kräfte der Clans gemeinsam für Sicherheit und Ordnung zu sorgen haben. Polizei und Clans waren nicht in der Lage dazu gewesen, sodass die Städte in die Hände der Protestler geraten sind.

Hierbei ist nicht außer Acht zu lassen, dass die Clans trotz ihres Versprechens, gemeinsam für Sicherheit zu sorgen, offenkundig den Protestlern nahestanden. Schlussendlich hat die irakische Regierung unter dem Vorwand, dass die Kontrolle in al-Anbar in die Hände von ISIL geraten sei, eine militärische Operation gestartet.

Wenn wir uns die demographische Zusammensetzung der Unruheregionen anschauen, werden wir feststellen, dass die Vorfälle mehr als nur ein Terrorproblem sind. Zentren der Unruhen sind entweder rein arabisch-sunnitische, sunnitisch-schiitisch-arabische oder mit den Kurden gemeinsam bewohnte Gebiete. In allen Gegenden stehen die arabisch-sunnitischen Kräfte im Fokus der Unruhen. Auffällig ist auch, dass solche Unruhen oder Selbstmordattentate in Städten wie Basra oder Hewlêr (Arbil) so gut wie nicht vorkommen, da es sich bei diesen entweder um arabisch-schiitisch oder um kurdisch bewohnte Gebiete handelt. Die Angriffe sind größtenteils aus dem Ausland organisierte und unterstützte Aktionen, die wiederum ein extremer Ausdruck der Unzufriedenheit der sunnitisch-arabischen Gesellschaftsgruppe sind.

Unzufriedenheit im Zusammenhang mit dem Regimewechsel

Der eigentliche Grund für die Eskalation der Lage im Irak ist die Tatsache, dass nach einer über 90-jährigen Phase die Staatsmacht durch die Wahlen von 2005 an die schiitische Bevölkerungsmehrheit übergegangen ist. Zwar sind die Sunniten mit knapp 21 % der Bevölkerung in der Minderheit, sie haben jedoch seit den 1920er Jahren ununterbrochen die Geschicke des Landes geleitet. Daneben waren sie auch im letzten Jahrtausend im Irak der bestimmende Faktor, sodass die schiitische Bevölkerungsgruppe ihnen in Opposition gegenüberstand. Das führte dazu, dass unzählige Religionskriege auf irakischem Boden ausgefochten wurden. Diese Tatsache hat bei der sunnitischen Bevölkerungsgruppe zu der Ansicht geführt, dass der Irak stets unter ihrer Herrschaft bleiben müsse. Diese konfessionell begründete Überzeugung wurde über Generationen weitergegeben.

Für die Schiiten lässt sich die Situation analog beschreiben. Denn sie sind in ihren eigenen Siedlungsgebieten stets von einer sunnitischen Minderheit unterdrückt und über ihre Köpfe hinweg regiert worden. In ihrer Geschichte fielen sie mehrfach Massakern zum Opfer, da sie sich gegen die jeweiligen sunnitischen Regimes aufgelehnt hatten. Hierbei haben sich vor allem die Enthauptung des Heiligen Hussein und das anschließende Massaker an seinem Gefolge, durch die Armee des Kalifen Yazid in der Schlacht um Kerbela, tief ins schiitische Gedächtnis eingeprägt. Der Rachegedanke hat sich bei den Schiiten in der über tausend Jahre währenden sunnitischen Herrschaft verstärkt, da unzählige ihrer Aufstände in diesem Zeitraum stets äußerst blutig niedergeschlagen wurden. Das letzte Massaker wurde 1982 durch Saddam Hussein in Dudschail verübt. Dabei wurden nach einem missglückten Attentat 148 Bewohner des Ortes verschleppt und ermordet. Das Misstrauen und die Feindschaft zwischen den Konfessionen haben den Rachewunsch der Schiiten genährt.

Die ISIL-Basis in al-Anbar

Die dargelegte Lage ermöglicht es der ISIL, sich in der Region al-Anbar aufgrund ihrer religiösen und konfessionellen Beschaffenheit zu organisieren und zu etablieren. Das ist in soziologischer Hinsicht auch der Hauptgrund, weshalb die ISIL heute in den sunnitischen Gebieten um al-Anbar, Mûsil (Mosul), Salah ad-Din, Diyala und Bagdad so stark organisiert ist.

Allerdings hat ihre Konzentration auf al-Anbar und einige wenige Regionen auch geografische Gründe. Es ist das größte Gouvernement des Iraks und besteht fast ausschließlich aus Wüste, die von der irakischen Armee kaum unter Kontrolle gebracht werden kann. Die ISIL nutzt daher diese Wüstenregion mit Unterstützung der ansässigen Clans als Basis. Dann kam noch der Syrienkrieg dazu, welcher der ISIL aufgrund der gemeinsamen Grenze zu Syrien einen größeren Aktionsradius und mehr logistische Möglichkeiten eröffnet hat.

Die sunnitische Intervention im Irak

Es ist unmöglich, die Unruhen im Irak trotz der gesellschaftlichen Gründe auf innere Ursachen zurückzuführen, denn es ist unumstritten, dass es hierbei eine erhebliche Intervention von außen gibt. Vor allem seitdem der Westen im Zuge des sogenannten arabischen Frühlings den Versuch unternimmt, den Status quo mithilfe Saudi-Arabiens, Katars und der Türkei in seinem Sinne zu verändern. Auf der anderen Seite hat der Iran die schiitische Seite in einem Block organisiert und sich direkt in den Konflikt, der nun mehr einen konfessionellen Charakter gewonnen hat, eingeschaltet. Im Kern geht es dabei jedoch nur um die Ressourcen in der Region.

Dieser jetzt im gesamten Nahen Osten ausgetragene Konflikt hat sich nun mehr im Irak konzentriert. Die internationale Intervention in den Konflikt im Irak wurde vor allem sichtbar, als der saudische Verteidigungsminister Salman bin Abdulaziz Al Saud über seinen Stellvertreter verlautbaren ließ, dass Saudi-Arabien nur dann von einer militärischen Intervention in al-Anbar absähe, wenn die zarathustrisch-safawidischen Invasoren sich zurückzögen. Es ist mittlerweile aufgrund ihrer Offensichtlichkeit unmöglich geworden, die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien, den aufständischen Clans und dem Al-Qaida Ableger ISIL zu verbergen.

Eine ähnliche Situation herrscht auch in Syrien, wo die Türkei die ISIL indirekt unterstützt und mit Waffen beliefert hat. Da nun die ISIL das Gebiet von al-Anbar bis an die Grenze zur Türkei und damit die Grenzübergänge bei Azzaz/Kilis und Tell Abyad/Akçakale unter ihre Kontrolle gebracht hat, ist die direkte Unterstützung offensichtlich geworden. Die Beziehung zwischen der Türkei und der ISIL hat eine derart umfangreiche Form angenommen, dass sich Dschihadisten aus aller Welt über die Türkei der ISIL anschließen. Außerdem konnten wir erst in den letzten Wochen beobachten, wie LKWs mit Waffenladungen für die ISIL im Zuge des Machtkampfs zwischen AKP und Gülen-Sekte medienwirksam enttarnt wurden. Vor einigen Wochen wurden auch beim Angriff auf das Hauptquartier des Geheimdienstes in Kerkûk (Kirkuk) einige ISIL-Kämpfer getötet, die zuvor über die Türkei nach Syrien gekommen waren. Sie waren dort ausgebildet worden und dann für den Angriff in den Irak eingesickert.

Die türkische Unterstützung für die sunnitische Front im Irak hat es immer gegeben. Die Türkei hat sunnitische Antiregierungsanführer stets in Istanbul beherbergt und ihnen eine Plattform geboten. Auch im Falle des irakischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Tariq al-Hashimi, als dieser wegen terroristischer Aktivitäten im Irak angeklagt und in die Türkei geflohen war.

Ist es Zufall, dass bei jeder Ölkrise Kämpfe in al-Anbar eskalieren oder erst ausbrechen?

Es fällt auf, dass bei jeder Ölkrise zwischen Hewlêr (Arbil) und Bagdad die Auseinandersetzungen in al-Anbar stark zunehmen, hinter denen sich unschwer auf der einen Seite die Türkei und auf der anderen Bagdad vermuten lassen. Denn es ist die Türkei, die Hewlêr entgegen jeder Mahnung und Drohung aus Bagdad zum Export des eigenen Öls anhält. Da sich die irakische Regierung dieser Tatsache mehr als nur bewusst ist, hat sie die Türkei bereits mehrmals gewarnt, sich in die inneren Angelegenheiten des Iraks einzumischen. Doch trotz des Widerstands aus Bagdad ist die Kooperation zwischen der Türkei und der Kurdischen Regionalregierung unter Barzanî und damit der Bau einer Pipeline nun unterschriftsreif. Genau gegen eben diese Kooperation hat sich Bagdad aufgelehnt und prompt sind die Unruhen in al-Anbar losgegangen und die ISIL hat ihre Angriffe im Irak stark ausgeweitet und intensiviert. Als Folge dessen hat sich Bagdad auf al-Anbar konzentriert, sodass die Ölkrise mit der Regionalregierung in Kurdi­stan in den Hintergrund gerückt ist.

Das Auffällige an diesen aufeinanderfolgenden Krisen ist der Aspekt, dass eben genau so eine bereits im Jahre 2012 ausgebrochen war, als die Regionalregierung von Kurdistan (KRG) damit begonnen hatte, ihr Öl in Tanklastern an die Türkei zu verkaufen, und Verträge mit ausländischen Ölunternehmen zur Erschließung der Ressourcen geschlossen hatte. Auch damals war die irakische Zentralregierung gegen die Abschlüsse und Exporte der Regionalregierung in Kurdistan. Als die Krise sich zugespitzt hatte, brachen plötzlich unter dem Vorwand, dass die Personenschützer des Wirtschaftsministers verhaftet worden seien, in al-Anbar Unruhen aus und die ISIL ging zu massiven Angriffen über. So gelang es bereits 2012, die Aufmerksamkeit Bagdads in al-Anbar zu binden, sodass die Krise mit der KRG in den Hintergrund geriet.

Es ist angebracht zu hinterfragen, ob es nur Zufall sein kann, dass die Unruhen in al-Anbar und die Ölkrisen parallel auftreten. Vor allem, wenn dabei noch berücksichtigt wird, dass die ISIL zu diesem Zeitpunkt äußerst aktiv wird und die sunnitischen Clan-Chefs in Istanbul versammelt werden.

Der schiitische Block im Irak befindet sich im Widerstand

Analog zur Intervention des sunnitischen Blocks in Nahost wirkt auch eine Intervention des Irans. Daher hat der saudische Verteidigungsminister zum Rückzug der zarathustrisch-safawidischen Invasoren aufgerufen. Damit sind die sogenannten iranischen Gotteskrieger gemeint. Der Iran hat eine ähnliche Verteidigungsphilosophie wie die USA, sodass er bemüht ist, bereits außerhalb der eigenen Grenzen Gefahren abzuwehren. Daher betrachtet er die Alawiten in Syrien, die Hisbollah im Libanon und die Schiiten im Irak als strategische Partner und unterstützt sie mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Denn ihm ist bewusst, dass sich die Gefahr bei ihrem Fall den eigenen Grenzen nähern wird.

Der Aufruhr in al-Anbar begann vor allem nach der Verhaftung der Personenschützer des Wirtschaftsministers und seiner Flucht nach al-Anbar. Im Zuge der initiierten konfessionellen Unruhen erklärte eine schiitische Untergrundorganisation namens Al-Mukhtar ihre Gründung und verpflichtete sich zur Unterstützung der irakischen Regierung. Daraufhin begann die ISIL mit Attacken auf schiitische Ziele und die Al-Mukhtar auf sunnitische. Es ist kein Geheimnis, dass hinter einigen der Angriffe der Iran selbst steckt.

Ist im Irak eine föderale sunnitische Region denkbar?

In dem sunnitisch-schiitischen Konflikt beschuldigt die sunnitische Seite den Premier Nuri al-Maliki, sich um die Entwaffnung der schiitischen Milizen zu drücken und die staatlichen Institutionen der schiitischen Gemeinschaft einzuverleiben. Sie haben jedoch selbst keine Alternative zu bieten und wollen auch auf keinen Fall eine autonome oder unabhängige sunnitische Region, denn die hätte keine Säulen, auf die sie sich stützen könnte.

Der wichtigste Punkt ist, dass die sunnitisch bewohnten Gebiete mangels Ressourcen wirtschaftlich nicht überlebensfähig wären. Auch der Status der sunnitischen Region um Mûsil ist aufgrund des Paragrafen 140 der irakischen Verfassung [der ein Referendum über die administrative Zugehörigkeit der Provinz vorsieht] weiterhin ungeklärt und die von Sunniten bewohnten Gebiete bestehen fast ausschließlich aus Wüste. Sie sind weder für Landwirtschaft noch für Viehzucht geeignet und verfügen auch sonst über keine Ressourcen. Daher stehen die Sunniten einer Teilung des Iraks am skeptischsten gegenüber. Ein weiterer Grund dafür ist die Ansicht, ihnen sei die rechtmäßige Herrschaft über den Irak entzogen worden und sie hätten sie sich erneut einzuverleiben.

Auch wenn sie bemüht waren, keine Autonomie zu fordern, so häufen sich doch auch in ihrer Gemeinschaft die Stimmen, die eine föderative Struktur befürworten. Denn auch in der irakischen Verfassung heißt es gleich in § 1, der Irak sei eine republikanische, parlamentarische, demokratische und föderative Republik. Zu föderativen Strukturen wird in § 116 Folgendes ausgeführt:

»Es ist möglich, eine föderative Region durch Volksabstimmung zu gründen, wenn sie wie angeführt beantragt wird:

wenn mindestens ein Drittel der Provinzabgeordneten den Antrag auf Bildung einer föderativen Provinz einreicht.

wenn sich mindestens 10 % der Stimmberechtigten in der betreffenden Provinz für die Bildung einer föderativen Provinz aussprechen.«

Manche Interpretation besagt, dass sich zur Gründung einer föderativen Provinz oder autonomen Region mindestens drei Provinzen zusammenschließen und den Antrag gemeinsam einreichen müssten. Das würde für die sunnitische Bevölkerungsgruppe bedeuten, dass sie imstande wäre, eine solche Region zu gründen, da sie in den Regionen um Mûsil, al-Anbar und Salah ad-Din die klare Mehrheit bildet. Angesichts der ölreichen Regionen ist nachvollziehbar, dass die sunnitischen Kräfte diese Forderung nicht an die Spitze der Agenda setzen. Auch die schiitischen Kräfte, welche die Bildung der Autonomen Region Kurdistan noch nicht verarbeitet haben, sind gegen die Bildung föderativer/autonomer Regionen im Irak.

Wo stehen eigentlich die Kurden in diesem Konflikt?

Die knapp 20 % Kurden im Irak stehen in diesem sunnitisch-schiitischen Konflikt an ganz anderer Stelle. Auch wenn sie aufgrund des § 140 und der damit verbundenen Unklarheit über den Status der betreffenden Regionen zeitweise mal mit Bagdad und mal mit der ISIL aneinandergeraten, so sind sie doch sehr bemüht, sich da herauszuhalten. Der Hauptgrund liegt darin, dass sie im Norden einer Unabhängigkeit viel näher stehen als einer föderativen Struktur. Denn in keinem Staat auf dieser Welt verfügt eine föderale Region über eine eigene Armee und allein über ihre Ressourcen. Die Kurden schließen entgegen der Position Bagdads Verträge mit internationalen Ölunternehmen und verkaufen auch das eigene Öl unabhängig von Bagdad an das Ausland. Daneben unterhalten sie eine eigene Armee, deren Angehörige sich zwar wie die Widerstandskämpfer »Peschmerga« nennen, die aber in Zahl und Ausrüstung einer regulären Armee ebenbürtig ist. Es ist auch kein Geheimnis, dass die KRG bemüht ist, den Peschmergas einen legalen Anstrich zu verpassen, indem sie sie als Schutzpolizei darstellt. Es ist jedoch allen klar, dass es sich bei Polizei und Peschmerga um zwei grundverschiedene bewaffnete Kräfte handelt. Die sogenannten Peschmerga sind wie eine reguläre Armee aufgebaut und organisiert, sodass die KRG einer Unabhängigkeit viel näher steht, als eine autonome/föderative Region im Irak dazustellen.

Daher ist auch nachvollziehbar, wenn die Kurden die Unruhen in al-Anbar von der Warte eines unabhängigen Staates aus wahrnehmen und sie auch so bewerten. Darum ist die KRG bemüht, aus dem sunnitisch-schiitischen Widerspruch Kapital zu schlagen, sodass sie dazu übergegangen ist, ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur Türkei erheblich zu intensivieren und somit Bagdad den Rücken zu kehren. Deshalb hat sie auch, um den Druck aus Bagdad etwas abfedern zu können, damit begonnen, al-Qaida in begrenztem Maße indirekt zu unterstützen. Diese Haltung wurde auch offensichtlich, als sie den mit Haftbefehl gesuchten al-Hashimi aufgenommen und seine Flucht in die Türkei ermöglicht hatten. Desgleichen wurde im syrischen Bürgerkrieg der Al-Qaida-Ableger ISIL unterstützt, indem die Grenze zwischen Rojava (Syrisch-/West-Kurdistan) und der Autonomen Region Kurdistan im Irak dichtgemacht wurde. Damit sollte die logistische Unterstützung der Volksverteidigungskräfte (YPG) unmöglich gemacht und diese im Kampf gegen die ISIL in Nordsyrien geschwächt werden. Der Kurdischen Regionalregierung passte es ganz gut, als sich auch die Auseinandersetzungen zwischen ISIL und Bagdad zuspitzten und somit die Aufmerksamkeit Bagdads auf die Unruheregion gelenkt wurde. So konnte die KRG mit ihrem Ölverkauf ungehindert fortfahren.

Wenn jedoch der § 140 zur Sprache kommt und sunnitische Ansprüche auf die Region um Mûsil und Kerkûk angemeldet werden, ist die KRG um Distanz zu den sunnitischen und ISIL-Kräften bemüht. Daher hofft sie, von den sich ausweitenden schiitisch-sunnitischen Kämpfen profitieren zu können.

Die Vorfälle im Irak gleichen Tag für Tag immer mehr einem gordischen Knoten, der in einem äußerst gewalttätigen konfessionellen Krieg mündet. Doch weiß man noch immer nicht, wie die Lösung dieses Problems aussehen kann …

Quelle: Kurdistan Report Ausgabe 172 März/April