Zur Situation der ezidischen Flüchtlinge in Nordkurdistan/Türkei

Leyla FermanDr. Leyla Ferman, Juli 2015

Eines der zentralen Zufluchtsländer der ezidischen Bevölkerung mit Einnahme Şengals durch den sog. Islamischen Staat (IS) waren die kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei. Schätzungsweise 28.000 Eziden gelang in den Tagen und Wochen nach dem Fall von Şengal die Flucht über die türkische Grenze. Ein Jahr nach dem Genozid von Şengal leben nun noch rund 15.000 ezidische Flüchtlinge in den Flüchtlingscamps in Nordkurdistan (Osttürkei). Der überwiegende Teil der übrigen Flüchtlinge ist nach Südkurdistan (Nordirak) zurückgekehrt, obwohl ihre Heimatstadt weiterhin umkämpft ist. In Nordkurdistan gibt es zwei Arten von Flüchtlingscamps, in welchen die Eziden untergebracht sind: Diejenigen, die von den Stadtverwaltungen der HDP (Demokratische Partei der Völker) unterhalten werden, und diejenigen, die von der türkischen Behörde für Katastrophen- und Notfallmanagement – kurz AFAD – geführt werden. Die HDP unterhält Flüchtlingscamps in den Städten Amed (Diyarbakir), Êlih (Batman), Wêranşar (Viranşehir) und Şirnex (Şirnak), in denen insgesamt rund 9.000 ezidische Flüchtlinge leben. In den Camps von AFAD sind die übrigen ca. 6000 Flüchtlinge aus Şengal untergebracht. Die AFAD-Flüchtlingscamps werden sehr restriktiv von den türkischen Behörden geführt. So sind die Camps durch hohe Mauern und Stacheldraht abgeschottet und die Bewohner dürfen, wenn überhaupt, nur mit einer Genehmigung die Lager verlassen. Trotz dessen hat sich ein Teil der ezidischen Flüchtlinge dafür entschieden, in diese Camps zu ziehen, weil sie sich erhofften, von diesen Camps möglicherweise einfacher nach Europa zu gelangen, sollte sich die EU dazu entscheiden, Flüchtlinge aus Südkurdistan/Irak aufzunehmen.

Der größte Teil der Flüchtlinge misstraut allerdings dem türkischen Staat und zieht es deswegen vor, in den Flüchtlingscamps der kurdischen Stadtverwaltung Zuflucht zu suchen. Gerade durch die Rolle der PKK bei der Errettung der ezidischen Bevölkerung, die vor dem IS in die Şengalberge geflohen waren, und von dort durch einen Korridor, den die bewaffneten Kräfte der PKK freigekämpft hatten, nach Rojava fliehen konnten, genießt die kurdische Freiheitsbewegung große Sympathien innerhalb der ezidischen Bevölkerung. Der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) hingegen, die all ihre Peşmerga Einheiten beim Angriff des IS aus Şengal zurückgezogen und die Zivilbevölkerung ohne Schutz zurückgelassen hat, werfen die Eziden Verrat vor. Das wird in den Flüchtlingslagern in Nordkurdistan offen kommuniziert. In Südkurdistan hingegen wird aus Angst vor Repressionen nur unter vorgehaltener Hand darüber gesprochen. Denn die KDP hat auch nach dem Genozid von Şengal mehrfach Mitglieder der Widerstandseinheiten von Şengal (YBŞ) und mit der Drohung des Entzugs von Sozialmitteln für Eziden, die sich kritisch gegenüber der Partei Barzanis äußern, von sich reden gemacht.

Aktuelle Schwierigkeiten und Herausforderungen in den Flüchtlingscamps

Mit den massenartigen Fluchtwellen aus Şengal waren die HDP Camps zunächst einmal vor allem mit technischen Schwierigkeiten wie die Bereitstellung und Organisierung von Zelten, Nahrungsmitteln und Kleidung konfrontiert. Zu den gegenwärtigen Schwierigkeiten gehören weiterhin die Bereitstellung von genügend Lebensmitteln, die medizinische Versorgung und die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse der Flüchtlinge. Auch wenn das noch unzureichend ist, wurden in den Camps der HDP Kommunen Schulen, Kindergärten, Sportplätze, sowie Fernseh- und Frauenzelte organisiert und aufgebaut. Im Flüchtlingscamp von Amed findet beispielsweise erstmals in der Geschichte der Kurden ein selbstorganisierter ezidischer Religionsunterricht statt, an dem rund 150 Kinder teilnehmen. Dies alles wurde z.T. mit Spenden aus Europa und Kurdistan finanziert. Der größte Teil der Kosten wird allerdings von den begrenzten finanziellen Mitteln der Kommunen getragen.

Besondere Schwierigkeiten hingegen gibt es bei der medizinischen Versorgung. Für diejenigen Flüchtlinge, die nicht im Besitz einer staatlich erteilten Registrierungskarte sind, ist der Besuch eines Krankenhauses nicht möglich. Zudem unterbrechen die staatlichen Behörden immer wieder die medizinischen Versorgungsdienstleistungen in den Camps der HDP. Dadurch sollen die Flüchtlinge dazu gedrängt werden, in die Camps von AFAD umzusiedeln, wo der Staat sie besser kontrollieren kann.

Ende Juni dieses Jahres versuchten ca. 1.400 Flüchtlinge aus den beiden AFAD-Camps und dem Flüchtlingscamp in Diyarbakir die Türkei über Bulgarien und Griechenland in Richtung Europa zu verlassen. Sie scheiterten mit ihrem Versuch, wurden festgenommen und alle in das AFAD Camp in Nisêbîn (Nusaybin/Mardin) gebracht. Nach dem Einschreiten der Stadtverwaltung von Mêrdîn (Mardin) durften die 1.400 Flüchtlinge dann entscheiden, ob sie in dem AFAD Camp bleiben oder in ein Camp der Stadtverwaltungen umsiedeln wollen, woraufhin die meisten Eziden das staatliche Camp verließen.

Inzwischen wurden in Nordkurdistan gemeinsam mit den Flüchtlingen Projekte ins Leben gerufen, welche das jüngste Genozid an den Eziden in Şengal rekonstruieren sollen. Beteiligt an dem Projekt ist der Verein der Rechtsanwälte Mesopotamiens und die Plattform der Betreuung der Flüchtlingsfrauen, die aus der Gefangenschaft des IS gerettet werden konnten. Auch halten auf kommunaler Ebene die Bemühungen zur Errichtung eines Rehabilitationszentrums für traumatisierte Frauen sowie für die Schaffung eines neuen Dorfes mit Fertighäusern, in das ein Teil der Eziden dann ziehen soll, weiter an. Für jene, die nicht mehr nach Şengal wollen, soll in Nordkurdistan so die Grundlage für ein neues Leben geschaffen werden.

 

Die Autorin Dr. Leyla Ferman ist als Beraterin der Großstadtverwaltung von Mêrdin (Mardin) tätig und Mitglied des Vorstandes der Föderation Ezidischer Vereine