Aus der Pressemitteilung von IHD und TIHV vom 09.12.2015, Kurdistan Report 183 | Januar/Februar 2016
Der Menschenrechtsverein (IHD) und die Stiftung für Menschenrechte (TIHV) haben im Rahmen der Menschenrechtswoche vom 10. bis 17. Dezember 2015 den Menschenrechtsbericht 2015 veröffentlicht. Der IHD-Vorsitzende Öztürk Türkdoğan: »Etwas, das die Türkei aus Sicht der Menschenrechte sofort erfüllen muss, ist die Friedensfazilität. Solange die Bedingungen für den Frieden nicht gegeben sind, ist das Recht auf Leben nicht geschützt. Und wenn das Recht auf Leben nicht gegeben ist, kann nicht von den anderen Rechten gesprochen werden.« Er kritisierte auch die UNO, die sich zu den Menschenrechtsverletzungen nicht geäußert hat.
»Die Beendigung des Friedensprozesses hat die Zahl der Verletzungen der Menschenrechte erhöht«
Im Jahr 2015 gab es schwere Menschenrechtsverletzungen. In Amed (Diyarbakır; 5 Tote, Dutzende Verletzte), in Pirsûs (Suruç; 33 Tote, Dutzende Verletzte) und in Ankara (100 Tote, Hunderte Verletzte) fanden Anschläge statt.
Die Beendigung des Friedensprozesses durch den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan führte erneut zu einer Konfliktlage, in der Hunderte Menschen von Polizisten auf der Straße angeschossen wurden. Die Türkei hat auf irakischem Staatsterritorium mehrmals die PKK und die Zivilbevölkerung am Boden und aus der Luft angegriffen. In mehreren kurdischen Gemeinden wurde eine tagelange Ausgangssperre verhängt. Während dieser Zeit gab es kein Wasser, keinen Strom, keine Lebensmittel. Die Polizei verbot die Beerdigung der durch sie ums Leben gekommenen Menschen. Weiter verhinderte sie auch eine medizinische Versorgung für die durch ihre Angriffe Verletzten. Vor allem, als Straßen und Gassen blockiert wurden, starben Jugendliche, Frauen, Ältere und Kinder. Die Presse wurde unter Druck gesetzt, Journalisten wurden verhaftet.
Beängstigende Bilanz
Die Zahl der zwischen 1. Januar und 5. Dezember 2015 vorgefallenen Menschenrechtsverletzungen ist seit dem von der AKP-Regierung beschlossenen Gesetz zur »Inneren Sicherheit« angestiegen.
Folgende Bilanz wurde von IHD und TIHV veröffentlicht:
- Aufgrund rechtswidriger Ermordung durch die Strafverfolgungsbehörden, Nichtbeachtung von Warnungen oder willkürlicher Eröffnung des Feuers starben 173 Personen und 226 wurden verletzt. Es gab 135 Todes- und 191 Verletzungsfälle.
- Bei Selbstmordanschlägen in Amed, Pirsûs und Ankara starben insgesamt 138 Personen und mindestens 929 wurden verletzt.
- 4 Personen starben in Untersuchungshaft.
- 19 Personen wurden Opfer von Todesschwadronen.
- Mindestens 28 Personen starben aus verschiedenen Gründen in den Gefängnissen.
- Mindestens 33 Personen starben auf ungeklärte Weise beim Wehrdienst.
- Bei Minen- und Bombenexplosionen starben 5 Personen und 22 wurden schwer verletzt.
- Bei militärischen Auseinandersetzungen starben 171 Soldaten, Polizisten und Dorfschützer, 195 Militante, 157 Zivilisten, insgesamt 523 Personen.
- Aufgrund männlicher Gewalt starben bis zum 23.11.2015 255 Frauen.
- Durch Hassmorde und bei rassistischen Vorfällen starben 4 Menschen.
- Aufgrund von Arbeitsunfällen/-morden starben bis zum 01.12.2015 1593 Personen.
- Mindestens 16 Flüchtlinge starben beim Grenzübertritt und 160 Personen wurden verletzt
- 1433 Menschen wurden in Untersuchungshaft misshandelt.
Die Türkei setzt Folter und Misshandlungen fort
Überall dort, wo Aufsicht und Kontrolle den Sicherheitskräften obliegen, wird in Haftanstalten, Gefängnissen und Militärunterkünften Folter angewandt. Darüber hinaus führen unverhältnismäßige und exzessive Interventionen auf Versammlungen und Demonstrationen dazu, dass Folter und andere unverhältnismäßige Übergriffe in der Öffentlichkeit unverschleiert praktiziert werden. Die Kurdenfrage spitzt den Konflikt und die bürgerkriegsähnliche Situation zudem zu. Prozessbedingungen und Rechtsschutz sind nicht implementiert und Folter und Misshandlung sind weit verbreitet. 2015 haben in den ersten 11 Monaten 560 Menschen das Menschenrechtsbüro angerufen, davon 347 als Opfer von Folter und Misshandlung. Nach Angaben des Menschenrechtsbüros wurden 433 Menschen in den ersten 11 Monaten des Jahres während der Untersuchungshaft gefoltert. Diese Art des Vorgehens ist bis dato unbestraft geblieben.
Schwere Verstöße in der Kurdenfrage
Die in den kurdischen Provinzen verhängte rechtswidrige Ausgangssperre, die dazu führte, dass der Zivilbevölkerung monatelang Strom, Wasser, Nahrung und Gesundheitsversorgung vorenthalten wurden, ist inakzeptabel. Genauso inakzeptabel ist es, dass Dutzende Manschen, ob jung oder alt, Opfer von menschenunwürdigen Methoden der Sicherheitskräfte wurden und dabei Dutzende ihr Leben verloren. Dieser Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen führt zum Kollaps des wirtschaftlichen und sozialen Lebens.
Angaben von IHD und TIHV:
2015 haben 171 Soldaten, 195 Aktivisten, 157 Zivilisten, somit insgesamt 523 Menschen aufgrund dieser kriegerischen Umstände ihr Leben verloren. 338 Sicherheitskräfte, 145 Aktivisten, 70 Zivilisten, somit insgesamt 553 Menschen wurden verletzt. 6 744 Menschen wurden in Untersuchungshaft genommen, 1 285 verhaftet.
Dieser politische Völkermord wird heute noch fortgesetzt!
17 Bürgermeister wurden festgenommen, 15 von ihnen ihres Amtes enthoben. Im Rahmen der KCK-Ermittlungen sowie der Operationen gegen HDP, DBP und HDK wurden insgesamt 6 744 Personen in Untersuchungshaft genommen, 1 285 festgenommen.
Gedanken- und Meinungsfreiheit sind kaum existent.
105 958 Internetseiten wurden blockiert.
30 Journalisten befinden sich noch immer im Gefängnis. Zuletzt wurden zwei Journalisten der Zeitschrift »Nokta Dergisi« festgenommen.
Gewalt gegen Kurden sowie gegen Oppositionelle:
2015 wurden 417 Wahlbüros der HDP, 11 der AKP und 4 der CHP angegriffen, so Türkdoğan. Außerdem benutzten Sicherheitskräfte sogar auf friedlichen Versammlungen chemische Waffen und Feuerwaffen und übten unverhältnismäßige Gewalt aus. Opfer dieser Gewalt wurden Kurden, Arbeiter, Aleviten, Frauen sowie LGBTler. Als Ergebnis sind 210 Personen verletzt, 3 377 Personen in Untersuchungshaft genommen sowie 201 Personen festgenommen worden. 256 Veranstaltungen wurden grundlos verboten.
Das Gefängnis des Typs F soll tunlichst bald geschlossen werden
Türkdoğan wies auf die Tatsache hin, dass zu Beginn der Regierungsübernahme durch die AKP die Zahl der Gefängnisinsassen 59 429 betrug und laut den letzten Informationen des Justizministeriums sich deren Zahl nunmehr auf insgesamt 164 461 erhöht hat.
Die Zahl der minderjährigen Verurteilten betrug 2 165. Die Todesfälle, die auf Selbstmord, Folter, Misshandlung, Unfall, Vernachlässigung, Krankheit, Streitigkeit unter Häftlingen usw. zurückzuführen sind, haben 28 Menschen das Leben gekostet.
Obwohl die Verordnung des Justizministeriums vom 22.01.2007 (45/1) zur Sozialisierung eine Zusammenkunft im Ausmaß von 10 Stunden für 10 Häftlinge vorsah, wurde diese Vorschrift weder problemlos noch effizient umgesetzt.
Das Imralı-Gefängnis des Typs F, in dem am häufigsten Isolation angewandt wird, sollte bald geschlossen werden.
In den ersten 11 Monaten des Jahres kamen 1 593 Arbeiter in allen Branchen aufgrund von Arbeitsunfällen/-morden ums Leben. Der IHD-Vorsitzende brachte noch vor, dass in den ersten 11 Monaten des Jahres 282 Frauen gestorben, 367 Frauen verletzt davongekommen und 132 Frauen Opfer von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung geworden sind.
Ohne die Sicherung des Friedens und die Beendigung der Diktatur Erdoğans kann das Recht auf Leben nicht gewährleistet werden
»Das Inkrafttreten der Menschenrechtserklärung erreicht heute ihr 68. Jahr und allen voran unterliegen die kurdische Bevölkerung und alle demokratischen Kräfte politischer Repression. Alle, die sich gegen die Autorität Erdoğans und gegen die AKP-Regierung stellen, befinden sich in großer Gefahr. Der Türkei wurde als EU-Beitrittskandidatin Kredit gewährt und trotz der Verletzung aller demokratischen Kriterien wird sie noch immer von der EU unterstützt.
Unverständlich bleibt der Umstand, dass die westlichen Kräfte noch immer keine klare Position bezogen haben gegen die Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS (Islamischer Staat), der Taten gegen die Menschlichkeit begeht.
Das Schweigen und die Nichteinsetzung von Sanktionen gegenüber der AKP-Regierung, die tagtäglich Verbrechen an der kurdischen Bevölkerung begeht, sind unvereinbar mit ethischen Werten.
Wir rufen alle sensiblen Menschen auf, eine Rolle zu spielen bei der Aufhebung der Isolation des Vorsitzenden der kurdischen Freiheitsbewegung Abdullah Öcalan und der Einleitung von Friedensgesprächen. Obwohl einige Staaten und internationale Institutionen ähnliche Aufrufe tätigen, ergreifen sie in der Praxis keine Initiative, damit der türkische Staat etwas unternimmt.
Wir fordern an dieser Stelle alle demokratischen Kräfte und internationalen Institutionen auf, sich gegen die AKP und die Diktatur Erdoğans zu stellen sowie die Widerstand leistenden Kräfte zu unterstützen.
Solange die Kurdenfrage nicht gelöst und die Politik der Türkei in Irak und Syrien nicht beendet worden ist, sind auch die EU-Mitgliedstaaten mit großen Risiken konfrontiert. Der aus der Haltung der Türkei Kraft schöpfende IS verursacht in Europa Blutvergießen. Seine Vernichtung beinhaltet einerseits die Verurteilung der durch die Türkei gewährten Unterstützung für diese barbarische Gewalt und andererseits deren Enthüllung.«
Dies ist eine Vorabveröffentlichung eines Artikel aus dem Kurdistan Report Nr. 183. Zur Homepage der Kurdistan Reports gelangt ihr hier.