Abhörskandale, Korruptionsaffären und Kommunalwahlen …

turkei wahlenTürkei: Eine Alternative zum derzeitigen System bietet nur die BDP/HDP (Teil 1)
Eine Analyse von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V., 06.03.2014

Begleitet von chaotischen politischen Verhältnissen nähern sich in der Türkei die Kommunalwahlen. Die Wahlen finden am 30. März statt, doch anstatt, dass sich die politischen Parteien dem Wahlkampf widmen, sind alle derzeit damit beschäftigt, sich mit möglichst geringem Schaden aus den derzeit turbulenten Wochen in der politischen Arena herauszuwinden. Korruptionsaffären, ein tobender Machtkampf zwischen Gülen und AKP, Abhörskandale und Tonbandaufnahmen bestimmen die Tagesordnung in der Türkei. Jeden Tag ein neuer Skandal, immer neue Namen von Politikern aus der Regierungs- und Oppositionskreisen, die mit in den Skandalsumpf hineingezogen werden.

Machtstreit zwischen AKP und Orden Gülens
Betrachten wir zunächst einmal die Regierungspartei AKP: Dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan ist in den letzten Monaten nicht nur sein einstiger Bündnispartner abhandengekommen, dieser hat sich zudem noch zu seinem Erzfeind entwickelt. Hatte der international gut organisierte Orden des Predigers Fethullah Gülen seit der Gründung der AKP 2001 die Partei mit allen Mitteln unterstützt, so ist diese Zusammenarbeit am Anfang dieses Jahres zu einem jähen Ende gelangt. Erdogan ist dem Gülen-Orden zu mächtig geworden und umgekehrt ebenso. Es ist ein Machtkampf um Posten und Interessen in der Türkei ausgebrochen, wie aus dem Bilderbuch. Erdogan hat den Beschluss gefasst, die Schulen Gülens zu schließen und den Polizei- und Justizapparat von Gülen-Mitgliedern zu säubern. Der Orden Gülens hat daraufhin einige seiner Abgeordneten aus den Reihen der AKP abgezogen und, wie das so üblich ist, wenn Zweckgemeinschaften unschön enden, damit angefangen, die schmutzige Wäsche des Ex-Partners scheibchenweise der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Die Folge dessen ist, dass nun die türkische und internationale Öffentlichkeit darüber informiert worden ist, dass die türkische Regierungspartei, die über die Jahre gerade durch ihr Image als Saubermann so viel Rückhalt in der türkischen Bevölkerung gesammelt hat, anscheinend doch nicht ganz so sauber ist. Fast schon wöchentlich tauchen neue Telefonmitschnitte von irgendwelchen Regierungsverantwortlichen auf Youtube auf, die immer neue Dimensionen eines Korruptionsskandals offenbaren. Dass die AKP aber nicht erst seit heute korrupt ist, sondern es die ganze Zeit schon war, und dass die Mitglieder des Gülen-Ordens, als es zwischen AKP und Gülen gut lief, das toleriert oder gar aktiv mitgemacht haben, wird natürlich von keiner der beiden Streithähne eingestanden. Die türkische Regierungspartei AKP will die anstehenden Kommunalwahlen auf alle Fälle dazu nutzen, um zu beweisen, dass ihr ein gewisser Herr aus Pennsylvania, dort lebt Gülen nämlich seit knapp 15 Jahren, nichts anhaben kann. Zwar wagt es niemand abzuschätzen, wie groß das Wählerpotential der Gülen-Gemeinde in der Türkei ist. Aber es ist davon auszugehen, dass die AKP die ganzen Krisen und Skandale nicht unbeschadet überstehen wird.

CHP auf der Suche nach politischer Identität
Man dürfte meinen, dass daraus die größte Oppositionspartei der Türkei Potential schlagen können müsste. Doch das ist anscheinend nicht der Fall, wenn diese Republikanische Volkspartei (CHP) heißt. Die CHP weist kein klares Profil auf, niemand weiß, was sie so recht will. Eigentlich gilt die Partei als Hüterin des Laizismus, doch nach der Trennung von Gülen und Erdogan liebäugelt sie nun selbst mit dem islamischen Orden. Dem Bürgermeisterkandidaten der CHP in Istanbul, ein gewisser Mustafa Sarigül, der 2005 selbst nach einem verlorenem Machtkampf mit dem damaligen Vorsitzenden der Partei Deniz Baykal die CHP verließ, und nun wieder zurück ins Boot gekehrt ist, wird eine starke Nähe zur Gülen Bewegung nachgesagt. Aus Tonbandaufzeichnungen (welch Überraschung!?) geht hervor, dass Gülen höchstpersönlich seine Unterstützung für Sarigül zugesagt habe. Auf der anderen Seite gibt sich die CHP als sozialdemokratische Partei aus, hat aber in der türkischen Hauptstadt einen gewissen Herrn Mansur Yavas als Bürgermeisterkandidaten aufgestellt, der zwischen 1999 und 2013 Mitglied der rechtsradikalen MHP und für diese Partei Bürgermeister des Stadtteils Beypazari in Ankara war. Die CHP tritt bei den anstehenden Wahlen mit dem Slogan „die vereinende Partei“ an. Sie will anscheinend sowohl die SympathisantInnen der Gezi-Park-Bewegung ansprechen, als auch die ultranationalistischen Kreise. Sie will sowohl die Laizisten im Land ansprechen, als auch die SympathisantInnen der Gülen-Bewegung. Wer so viele von Grund auf entgegengesetzte Teile der Gesellschaft ansprechen will, verliert nicht nur sein Profil, sondern droht am Ende rein niemanden mehr wirklich ansprechen zu können. Und genau auf diese Weise gelingt es der CHP trotz der andauernden Krise in der Regierungspartei als größte Oppositionspartei nicht an Boden gutzumachen, sondern die eigene Basis zu verlieren.

MHP: Warum Demokratisierung, wenn es mit Nationalismus auch geht?
In den Reihen der Mainstreamparteien scheint allein die nationalistische MHP aus diesem Chaos gestärkt hervorzutreten. Viele Wahlprognosen zeigen, dass in Phasen politischer Krisen die platten Slogans der türkischen Rechten in der Bevölkerung stärker fruchten. Auf Grundlage der Ängste der Bevölkerung stilisiert sich die MHP zum vermeintlichen Retter der Türkei. „Die regierende AKP steckt in einem geheimen Bündnis mit der PKK und verkauft die Türkei“, es sind Plattitüden wie diese, mit denen die Rechten derzeit Politik betreiben. Und das anscheinend nicht ganz ohne Erfolg. Doch ob solch eine Politik auch lösungsorientiert ist, ist mehr als zweifelhaft.

Der Lösungsprozess der kurdischen Frage und die Kommunalwahlen …
Was eine mögliche Lösung der kurdischen Frage angeht, tut sich derzeit in der Türkei herzlich wenig. Die regierende AKP ist, wie oben beschrieben, eher mit sich selber beschäftigt und verweist darauf, dass sie nach den Wahlen sich wieder um die Thematik kümmern wolle. Doch obwohl noch vor den Wahlen der Waffenstillstand zwischen den kurdischen Guerillakräften und der türkischen Armee sein erstes Jahr vollendet, mangelt es an politischen Schritten für eine Lösung in der kurdischen Frage. So wurde beispielsweise die Situation von tausenden politischen Gefangenen, darunter annähernd 200 schwerst Erkrankte, noch nicht einmal von der Regierung diskutiert.

Während die AKP also auf Zeit spielt, und viel von einer Lösung redet, aber wenig Praktisches leistet, hat die CHP keinerlei Konzepte für die Lösung der kurdischen Frage. Und wenn es nach der MHP geht, gibt es solch eine Frage erst gar nicht.

Was macht man nun in solch einer verfahrenen Situation, in der die politischen Verantwortlichen die wohl wichtigste Frage der Türkei nicht angehen wollen? Richtig, man nimmt das Heft selbst in die Hand. Und genau mit dieser Haltung tritt die Partei für Demokratie und Frieden (BDP) zu den Wahlen an. Sie hat seit Beginn des Lösungsprozesses als friedenspolitische Kraft immer wieder versucht den stockenden Prozess voranzubringen, die kurdische Bevölkerung zur Geduld zu mahnen und die regierende AKP zum Handeln zu drängen. Für diese Haltung wird sie voraussichtlich am 30. März belohnt werden, denn laut Umfragen wird sie in allen kurdischen Orten ihren Stimmanteil deutlich steigern. Aber frei nach dem Motto, wenn die Regierung keine Lösung will, schaffen wir uns selbst unsere Lösung, tritt die BDP zu diesen Wahlen nicht nur als eine Partei an, die bloß eine Lösung fordert, sondern diese in ihren Hochburgen gemeinsam mit der Bevölkerung selbst umzusetzen vermag.

Überwindung von Zentralismus: Doppelspitze bei BürgermeisterInnenwahlen
Erstmals tritt die BDP mit Doppelspitzen zu den BürgermeisterInnenwahlen an. Das bedeutet, dass es in den Orten, in denen die BDP mit den meisten Stimmen gewählt wird, wird es fortan eine Frau und einen Mann als Bürgermeister/in geben. Die Doppelspitze für den Posten der/s Bürgermeisterin/s ist eine Neuheit, und das vermutlich weit über die Türkei hinaus. Doch sie ist zugleich auch der nächste konsequente Schritt in Richtung im Projekt einer geschlechterbefreiten Gesellschaft, wie es sich die kurdische Bewegung auf die Fahnen geschrieben hat. Es war die verbotene Vorgängerpartei der BDP, die Demokratische Gesellschaftspartei (DTP), die das Co-Vorsitzendensystem erstmals für die Parteispitze umsetzte. Damals sorgte dieser Schritt für einigen Wirbel in der türkischen Politik, selbst die türkische Justiz schaltete sich ein. Doch sowohl die DTP als auch später die BDP beharrten auf der Doppelspitze, bis schließlich im Herbst 2013 im Rahmen des „Demokratisierungspakets“ die AKP die Doppelspitze für Parteien legalisierte. Es bleibt abzuwarten, wann die türkische Regierung auch bei der Doppelspitze für den BürgermeisterInnenposten einknickt und dem Ganzen eine rechtliche Form gibt. Eine andere Zahl, die eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass die BDP eine Vorreiterrolle in Sachen Geschlechterbefreiung einnimmt, ist der Anteil der Frauen für die Wahl der Stadtverordnetenräte, die auch am 30. März neu zusammengesetzt werden. Ganze 48 % der KandidatInnen der BDP für die Stadtverordnetenräte sind nämlich Frauen.

Die Geschlechterfrage ist sicherlich das Vorzeigethema der kurdischen politischen Bewegung, wenn es darum geht, wie der Aufbau einer freien Gesellschaft aussehen könnte. Die Umsetzung der eigenen Lösung ist aber noch vielschichtiger. Demokratische Autonomie heißt das Konzept, mit dem sich die Bevölkerung demokratisch selbst verwalten soll. Genau so wie die Errungenschaften der KurdInnen in Rojava (Nordsyrien) könnte ein starkes Auftreten bei den anstehenden Kommunalwahlen diesem Konzept Auftrieb geben. Ziel ist es, durch kommunale Rätestrukturen der Bevölkerung maximale Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe zu ermöglichen. Der Kandidat für Co-BürgermeisterInnenposten in Amed (Diyarbakir) Firat Anli beschreibt am Beispiel für seine Stadt dieses System so:

„Es [gibt] beispielsweise im Stadtzentrum von Amed 54, in der ganzen Provinz sogar 950 Stadtviertel. Wir wollen also in 950 Stadtvierteln Räte aufbauen. Und die Delegierten aus diesen 950 Räten kommen im Stadtrat zusammen. Außerdem auch die VertreterInnen der Frauenräte, der Jugendräte, der Kinderräte, der Behindertenräte und weiterer Räte, die je nach Bedürfnis und Interesse gegründet werden können. Im Stadtrat treffen also alle sich in Form von Räten organisierten Strukturen zusammen.“

Und die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sind ebenfalls ganz normale Mitglieder dieses Stadtrats und müssen ihm Rede und Antwort stehen.

Macht- oder Systemfrage?
Derzeit fragen sich viele, wie sich die kurdische Freiheitsbewegung in dem ganzen Clinch zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde positioniert. Erneut schwebt, wie schon bei den Gezi-Protesten, der Verdacht in der Luft, dass die kurdische Bewegung sich bei der Korruptionsaffäre nicht gegen Erdogan stellen wolle, um ihren Verhandlungspartner im Lösungsprozess nicht zu schwächen. Doch ebenso wie bei den Gezi-Protesten ist diese Vermutung wieder danebengegriffen. „Wir haben noch vor dem 17. Dezember (das Datum, als die Korruptionsaffäre die türkischen Schlagzeilen erschütterte) das Thema auf die Tagesordnung gebracht, aber kein Staatsanwalt hat dagegen ein Verfahren eingeleitet“, erklärt der BDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Womit wir es derzeit in der Türkei zu tun haben, ist eine tiefgreifende politische Krise infolge eines erbittert geführten Machtkampfes. Was die politischen Akteure der Türkei (und vermutlich auch anderswo) nicht begreifen wollen, ist, dass das Problem nicht die AKP, der Gülen-Orden, die CHP oder die MHP ist. Sie sind alle lediglich Akteure eines politischen Systems, das selbst die politischen Krisen produziert. Deswegen stellt die kurdische Freiheitsbewegung die Systemfrage. Was hat die Systemfrage mit den Kommunalwahlen zu tun, mag man sich jetzt vielleicht fragen. Hierzu muss unterstrichen werden, dass die kurdische Freiheitsbewegung nicht allein die Frage nach dem System stellt, sie baut zugleich aktiv ihre Alternative auf. Ein erfolgreiches Abschneiden bei den Wahlen am 30. März stellt insofern auf dem Weg zum Aufbau dieser Alternative einen Etappenerfolg dar. „Die anstehenden Wahlen sind ein Referendum für die Demokratische Autonomie“, heißt es immer wieder auf Wahlkampfveranstaltungen der BDP. Genau hierin liegt die Bedeutung der Kommunalwahlen, nicht mehr und auch nicht weniger.

Und die Systemfrage wird nicht allein in den kurdischen Gebieten der Türkei gestellt. Beflügelt vom Geist der Gezi-Proteste wird die Demokratische Partei der Völker (HDP) bei diesen Kommunalwahlen auf die politische Bühne der Türkei treten. Sie will die Stimme allderjenigen vertreten, die vom System der Türkei bislang ignoriert, ausgeschlossen und unterdrückt wurden. Allein in Istanbul wird ihr Stimmanteil voraussichtlich mehr als 10% betragen. Doch mit der HDP wollen wir uns in einem eigenen Artikel beschäftigen.

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