Afrin im Schatten der Wahlen

Fehim Işık über die andauernde Besatzungspolitik in Afrin im Kontext der Türkei-Wahlen, 11.05.2018

Im Zuge der Entscheidung Erdoğans, die Wahlen in der Türkei vorzuziehen, wurde über eine Anweisung an die ihm nahestehenden Medien diskutiert. Viel ist darüber nicht bekannt, doch wir wissen, dass den Medien nahe gelegt wurde, keine Nachrichten über Afrin zu verbreiten, welche die Kurden verstimmen könnten.

Die Erdoğan nahen Medien befolgen diesen Befehl. Seitdem lesen wir in den Medien nur noch, wie die „mitfühlenden türkischen Soldaten und opferbereiten FSA’ler den Menschen in Afrin beistehen“. Wir lesen nichts über die Besatzung, der von den FSA-Mitgliedern angerichteten Zerstörung, die Schritte zur Veränderung der Demografie oder den 150.000 geflüchteten Menschen aus Afrin, die nun gezwungen sind in Tall Rifaat zu leben. In diesen Medien hört man nur vom hilfsbereiten türkischen Staat, seinem lieben Präsidenten und der AKP-Regierung, die Afrin zu einem lebenswerten Ort machen möchte.

All dies ist Teil des psychologischen Kriegs. Auch wenn dies manchmal klar zu Tage tritt, wie beispielsweise bei der falschen Übersetzung der Reportage von Veyis Ateş in dem regierungsnahen Medium Habertürk ((https://anfenglish.com/features/afrin-people-says-fsa-did-the-looting-habertuerk-announces-as-ypg-25803)), wissen wir, dass diese Medien Erfahrung in der psychologischen Kriegsführung haben und ihre Arbeit gewissenhaft auführen. Doch die Ereignisse in Afrin sind nicht so, wie sie in den AKP-Medien dargestellt werden. Ganz im Gegenteil passiert in Afrin genau das, was auch in Jarablus und Al-Bab passierte, nur viel professioneller und umfassender.

Die Türkei, die vor ihrer Besatzung in Afrin, die Region von Jarablus, Azez, Mare bis Al-Bab zusammen mit der sogenannten FSA besetzte, hat sowohl kein einziges kurdisches Dorf unberührt gelassen, als auch alle oppositionellen Kurden, Turkmenen, Armenier und Araber vertrieben. Sie hat die FSA aus ganz Syrien, deren Familien, in die Türkei geflüchtete Syrer und eigene Anhänger in diese Region gebracht. Sie hat diese Region vielleicht nicht türkisieren können, aber offensichtlich ‚erdoganisiert‘ und ‚AKPisiert‘. Diese Region ist nun voll mit Anhängern der AKP und Erdoğan. Die wenigen Kurden und die anderen Oppositionellen sind gezwungen still zu bleiben.

Dieselbe Politik wird nun in Afrin angewandt. Zuallererst werden in Orten nahe der türkischen Grenze, Dörfern und Städten wie Bilbilê, Raco und Cindires mit dschihadistischen Gruppen und deren Familien aus Regionen, die dem syrischen Regime überlassen wurden, angesiedelt. Viele von ihnen kommen derzeit aus Ost-Ghouta. Wir sprechen von zehntausenden Menschen, die sich derzeit in Afrin niederlassen. Die AKP belässt es nicht bei der Ansiedlung dieser Menschen in der Grenzregion, sondern spricht offen über ihre langfristigen Absichten zur Veränderung der Demografie in der Region.

Es gibt auch ernstzunehmende Angriffe im Zentrum Afrins. Die Plünderungen und Verwüstung, die in den ersten Tagen dokumentiert wurden, werden nun kontrollierter durchgeführt. Die FSA-Mitglieder gehen sogar einen Schritt weiter und entführen Menschen, um ihre Familien zur Zahlung von Lösegeld zu zwingen. Bekannte Journalisten, Schriftsteller und Akademiker werden von den Mitgliedern der sogenannten FSA an unbekannte Orte verschleppt. Es gibt ernstzunehmende Hinweise darauf, dass einige von ihnen dem türkischen Geheimdienst ausgeliefert und anschließend in der Türkei inhaftiert werden. Andere Fälle betreffen Misshandlungen und Vergewaltigungen. Die regionale Presse berichtet von dutzenden jungen Frauen, die entführt und vergewaltigt wurden. Das Leben ist geprägt von Angst, mit der die Region versucht wird zu kontrollieren. Diese Strategie ähnelt eindeutig der des Islamischen Staates.

Trotz zahlreicher Berichte internationaler Organisationen wie der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte fanden bisher noch keine praktischen Schritte gegen diese Praxis in Afrin statt. Immer wieder bekunden die USA, Frankreich, England oder die UNO ihre Sorgen über die Situation. Mehr geschieht jedoch nicht. Die Türkei hingegen möchte in kürzester Zeit die Grenzregion und langfristig das Şehba-Gebiet, dass sich von Afrin, Jerablus bis nach Al-Bab erstreckt, vollständig von den Kurden säubern und in eine von ihr abhängige Region verwandeln. Auch wenn sie es aufgrund internationalen Drucks nicht schaffen sollte diese Region langfristig zu besetzen, verfolgt die Türkei den Plan die Region zu „entkurdisieren“ und erst dann dem Regime zu übergeben.

Während die AKP versucht all dies mithilfe ihrer eigenen Medien zu tarnen, verübt sie schwerwiegende Verbrechen, aufgrund derer die Türkei in Zukunft vor einem internationalen Gericht angeklagt werden kann. Sobald diese Verbrechen auf die Tagesordnung der internationalen Gerichte kommen, wird die Türkei nur schwer für die mehreren Milliarden Pfund Entschädigungen aufkommen können.

Kommen wir noch einmal zurück zum Anfang dieses Artikels. Der Präsidentschaftskandidat der AKP Erdoğan zählte während dem Angriff auf Afrin buchstäblich die Toten. Nun möchte er die Ereignisse dort verheimlichen, um keine negativen Auswirkungen auf die Wahlen fürchten zu müssen. Wenn es nicht zu einem Verlust der Stimmen der MHP führen würde, würde er sich selbst zum Schutzherr der Kurden erklären. Vieles deutet darauf hin, dass die türkische Besatzungspolitik Teil der langfristigen Staatspolitik bleiben wird. Auch im Falle eine Machtverlusts Erdogans wird die Türkei sie als Pfand in der internationalen Diplomatie einsetzen.

Übrig bleiben die HDP und die Demokraten aus der Türkei. Vielleicht werden einige von uns sagen, sie hätten keine Chance. Es stimmt, dass sie vielleicht keine Regierung stellen können. Aber eine stärkere Unterstützung für die demokratischen Kräfte der Türkei, die sich trotz der starken Repressionen noch nicht ergeben haben, kann einen Schutz gegen die verwerfliche Staatspolitik darstellen und die Verwüstungen und Plünderungen weiterhin öffentlich anprangern. Die Wahlen vom 24. Juni sollte man vor diesem Hintergrund betrachten.

Im Original erschien der Artikel am 10.05.2018 unter dem Titel “ Afrin, sessiz sedasız Kürtsüzleştiriliyor” auf der Homepage des Nachrichtenportals Artı Gerçek.