Interview mit Yavuz Fersoğlu, Vorstandsmitglied des Demokratischen Gesellschaftszentrums für Kurdinnen und Kurden in Deutschland (NAV-DEM), für den Kurdistan Report Juli/August 2017
Zum G20-Gipfel laden die selbst ernannten HerrscherInnen der Welt im Juli nach Hamburg. Für die Bevölkerung in Hamburg wird das den Ausnahmezustand bedeuten. Zehntausende sogenannte »Sicherheitskräfte« werden das Treffen absichern, denn die Erdoğans, Trumps und Putins, und wie sie alle heißen, werden von einem Großteil der Bevölkerung nicht herzlich willkommen geheißen. Auch NAV-DEM ruft zur Beteiligung an den Protesten auf – wie auch zur Teilnahme am Gegengipfel. Wir sprachen mit dem Vorstandsmitglied von NAV-DEM, Yavuz Fersoğlu, über ihre Einschätzung zum G20-Gipfel und ihre Beteiligung an den Gegenaktivitäten.
Kannst Du uns erklären, was das Treffen der G20-Staaten im Juli in Hamburg für die kurdischen Gesellschaften bedeutet?
Auch für die kurdischen Gesellschaften bedeutet G20 weitere Ausbeutung besonders des Südens, der sogenannten Dritten Welt, die Ausbeutung unserer Lebensgrundlagen, der Ressourcen, die Vermarktung und Zerstörung der Umwelt, denn ihre Politik, die sie weltweit betreiben, basiert nur auf noch mehr Wachstum, ohne dabei Rücksicht auf Mensch, Natur und Tier zu nehmen. Dass dies inzwischen zu einem Problem geworden ist, ist von allen erkannt worden. Eine solche Entwicklung ist für Mensch und Natur nicht von Vorteil, aber der Wille, auf Profit zu verzichten, ist nicht vorhanden, und der Preis, den wir dafür zu zahlen haben, wird gerade von den VertreterInnen der G20-Staaten immer weiter in die Höhe getrieben. Profitmaximierung, das ist für die Kurdinnen und Kurden, wie für alle Menschen weltweit, ein Problem.
Wird dieses Treffen der G20-Staaten in Hamburg direkte Auswirkungen auf Kurdistan selbst haben?
Ich denke schon, denn in ihrem Kreise sitzt auch der Staatspräsident der Türkei, Erdoğan, der sich ja selbst zum Feind der Kurdinnen und Kurden erklärt hat. Für seine Politik in Nordkurdistan, im türkisch besetzten Teil, wie auch für die in den anderen drei Teilen Kurdistans, wird er hier hofiert und unterstützt. Allein seine Anwesenheit ist schon Unterstützung für sein System. Und wir wissen auch, dass Regierungen der G20-Staaten, von denen ja etliche Mitglied in der NATO sind, schon immer das türkische System im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung unterstützt haben, allen voran Deutschland mit Waffen, mit finanzieller und auch politischer Unterstützung sowie mit dem Verbot der kurdischen Organisationen hier.
Für seine Kriegspolitik gegen die kurdische Befreiungsbewegung, gegen die kurdische Bevölkerung, für seine Besatzungspolitik im Mittleren Osten wird Erdoğan auch bei diesem Gipfel werben und er wird die Unterstützung dafür auch erhalten, denn sonst ist es nicht zu erklären, warum er zu diesem Treffen eingeladen wurde. Wir müssen auch daran denken, was bei Erdoğans Besuch in Washington passiert ist, als seine Gorillas, seine Bodyguards, seine Spezialeinheiten gegen friedlich demonstrierende Menschen äußerst brutal vorgegangen sind. Allein seine Anwesenheit stellt ein großes Sicherheitsproblem dar. Wenn die deutschen VeranstalterInnen wirklich so sehr auf Sicherheit bedacht sind – wie sie immer wieder kundtun –, dann müssen sie Erdoğan ausladen, was politisch richtig wäre und was wir auch fordern.
Ist NAV-DEM Mitveranstalter der Proteste in Hamburg?
Wir sind von Anfang an als NAV-DEM dabei. Wir wollen, dass eine politische Manifestation hier zum G20-Gipfel zum Ausdruck gebracht wird. Wir können aufzeigen, dass es Alternativen zur Politik der G20-Staaten gibt. Das, was die kurdische Bewegung, die Bevölkerung in Rojava zurzeit aufbauen, nämlich eine geschlechterbefreite, ökologische, gleichberechtigte und selbstorganisierte Gesellschaft, die nicht auf Profit aus ist, ist ein Alternativmodell zur G20. Deshalb war es von Anfang an unser Bestreben mitzuwirken, an der Demonstration wie auch am Alternativgipfel, dem Gipfel der globalen Solidarität, der am 5. und 6. Juli in Hamburg stattfinden wird.
Du hast gerade den Gegengipfel für globale Solidarität angesprochen, welche Veranstaltungen werden von kurdischer Seite angeboten?
Wir haben mit anderen kurdischen Institutionen zwei Arbeitsgruppen angemeldet: 1. Ein alternatives Gesellschaftskonzept: Demokratischer Konföderalismus als Lösungsmodell der Kurdinnen und Kurden – von NAV-DEM, 2. Jenseits von Staat, Macht und Patriarchat – Feministische Wissenschaft und Praxis aus kurdischer Frauenperspektive – von CENÎ – Kurdisches Frauenbüro für Frieden.
Salih Muslim, Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), wird am Abend des Gegengipfels auf der Podiumsdiskussion die Alternative Rojava vorstellen.
Mit wem wird Salih Muslim auf dem Podium sitzen?
Salih Muslim wird bei der Abendveranstaltung: Alternativen zur Politik der G20-Regierungen auf der lokalen, nationalen, europäischen und globalen Ebene am 5. Juli im Kampnagel das Podium teilen mit Sonia Farré von Barcelona en Comú (katalanisch für Barcelona Gemeinsam), aus Uganda kommt Jane Nalunga von Southern and Eastern Africa Trade Information and Negotiations Institute – SEATINI, und aus Berlin kommt Harald Wolf, DIE LINKE. Die Moderation machen Silke Helfrich (Commons Strategies Group) und Ulrich Brand (Universität Wien).
NAV-DEM als große Organisation vertritt u. a. 79 kurdische Vereine in Deutschland …
Ja, NAV-DEM vertritt 79 Demokratische Gesellschaftszentren der KurdInnen in Deutschland, 90 Fußballvereine, zwölf êzîdische, sieben alevitische Vereine, neun sunnitische, drei Rojava-Vereine, insgesamt sind es über 260 Institutionen, die in NAV-Dem vertreten sind.
Und die werden alle mobilisiert, um an den Protesten gegen den G20-Gipfel teilzunehmen?
Das ist unser Bestreben. Der NAV-DEM-Vorstand hat beschlossen, bundesweit für die Demonstration am 8. Juli in Hamburg zu mobilisieren, wir sind aktiver Teil des Gegengipfels; mit all unseren Möglichkeiten werden wir den Protest gegen den G20-Gipfel unterstützen. Im Besonderen auch, weil Erdoğan nach Hamburg kommt. Dies ist Anlass für Kurdinnen und Kurden, nach Hamburg zu kommen, um gegen seine Kriegspolitik zu demonstrieren. Gemeinsam mit vielen Menschen aus verschiedenen Ländern werden wir Haltung zeigen, um eine tiefe Solidarität zu entwickeln, eine wirkliche internationale Solidarität – auf der Straße.
Gibt es ein konkretes Ziel der VeranstalterInnen, verhindert werden kann der G20-Gipfel ja nun nicht mehr …
Es gab Bestrebungen, den Gipfel ganz zu kippen, es gibt die Initiative zur Volksbefragung und es gab bisher schon viele Demonstrationen, aber die »Herrschenden« wollen ihren Gipfel in Hamburg machen. Dagegen wird es weiter verschiedenste Aktionen geben, Aktionen des sogenannten zivilen Ungehorsams, Widerstand gegen ihre Arroganz, ihre Politik. Aber auch Alternativen sollen, wie ich oben beschrieben habe, entwickelt werden. Es werden viele Aktionen stattfinden und eben auch der Gegengipfel und die Großdemonstration, zu der wir hunderttausend Menschen erwarten. Ich wünsche mir, dass Kurdinnen und Kurden sowie ihre FreundInnen bei den Aktivitäten stark vertreten sind.
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