Was sagt die Gesellschaft in Südkurdistan zum anstehenden Referendum?

Meral Cicek zur gesellschaftlichen Stimmung angesichts des angekündigten Unabhängigkeitsreferendums in Südkurdistan (Nordirak), 02.07.2017

Es sind mittlerweile 20 Tage vergangen, seitdem die Entscheidung für das Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan (Nordirak) verkündet wurde. Jedoch konnte die erhoffte Euphorie und Begeisterung innerhalb der Gesellschaft nicht geweckt werden. Denn egal wer bzgl. des Referendums nach seiner Meinung gefragt wird, sei es ein Taxifahrer, Straßenhändler, normale Bürger oder Politiker, es wird schnell klar, dass jenes Vorhaben innerhalb der Gesellschaft stark hinterfragt wird. Nicht die Unabhängigkeit an sich wird hinterfragt. Diesbezüglich hat die Gesellschaft in Südkurdistan sowieso im Jahre 2005 ihre klare Haltung bei einer Volksbefragung dargelegt. An diesem Referendum nahmen damals zwei Millionen Menschen teil, die mit 98,98 % für eine Unabhängigkeit stimmten.

Wenn dem so ist, was wird dann eigentlich hinterfragt bzw. welche Punkte bereiten der Gesellschaft Kopfzerbrechen? Wie diskutiert die Gesellschaft über das Referendum? Das Institut für demokratische Entwicklung (W.I.D.) hat vor einigen Tagen in Silêmanî (Sulaimaniyya) eine Veranstaltung abgehalten und zu dem Thema einige Auffassungen zusammengebracht. Die Veranstaltung wurde vom Vorsitzenden des W.I.D. Instituts Asitî Abdullah geführt. Der Journalist und Aktivist Niyaz Abdullah, der gleichzeitig als Dozent an der Halepce-Universität lehrt, war als Redner an der Diskussion beteiligt und trug die Hauptargumente, Widersprüche und Fragen folgendermaßen zusammen:

  • Ein abzuhaltendes Referendum sollte für das Volk in Kurdistan ein konkretes und positives Ergebnis mit sich bringen. Sieht man sich aber die offiziellen Verlautbarungen an, so wird klar, dass das Referendum kurzfristig in den Augen des Volkes keine tatsächliche Wirkung mit sich bringen wird.
  • Inwieweit sind die Fragen bzgl. der wirtschaftlichen, politischen als auch Sicherheitsbedingungen in die Berechnungen mit eingeflossen, als der Entschluss für ein Referendum fiel? Welche Auswirkungen wird das Referendum auf die Wirtschaft, Politik und Sicherheit haben?
  • Wieso wird versucht das Referendum vor den Präsident- als auch Parlamentswahlen abzuhalten?
  • Der Vorsitzende der KDP, Barzani, hatte im Jahre 2013 für seine damalige zweijährige Amtsverlängerung als Präsident angegeben, dass dringende Probleme gelöst werden müssten. Mittlerweile sind vier Jahre vergangen, aber die Probleme bestehen trotzdem noch. Weder die Frage bzgl. Shengal oder Kerkuk wurde geklärt, noch die Beziehungen zur Zentralregierung in Bagdad.
  • Barzani hat in letzter Zeit vermehrt ausländischen Medienorganen Interviews gegeben, jedoch bis dato sich bzgl. des Referendums in keinen kurdischen Sendern dazu geäußert. Was sind die Gründe hierfür?
  • Entweder ist die KDP bzgl. des Referendums nicht ernst genug oder kann die Annährungen der ausländischen Akteure nicht ganz lesen und dementsprechend einordnen. Es besteht ein Unterschied zwischen einer diplomatischen Sprache und einer politischen Haltung. In dem vergangenen Jahr wurde angeblich für eine Unabhängigkeit auf internationaler Ebene eine enorme Lobbyarbeit betrieben, wonach alle ausländischen Akteure ihre Unterstützung zugesagt hätten. Wenn dem so sei, warum beginnen die ausländischen Akteure nach und nach kritische und widersprüchliche Stellungen zu beziehen.
  • Die Autonome Region Kurdistans besitzt keine Lobby. Die einzelnen Parteien haben Lobbys, die wiederum an wirtschaftliche Kräfte gebunden sind.
  • Als im Jahre 2005 das Referendum in Südkurdistan abgehalten wurde, befand sich jene Region in puncto wirtschaftliche Lage, Sicherheit, politische Stabilität, Beziehungen zu Bagdad und der Auslandsunterstützung in einer viel besseren Position als heute. Wieso wurden damals keine konkreten Schritte unternommen? In diesen Punkten kriselt es heutzutage schlimmer als zu jenen Zeiten. Wieso wird in dieser Phase ein Referendum vorgenommen?
  • Die Wahlkommission der Autonomen Region Kurdistans hat sich bzgl. ihres Vorhabens immer noch nicht an die Zentralregierung in Bagdad gewandt. Auch die offiziellen Wählerlisten wurden noch nicht erstellt. Dies spricht dafür, dass keine Ernsthaftigkeit hinter dem geplanten Referendum steckt.
  • Auch wenn das Referendum abgehalten und man eine große Zustimmung erhalten wird, inwieweit werden Schritte zur Unabhängigkeit unternommen? Viele zweifeln daran.
  • Diejenigen, die das Referendum ansetzten, verhielten sich gesetzeswidrig und illegitim. Dieser Beschluss wurde ausschließlich von einem Kreis von Männern getragen und repräsentiert somit nicht das ganze Volk.
  • Denjenigen, die den Beschluss fassten, werden zahlreiche Verbrechen vorgeworfen: der Bürgerkrieg von 1996, das Massaker vom 31. August,  der Terror gegen Journalisten, politische Morde usw.. In all diesen Punkten gab es bis dato keine Aufarbeitung und dementsprechende Konsequenzen. Wie kann in einer Phase, wo Frauen und Journalisten ermordet werden, ein Referendum abgehalten werden?
  • Ein Teil der Bevölkerung lebt in ernstzunehmenden Sorgen und Zweifeln. Diese werden komplett ausgeblendet. An diesem Punkt müssten die Medien ihre Rolle wahrnehmen und die Stimme des Volkes wiedergeben.
  • Die eigene Bevölkerung wird nicht als Ansprechpartnerin wahrgenommen. Das Referendum wird nicht als die Angelegenheit des Volkes angegangen. Dieses Vorhaben wird als eine Angelegenheit von einer bestimmten Gruppe von Politikern gehandhabt.

Diese grundlegenden Fragezeichen stammen von Journalisten, Aktivisten, Studenten (Schülern) und Intellektuellen. Ohne dies kommentieren zu wollen, setze ich an dieser Stelle einen Punkt. In der nächsten Woche werde ich versuchen, die verschiedenen Meinungen der normalen Bürger wiederzugeben.

Im Original ist die Kolumne am 24.06.2017 unter dem Titel “Başur’da toplum referanduma ne diyor?” in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika erschienen.