Selahattin Erdem zu den Auswirkungen der letzten Raqqa-Offensive, für den Kurdistan Report Juli/August 2017
Die Demokratischen Kräfte Syriens (arab.: QSD) haben unter dem Namen »Die große Schlacht« eine neue Offensive auf Raqqa begonnen. Als Ziel wurde die Befreiung des Stadtzentrums vom Islamischen Staat (IS) formuliert. Diese Offensive wird zur letzten großen Raqqa-Operation erklärt. So sollen die IS-Banden aus ihrer selbst ernannten »Hauptstadt« vertrieben werden. Wenn diese Offensive erfolgreich endet, naht auch das Ende des IS-Faschismus. Zumindest wird er nicht mehr über die gegenwärtige Stärke verfügen und vielleicht auch nicht mehr unter seinem Namen aktiv sein können.
Den Erklärungen des QSD-Hauptquartiers zufolge hat die Offensive erfolgreich begonnen. Am ersten Tag sei eine Vielzahl umliegender Dörfer befreit worden, zehn IS-Kämpfer hätten sich ergeben und dem IS sei ein wirksamer Schlag versetzt worden. Nach den ersten zehn Tagen wurde der Presse verkündet, dass vier Stadtteile Raqqas befreit und 312 IS-Kämpfer getötet worden seien. Das QSD-Hauptquartier, das die Raqqa-Operation leitet, erklärte, die Offensive komme wie geplant voran und die Einheiten rückten erfolgreich ins Stadtinnere vor. Es wird klar, dass sich die Legende vom IS dem Ende nähert.
Ohne Zweifel wird es etliche politische und militärische Folgen haben, wenn Raqqa mit dieser Offensive der QSD erfolgreich befreit und dem IS somit an seinem Hauptsitz eine Niederlage beigebracht wird. So wie das politische und militärische Kräftegleichgewicht in Syrien eine gravierende Veränderung erleben wird, so wird sich das auch in Irak und im ganzen Mittleren Osten widerspiegeln. Das ist so bedeutend und klar, dass schon jetzt wichtige Diskussionen und Bemühungen um neue Beziehungen aufgenommen wurden.
Zunächst muss von neuen militärischen Ereignissen an der Grenze Syrien-Irak-Jordanien gesprochen werden. Der iranische Staat muss wohl besorgt gewesen sein, dass die QSD diese Grenzregion vollständig unter Kontrolle bekommen, sodass er dort sofort seine als »Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen« organisierten Kräfte mobilisiert und große Gebiete aus den Händen des IS erobert hat [auf irakischer Seite].
Zur selben Zeit hat es Bewegungen der Assad-Kräfte in Richtung desselben westlichen Abschnitts gegeben [auf syrischer Seite]. Zweifellos gelten die Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen als eine Einheit der irakischen Armee. Und die Kräfte Assads als die eines eigenständigen Staates. Doch es ist eine Realität, dass all diese Kräfte vom iranischen Staat gelenkt werden. Deshalb ist es unbestreitbar, dass die Mobilisierung der Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen und Assad-Kräfte von Seiten des Iran geplant und umgesetzt wird.
Es zeigt sich, dass der iranische Staat wegen des Vormarschs der QSD in Richtung syrisch-irakischer Grenze besorgt ist und dies zu unterbinden versucht, da es seinen Interessen zuwiderläuft. Denn bekanntlich sind nach der Befreiung Raqqas Dair az-Zaur und Umgebung an der Reihe und somit wird die syrisch-irakische Grenze vollständig von den QSD kontrolliert werden. Und das wird den Plan des »schiitischen Gürtels«, den Iran für die Region vorsieht, durchkreuzen. Dann wird es keine Landverbindung zwischen Teheran und Beirut geben. Wohingegen der iranische Staat diesen Plan als wesentlich für seine regionale Hegemonie betrachtet und für dessen Umsetzung große Anstrengungen unternimmt.
Es ist bekannt, wie sehr sich der AKP-Faschismus dafür einsetzt, die Raqqa-Operation der QSD zu durchkreuzen und ihren Erfolg zu verhindern. Schon oft wurde erklärt, dass die Anschuldigung des neuen US-Präsidenten, Iran unterstütze den Terror, im Wesentlichen vom Kampf in Ostsyrien herrührt. Es wird sogar behauptet, die USA bildeten in der jordanischen Hauptstadt Amman militärische Einheiten aus, um sie entsprechend zu platzieren. Dass Iran nun noch offensichtlicher in die Streitigkeiten geworfen wurde, zeigt, wie umfassend und ernst der Kampf in Ostsyrien ist. Nach den nordsyrischen Auseinandersetzungen auf der Westseite des Firat (Euphrat) intensivieren sich nun die Auseinandersetzungen in Ostsyrien.
Der Punkt, der hier verstanden werden muss, ist, inwieweit die »Katar-Krise«, die die Region ernsthaft erschüttert, und die militanten Angriffe in der iranischen Hauptstadt mit den oben erläuterten Auseinandersetzungen zusammenhängen. Denn diese Ereignisse datieren nach der letzten Raqqa-Offensive der QSD und den militärischen Bewegungen der Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen in Richtung Şengal (Sindschar) und Grenze. Beispielsweise gab es in Teheran einen bewaffneten Angriff sowohl auf die Grabstätte Chomeinis als auch auf das iranische Parlament. Zweifellos keine leichtzunehmenden Ereignisse. Auch wenn der IS für die Angriffe verantwortlich zeichnet, wäre es nicht die ganze Wahrheit, sie nur als seine Initiative zu sehen. Denn diese Attacken haben Iran nach den Wahlen ernsthaft erschüttert. Es war ganz offensichtlich eine sehr deutliche Botschaft an die iranische Regierung. War das eine Warnung wegen des Vorstoßes der Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen an der irakisch-syrischen Grenze: Wenn du so agierst, wirst du den Krieg in deinem eigenen Haus erleben?
Ganz offensichtlich sind die Angriffe auf Teheran sowohl ernsthafter als auch komplizierter Natur. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass dahinter die US-Politik steckt und sie von saudischer Seite umgesetzt wurden. Sollte dies der Fall sein, dann kann man davon sprechen, dass die Phase der Ausbreitung des Dritten Weltkriegs im Mittleren Osten auf iranisches Territorium de facto begonnen hat. Diese Angriffe werden nicht die letzten gewesen sein. Weitere werden folgen, sie werden sich ausbreiten. Doch wie in der Türkei wird der iranische Staat diese Situation dazu ausnutzen, die eigene Opposition kaltzustellen. Wie Tayyip Erdoğan nach dem versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 am 20. Juli den Ausnahmezustand verhängte, um seine Macht zu stabilisieren, wird die Regierung Ali Chameneis dasselbe tun wollen. Vielleicht wird er wie Tayyip Erdoğan solche Ereignisse als »Geschenk Gottes« ansehen.
Natürlich ist die Katar-Krise noch viel komplizierter und eine schwierige Situation. So ist sie, von den USA angestoßen, fast zu einer globalen Angelegenheit geworden, in die ein Großteil der arabischen Welt involviert ist. Eine Vielzahl arabischer Staaten hat begonnen, Sanktionen gegen Katar zu verhängen, und infolgedessen ist Katar mit einem Embargo konfrontiert. Der US-Präsident hat mit den Worten »Ich habe gesagt, es gibt Terrorunterstützer, und die Regionalstaaten haben auf Katar gezeigt« dargestellt, wie diese Krise entstand. Unabhängig vom Inhalt muss zunächst gefragt werden, warum er eine solche Krise nicht vor oder nach der heißesten Phase im Kampf um Nordsyrien losgetreten hat. Es ist klar, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Katar-Krise und dem Kampf in Nordsyrien.
Der Inhalt hingegen ist folgender: Die gegenwärtige Regierung Katars wird der »materiellen Unterstützung des Terrors« beschuldigt. Wie es aussieht, verleugnet sie materielle Unterstützung für als »Terrororganisationen« bezeichnete Kräfte nicht. Das wäre ihr auch nicht möglich. Denn es ist bekannt, dass die Kräfte, die den IS bislang unterstützten, das Bündnis zwischen Saudi-Arabien, Katar und der Türkei waren. So zeigte Tayyip Erdoğans Regierung angesichts der Beschuldigungen gegen Katar die erste und heftigste Reaktion. Denn er hat verstanden, dass die Vorwürfe auch gegen ihn gerichtet waren, weil es einen klaren Fall von Mittäterschaft gibt. Außerdem hat, als die USA eine materielle Untersuchung über die Katar-Regierung begannen, auch die EU Ähnliches im Hinblick auf die AKP-Regierung in die Wege geleitet, eine Recherche, was diese mit den zweieinhalb Milliarden Euro der EU gemacht hat.
Noch interessanter ist die Enthüllung, dass es von der Katar-Regierung wie für den IS auch ähnliche materielle Unterstützung für die Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen gab. Die Beziehung von Katar zum IS war bekannt, aber eine solche zu den Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen nicht. Zumindest hat es dazu nicht viel in der Presse gegeben. Was für geheime schmutzige Beziehungen gibt es? Werden noch ähnliche solche Verbindungen ans Licht kommen? Das werden die Entwicklungen zeigen. Doch es wird jetzt schon klar, dass die von den QSD begonnene und erfolgreich verlaufende große Schlacht um Raqqa viele in Schwierigkeiten bringen wird.