Auf den Straßen von Qamişlo

QamisloFehim Taştekin in Südkurdistan und Rojava (Teil 3), 02.10.2014

Um über den Semalka Grenzübergang von Südkurdistan nach Rojava zu gelangen, muss man mit einer Fähre den Tigris überqueren.

Um von Südkurdistan in den Norden Syriens, also nach Rojava zugelangen ist gar nicht so einfach. Entweder braucht man die Erlaubnis des Außenministeriums der Autonomen Region Kurdistans oder man versucht illegal über die Grenze zu kommen. Und egal für welche Variante man sich entscheidet, man muss zuvor mit den Volksverteidigungseinheiten (YPG) kommuniziert haben. Eine offizielle Erlaubnis zu bekommen, schien praktisch aussichtslos. Mir gelang es noch nicht einmal innerhalb von drei Tage in Kontakt mit der dafür zuständigen Person des Außenministeriums zu treten. Der dritte Weg ist, über eine wichtige Referenzperson an jemanden zu gelangen, der einem die Grenze aufmacht. Da ich die Gruppe, die über den illegalen Weg nach Rojava wollte, verpasst hatte, musste ich eine Nacht am Çiya Spi, dem Weißen Berg, verbringen. Doch nach der Nacht hatte ich Glück, denn der genannte dritte Weg über eine Referenz eröffnete sich mir. Am Grenzübergang angekommen, wurde mir Tee und Kaffee angeboten, ein Grenzbeamter nahm sich meines Passes an, trug etwas ein und öffnete mir den Grenzübergang. Falls ich was benötigen würde, sollte ich mich einfach bei ihm melden. Dann stieg ich auf die Fähre und kam mit rund zehn weiteren Leuten nach wenigen Minuten in Rojava an. Gegenüber werden wir von einem Mann und einer Frau, den Asayiş (Sicherheitskräften) für Rojava, in Empfang genommen. Sie hatten von meiner Ankunft schon Bescheid bekommen.

Wir laufen einige hundert Meter hoch, wo wir in ein kleines Büro gelotst werden. Dort erhalte ich ein offizielles Visum für Rojava. Als ich rauskomme, kann ich sehen, wie mehrere LKWs die offizielle Grenze passieren, über die ich nicht gelassen wurde. Ich frage einen Mitarbeiter des Büros, seit wann denn der offizielle Grenzübergang wieder offen ist. Seine Antwort darauf: „Barzani hielt zunächst die Grenze nach Rojava geschlossen. So beteiligte er sich am Embargo gegen die Region. Doch kurz bevor der Islamische Staat (IS) Şengal (Sindschar) eingenommen hatte, machte er die Brücke, die über die Grenze führt, wieder auf. Es ist die Ironie des Schicksals, dass dann über diese Brücke Peshmerga-Kämpfer nach Rojava geflohen sind, als der IS Şengal einnahm. Dann floh die Bevölkerung von Şengal nach Rojava. Es flüchteten zwischenzeitlich 5000 bis 10.000 Menschen hierher. Diejenigen, die nicht zurückgekehrt sind, leben derzeit im Newroz Flüchtlingscamp bei Derîk.“ Derzeit werden vor allem landwirtschaftliche Erzeugnisse von Rojava nach Südkurdistan exportiert, erklärt mir mein Gesprächspartner.

Wir machen uns auf den Weg. Wir fahren an zahlreichen Kontrollpunkten der YPG vorbei. Sie kontrollieren jedes Mal unsere Ausweise, wollen aber auch meinen Presseausweis sehen. Unterwegs fallen mir dutzende Ölfelder auf. Die meisten dieser Felder liegen brach.

„Nur für den Fall der Fälle …“

Wir erreichen Qamişlo. Dort treffen wir jemanden, der mich zum „Freien Pressezentrum“ der Stadt bringen soll. Wir benötigen in dem Zentrum eine Akkreditierung, ohne die es sich hier nicht problemlos als Journalist arbeiten lässt. Als wir eine Straße passieren, begegnen wir einer Gruppe von Soldaten des Assad-Regimes (Qamişlo ist einer der letzten Orte in Rojava, in denen noch Soldaten des syrischen Regimes stationiert sind, Anm. d.Ü.). Unser Wagen stoppt, bevor wir uns ihnen nähern. Mein Begleiter steigt kurz aus und kehrt mit einer Kalaschnikow zurück. „Nur für den Fall der Fälle“, sagt er zu mir.

Einige Gebäude der öffentlichen Verwaltung in Qamişlo befinden sich unter der Kontrolle des Regimes. Diese Gebäude befinden sich alle in derselben Straße. Solange sich niemand in die Angelegenheiten des anderen einmischt, gibt es keine Probleme. Neben diesen Gebäuden kontrollieren die Soldaten des Regimes noch zwei weitere wichtige Orte der Stadt: den Flughafen und den Grenzübergang zur Türkei. Eine ähnliche Situation herrscht in Haseke vor. Dort steht die Hälfte der Stadt unter der Kontrolle der YPG und die andere Hälfte unter der vom Regime. Die Grenzübergänge zur Türkei sind geschlossen, diejenigen zum Irak sind im kritischen Zustand und die restliche Umgebung von Rojava steht unter der Kontrolle des Islamischen Staates. Wenn man das bedenkt, wird einem klar, welche wichtige Bedeutung dem Flughafen von Qamişlo zukommt. Und natürlich den Schmugglern an der Grenze …

Selbstorganisierung von den Stadtvierteln aus

Auf dem Weg zum Freien Pressezentrum sind mir zwei Orte aufgefallen, an denen wir vorbeifuhren. Das eine ist ein Friedhof für die verstorbenen YPG-Kämpfer, die in den letzten zwei Jahren bei den Auseinandersetzungen mit den Regimekräften oder dem IS ums Leben kamen. Ein großer Friedhof, der ummauert ist. Zurzeit gibt es nur auf einem kleinen Teil des Friedhofs Grabstätten, doch der Krieg hält auch noch weiter an und jeden Tag kommen neue Särge dazu. Dieser Friedhof ist ein Symbol für den Willen der Bevölkerung Rojavas, sich notfalls bis zum bitteren Ende selbst zu verteidigen.

Das zweite, was mir unterwegs auffällt, sind eine Wahlurne und Menschen, die Stimmen auszählen. Ich erfahre, dass die Menschen ihre Kommune, also einen Stadtteilrat gewählt haben. Hierin liegt also das Geheimnis der starken Zivilgesellschaft und Selbstverwaltung in Rojava. Die Menschen organisieren sich ausgehend von ihren Stadtteilen im Sinne ihres Autonomieverständnisses. Und diese Räte beschäftigen sich mit den alltäglichen Fragen des Lebens der Menschen. So wird beispielsweise für jede Straße ein Stromgenerator installiert, anstatt dass jedes Haus sich seinen eigenen Generator besorgt.

Die Frauenrevolution

Und dominiert wird diese Selbstorganisierung von den Frauen. Die Rojava-Revolution ist eine Revolution der Frauen. Das ist auf diesen Straßen spürbar. Um die Geschichte dieser Frauen zu erfahren, höre ich Zeynep Muhammed, der Koordinatorin der Frauenvereinigung Yekitiya Star, zu:

„Yekitiya Star wurde nach dem Aufstand von Qamişlo am 12. März 2012 gegründet. Die ersten Mitglieder unserer Vereinigung wurden vom Regime verhaftet. Sie wurde ausnahmslos gefoltert. Bereits zuvor schlossen sich zahlreiche Frauen aus Rojava den Guerillakräften der PKK an. Und nun haben die Frauen bei der Selbstorganisierung hier eine Führungsrolle inne. Sie sind nicht nur in den gemischten Strukturen aktiv sondern organisieren sich auch autonom. So werden in den Stadtteilen und den Dörfern Frauenräte organisiert, die Frauenkommunen heißen. Aus Vertreterinnen der Frauenkommunen setzt sich der Frauen-Stadtrat zusammen und diese entsende Delegierte an den Frauenrat des Kantons Cizîrê. Zuletzt gibt es noch eine Frauenkoordination, der sich aus den Frauen der drei Frauenräte der Kantone zusammensetzt.

Die Selbstorganisierung der Frauen ist aber nicht nur auf die Räte beschränkt. In allen Bereichen der Demokratischen Autonomie sind Frauen organisiert. Sie bilden sich selbst zu den Kadern dieses Systems aus. So haben wir Frauenakademien gegründet und hunderte Frauen nehmen an den Bildungsveranstaltungen dieser Akademie teil. Außerdem haben wir mit den Frauen der Syrischen Fraueninitiative zusammengearbeitet. So haben wir arabische und assyrische Frauen kennengelernt, die ebenfalls aktiv für die Revolution gekämpft haben oder weiter kämpfen.

Früher konnten wir als Frauen nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. Entweder stand uns unser Vater oder unser großer Bruder im Weg. Nun ist das völlig aufgebrochen. Die Gesellschaft hat akzeptiert, dass die Frauen überall im öffentlichen Leben ihren Platz einnehmen können und das auch tun. Man muss sich das einmal vor Augen führen. Heute kämpfen Frauen in den bewaffneten Fraueneinheiten (YPJ), die zuvor nicht aus ihrem Haus rauskamen, vielleicht gar der Gewalt ihres Ehepartners ausgesetzt waren. In Kobanê kämpfen nun diese Frauen an vorderster Front. Sie verteidigen die Stadtteile und die Dörfer.”

Yekitiya Star ist der Dachverband der autonomen Frauenorganisierung in Rojava. Die Demokratische Gesellschaftsbewegung (TEV-DEM) hingegen repräsentiert die gesamtgesellschaftliche Selbstorganisierung. In TEV-DEM sind neben den Räten, den Frauen- und Jugendorganisation auch sechs kurdische Parteien, die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) eingeschlossen, organisiert.

Ich sprach mit Aldar Xelil, einem der Sprecher von TEV-DEM, über diese Selbstorganisierung. Xelil kenne ich aus einen meiner früheren Reisen nach Südkurdistan. Damals versuchte er dort die KDP nahen kurdischen Parteien aus Rojava für ihr Mitwirken im TEV-DEM zu überzeugen. Nun erzählte er mir im Freien Medienzentrum von der Arbeit der Demokratischen Gesellschaftsbewegung: „TEV-DEM kümmert sich um die Bildung, die Gesundheit, die Verteidigung und eigentlich alle anderen Arbeiten in der Zivilgesellschaft und der Politik. Richtiger ausgedrückt ist TEV-DEM eigentlich der Dachverband der Organisationen und Strukturen, die in den genannten Bereichen arbeiten. Ende 2011 hatten wir überall in Rojava Wahlurnen aufgestellt, um zunächst einmal einen 300-köpfigen Rat zu wählen. An den Wahlen nahmen rund 300.000 Menschen teil. Diesen Rat, der dann seine eigenen Exekutivorgane wählte, nannten wir TEV-DEM. Als dann die Selbstorganisierung in Richtung Demokratischer Autonomie voranschritt, haben die Organisationen, die im TEV-DEM organisiert sind, im Jahr 2012 aus ihren eigenen Reihen die Räte der drei Kantone gewählt. So entstand in jedem der Kantone ein 101-köpfiger Rat. Nachdem diese Räte der Kantone gebildet wurden, übertrug TEV-DEM Schritt für Schritt seine Kompetenzen diesen Räten. Die Kraft beziehen diese Räte aus der Bevölkerung der Kantone. Hunderttausende Menschen zahlen je nach ihren Möglichkeiten einen Beitrag, der das Gesamtbudget der Kantone ausmacht. Da derzeit die Ausgaben für die Selbstverteidigung aufgrund der Angriffe des IS enorm sind, macht uns das die Arbeit natürlich nicht einfach. Die Waffen werden beispielsweise vom Schwarzmarkt gekauft, weswegen wir den doppelten oder dreifachen Preis dafür zahlen. Wenn es die Ausgaben für die Waffen nicht gäbe, könnten wir die Mittel natürlich anders verwenden und den Wohlstand der Gesellschaft stärken.“

Radikal, 02.10.2014, ISKU

 

Zum Weiterlesen:

1. Teil der Reportage von Fehim Taştekin: Erste Station Maxmur

2. Teil der Reportage von Fehim Taştekin: Zu Besuch bei Cemil Bayik in Kandil