Aufhebung der HDP-Immunität bedeutet Putsch gegen Volkswillen und Konsolidierung der Ein-Mann Regierung

Eyup DoruEyyüp Doru, Europavertreter der HDP, 23.05.2016

Am 20. Mai 2016 hat die Große Nationalversammlung der Türkei, unter extremem Druck von Präsident Erdoğan, die parlamentarische Immunität von 138 Abgeordneten mittels einer einstweiligen Verfassungsänderung aufgehoben.  Ermöglicht wurde dies durch die gemeinsamen Anstrengungen einer anti-kurdischen türkischen Allianz, die sich zusammensetzt aus der regierenden AKP, der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) und der „sozialdemokratisch“ genannten „Republikanischen Volkspartei“ (CHP). Dieser Vorstoß nimmt im Besonderen die „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) ins Visier und ebnet den Weg für die Strafverfolgung von 53 ihrer 59 Parlamentsabgeordneten auf Basis von haltlosen Anschuldigungen.

Die HDP repräsentiert die kurdische politische Opposition und andere marginalisierte ethnisch-religiöse Gemeinschaften, Frauen, Gewerkschaften sowie Gruppen von Ökologie- und Umweltaktivisten, die sich zusammengeschlossen haben rund um die geteilten Werte einer pluralistischen Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit. Trotz der anti-demokratischen 10%-Hürde, Ermordung unserer Mitglieder, Massenverhaftungen und Inhaftierung von tausenden Führungskräften, Mitgliedern und  Wählern unserer Partei, hunderten Angriffen auf unsere Büros, konstanter Kriminalisierung und dem Missbrauch als Sündenbock, konnte das Erdoğan-Regime uns nicht daran hindern mit den Wahlen vom 7. Juni und 1. November 2015 ins Parlament einzuziehen.

Die Aufhebung der Parlamentarischen Immunität ist als politischer Putsch aufzufassen, der dazu dient, Kurden und andere von der HDP repräsentierte, marginalisierte Völker aus dem Parlament auszuschließen. Dieser Putsch bedeutet außerdem einen entschiedenen Schritt dahin, die ohnehin schon geschwächte parlamentarische Demokratie der Türkei durch ein „Präsidentialsystem türkischer Prägung“ zu ersetzen, in dem legislative, exekutive und judikative Gewalten vom Präsidenten mit der Schaffung eines Machtmonopols an sich gerissen werden.

Bereits 1994 wurde die parlamentarische Immunität der Parlamentsabgeordneten der „Demokratiepartei“ (DEP) aufgehoben und diese unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ inhaftiert. Anstatt den Kurdenkonflikt zu lösen, wurde dieser durch den Ausschluss der Kurden aus dem Parlament nur weiter verschärft und kostete das Land in den darauffolgenden Jahren zehntausende Menschenleben. Zweiundzwanzig Jahre später wiederholt das Erdoğan-Regime diesen schwerwiegenden Fehler. In einem politischen Klima, in dem jeder, der Präsident Erdoğan kritisch gegenüber steht als „Verräter“, „Terrorist“ oder „Unterstützer von Terrorismus“ gebrandmarkt wird, wird der Ausschluss der Kurden von parlamentarischer Repräsentation Autoritarismus, politische Unruhen, Gewalt und Polarisierung nur weiter steigern.

Die HDP wird ihren demokratischen Kampf gegen die autoritäre Politik des Erdoğan-Regimes fortsetzen. In Anbetracht der Manipulation von Recht und Gesetz als Strafverfolgungsmaßnahme gegen gewählte kurdische BürgermeisterInnen, JournalistInnen, AkademikerInnen die sich für den Frieden einsetzen oder die Bürger, die der „Präsidentenbeleidigung“ beschuldig werden, erwarten wir von den Gerichten keine Fairness gegenüber den Abgeordneten der HDP. Letztendlich hat die Entscheidung der Großen Nationalversammlung nichts mit den gesetzlichen Vorgaben der Türkei  zu tun; sie ist eine politische Entscheidung, die die Verfassung und geltendes Recht verletzt.

Die Aufhebung der Immunität und der mögliche Ausschluss der HDP-Abgeordneten aus dem Parlament ist im Wesentlichen eine politische Entscheidung zwischen Demokratie und Autoritarismus, zwischen Frieden und Krieg; die der Bevölkerung der Türkei vom Erdoğan-Regime  gewaltsam aufgezwungen wurde. Unter diesen kritischen Umständen rufen wir alle Personen und Institutionen, die sich universelle demokratische Werte zu eigen gemacht haben, dazu auf, die politischen und rechtlichen Abläufe in der Türkei genau zu beobachten und sich solidarisch mit unserem Kampf gegen diese totalitären Angriffe auf die HDP und die politische Zukunft des Landes zu zeigen.