„Aufruf für ein neues Leben“

selahattin_demirtas_hdpSelahattin Demirtas und seine Erfolgsaussichten bei der Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag in der Türkei
Gökay Akbulut, Mitarbeiterin von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 04.08.2014

„Als Bediensteter des Volkes werde ich mit euch gemeinsam nach dem 10. August das Amt des neuen Staatspräsidenten bekleiden. Ich habe die Vision von einem Staatspräsidenten, der nicht das Volk regiert, sondern Seite an Seite mit dem Volk gemeinsam Entscheidungen fällt. Mit meiner Kandidatur verbinde ich den Aufruf für ein neues Leben. Einem Leben, in dem Freiheit und Gleichheit herrscht. Einem Leben, in dem Menschen aller Ethnien und religiösen Überzeugungen ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung und ihrer politischen Meinung gemeinsam in Frieden leben können.“

Am kommenden Sonntag wird in der Türkei zum ersten Mal der Staatspräsident direkt vom Volk gewählt. Dabei scheint durch die Kandidatur des 41-jährigen Politikers Selahattin Demirtas nicht nur ein über 90 Jahre währendes Tabu gebrochen. Zum ersten Male überhaupt bewirbt sich ein Kurde für das höchste politische Amt der Türkei. Gleichzeitig handelt es sich bei Demirtas um den ersten Präsidentschaftskandidaten, der sich offen für die Rechte von homosexuellen Menschen und christlichen Minoritäten einsetzt. Eine seiner ersten Amtshandlungen würde es sein, sich im Namen der Türkischen Republik für den im Jahre 1915 an den ArmenierInnen und ChristInnen verübten Genozid zu entschuldigen.
Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung hat für Demirtas oberste Priorität: Einer Verfassung aller Völker statt einer Verfassung der Regierung. Alle Formen politischer Vorherrschaft sollen abgeschafft und durch pluralistische Regierungsformen ersetzt, Minderheitenrechte garantiert werden. Die neue Verfassung soll die Regionalparlamente und Kommunalverwaltungen stärken und die Machtbefugnisse der Zentralregierung und des Staatspräsidenten einschränken. [1]

Seine Popularität verdankt Demirtas neben seiner Schlagfertigkeit und seinem Witz auch seiner Bescheidenheit. So entschuldigte sich Demirtas in mehreren Interviews und Reden im Namen seiner Partei HDP (zu deutsch: Demokratische Partei der Völker), deren Co-Vorsitzender er ist, dass bedauerlicherweise keine Frau als Kandidatin für das Präsidentenamt aufgestellt wurde. Aber er versicherte, dass dies bei den nächsten Präsidentschaftswahlen geschehen werde.

Das andere Gesicht der Türkei

Anders als seine Mitbewerber Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von der AKP und Ekmeleddin Ihsanoglu, dem gemeinsamen Kandidaten der CHP und der rechtsnationalistischen MHP, die beide eine ähnliche nationalistische Agenda verfolgen, spricht Demirtas über Basisdemokratie, Kinderrechte, Frauenquote, Arbeitsbedingungen, Ökologie, die Abschaffung der Wehrpflicht und der Religionsbehörde Diyanet, über die Notwendigkeit eines transparenten Friedensprozesses und konkrete Schritte, um sein Stocken zu beenden. Die türkischen Medien verfolgen den Wahlkampf von Demirtas genauestens und selbst diejenigen, die der HDP nicht gerade nahestehen, loben ihren Kandidaten: „Überzeugend und authentisch“, „Demirtaş ist eine wahre und ehrliche Führungspersönlichkeit“, „ein Politiker, der den Schmerz anderer fühlt, zuhört und den Konsens sucht“, „ein großer Gewinn für die politische Landschaft der Türkei“ usw. Eine Kolumnistin schrieb, man könne den Eindruck gewinnen, die Türkei habe einen Politiker aus Skandinavien importiert. Ein anderer stellt fest, dass die Haltung Demirtas` die politische Reife der kurdischen Bewegung widerspiegle. Auch das Modell der „Demokratischen Autonomie“ scheint jetzt mit anderen Augen betrachtet zu werden. So unterschiedlich die Kommentare sein mögen – dass ein frischer Wind durch die Türkei weht, kann von niemandem geleugnet werden.

Unterstützung in breiten Teilen der Gesellschaft

Neben zahlreichen Intellektuellen und bedeutenden Personen des öffentlichen Lebens genießt Demirtas auch die Unterstützung zahlreicher armenischer, assyrischer/aramäischer, jüdischer und alevitischer Organisationen, sowohl in der Türkei als auch in Europa. Nahezu sämtliche linksorientierten Vereinigungen, Parteien und Gewerkschaften sprechen sich für eine Unterstützung Demirtas` aus. Die größte LGBT-Vereinigung der Türkei ist mit ihren Mitgliedern aktiv am Wahlkampf beteiligt. Durch den von Selahattin Demirtas geführten Wahlkampf scheint nach den Gezi-Protesten erneut eine Plattform entstanden zu sein, in der sich verschiedenste Gruppierungen und politische Strömung vereinen. Selbst viele Liberale und Kemalisten kündigten an, dass sie am kommenden Sonntag Demirtas wählen würden und auch in islamischen Kreisen und bei ehemaligen AKP-Mitgliedern kann er mit einem gewissen Rückhalt rechnen. Trotz des Bestehens auf dem Selbstbestimmungsrechts der Völker konnten die Kandidatur von Demirtas und seine differenzierten Demokratisierungsvorschläge für die Türkei bei vielen die lange geschürten und tief verwurzelten Ängste vor Sezessionsbestrebungen der kurdischen Bevölkerung abbauen.

Selahattin Demirtas: “Jedes Volksgruppe hat das Recht auf Selbstbestimmung. […] Wenn sie (die Kurden) nicht verleugnet werden, in ihrer Muttersprache unterrichtet werden können, sich an der Verwaltung beteiligen können, mit ihrer Kultur in ihren Siedlungsgebieten frei Leben können, brauchen sie für die Selbstbestimmung keine neue Grenzen zu ziehen. […] Wir wollen nun unser Selbstbestimmungsrecht mit allen unterdrückten Völkern gemeinsam verwirklichen. Für uns ist das eine grundlegende Haltung. […] Wir stehen für ein gemeinsames Leben. Das ist unsere Vorstellung der Selbstbestimmung und meine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl ist der Ausdruck dieses Willens. Aber wenn diese Vorstellung des gemeinsamen Lebens mit den Kurden nicht akzeptiert wird, ihnen kein gleichberechtigtes, gerechtes und freies Leben zugestanden wird, dann werden die Kurdinnen und Kurden sich zusammensetzen müssen, um von Neuen zu bestimmen, wie sie ihr Selbstbestimmungsrecht verwirklichen wollen.”[2]

Wahlprognosen

Da es in der Türkei keine wirklich unabhängigen Umfrageinstitute gibt, ist es schwierig, genaue Wahlprognosen zu machen. Während einige davon ausgehen, dass Erdogan schon im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen wird, rechnen die meisten damit, dass am 24.August 2014 eine Stichwahl über den Ausgang des Votums entscheiden wird. Fakt ist, dass viele Stammwähler der MHP und CHP öffentlich ihre Unzufriedenheit über den gemeinsamen Kandidaten Ihsanoglu zum Ausdruck bringen. Und so stellt sich die Frage, wie viele dieser Wähler für einen anderen Kandidaten stimmen oder den Urnengang verweigern werden. Spekulationen, dass Demirtas nur kandidieren würde, um Erdogan im zweiten Wahlgang durch entsprechende Empfehlungen an seine Wählerschaft unter Druck setzen zu können (Zugeständnisse im Friedensprozess im Austausch für eine Unterstützung Erdogans), wurden von Demirtas in aller Deutlichkeit zurückgewiesen. Während Skeptiker davon ausgehen, dass Demirtas höchstens sieben Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann, trauen ihm viele sogar zu, dass er ein Überraschungsergebnis von über 15 Prozent erzielen könnte. Solche Spekulationen spielen für die HDP und ihren Kandidaten Demirtas jedoch keine Rolle, da es ihnen nicht vorrangig um das Amt des Staatspräsidenten geht.

Demirtas ist bereits jetzt der Wahlsieger

Unabhängig vom Wahlausgang kann die Kandidatur von Selahattin Demirtas bereits jetzt einen großen Erfolg verzeichnen, der von niemandem mehr bestritten werden kann: In einem politischen Klima, das von den autoritären Bestrebungen und der polarisierenden Sprache der AKP-Regierung sowie der zunehmenden kriegerischen Gewalt im Mittleren Osten geprägt ist, hat Demirtas überzeugend dargelegt, wie eine demokratische Türkei aussehen und welchen Beitrag sie auch für den Frieden in der Region leisten kann. Trotz massiver Wahlkampfbehinderungen ist es der HDP mit Demirtas gelungen, viele Menschen für ihre Visionen von einem „neuen Leben“ zu begeistern. Wenn es ihnen gelänge, so Demirtas, ein neues Politikverständnis zu entwickeln und die Polarisierung der Gesellschaft zu bekämpfen, könnten sie eine neue freiheitliche Oppositionskraft etablieren, die es so in der Türkei noch nicht gegeben hätte und die bei den nächsten Parlamentswahlen 2015 als größte Oppositionskraft hervorgehen könnte: „Wir wollen bei dieser Wahl allen Unterdrückten, Frauen, Kurden, Aleviten, Arbeitern, eine gemeinsame Stimme geben. Das war für uns das wichtigste. Das zumindest haben wir geschafft. So gesehen haben wir schon gewonnen.“ [3]

 

[1] http://www.berliner-zeitung.de/politik/interview–die-tuerkei-braucht-eine-neue-verfassung-%2c10808018%2c27916586.html
[2] http://www.radikal.com.tr/politika/demirtastan_kurdistan_sorusuna_birlikte_yasama_cevabi-1204456
[3] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-07/interview-tuerkei-demirtas

 

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