Von Errol Babacan*, 26.07.2014
Präsidialsystem versus De-Zentralisierung der politischen Verwaltung, Islamisierung versus säkulare Gleichstellungspolitik. So könnten die Gegenpole, für die die Kandidaten der anstehenden Wahlen stehen, umschrieben werden.
Am 10. August findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Drei Kandidaten treten zur Wahl an. Wenn keiner der Kandidaten die absolute Stimmenmehrheit erringt, kommt es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmanteilen. Der Vorsitzende der AKP und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die besten Aussichten, erneut als Gewinner aus einer Wahl hervorzugehen. Ihm steht Ekmeleddin Ihsanoglu gegenüber, der gemeinsame Kandidat der Oppositionsparteien MHP/CHP und der von der AKP abgespaltenen Gülen-Bewegung[1]. Der ehemalige Generalsekretär der internationalen Organisation für Islamische Zusammenarbeit, damals von der AKP-Regierung für dieses Amt vorgeschlagen, war bis zu seiner Kandidatur in der Türkei weitgehend unbekannt. Der dritte Kandidat heißt Selahattin Demirtas, ehemaliger Vorsitzender der inzwischen aufgelösten kurdischen Partei BDP und neuer Vorsitzender der kurdisch-links-liberalen HDP.
Die „neue“ Türkei – ein gemeinsames Werk
Erdogan verspricht den Übergang in ein Präsidialsystem. Dieses Langzeitprojekt konnte angesichts interner Grabenkämpfe in der AKP und fehlender Mehrheiten im Parlament für die notwendige Verfassungsänderung bisher nicht umgesetzt werden. Nun soll es angeblich durch Ausschöpfung der vorhandenen Machtbefugnisse des Präsidentenamts faktisch vollzogen werden. Unter Beibehaltung des jetzigen Systems kann der Präsident hohe Beamte wie Verfassungsrichter, Universitätsrektoren und Personal für diverse Kontroll- und Beratungsgremien ernennen. Er sitzt dem Nationalen Sicherheitsrat vor und kann den Ministerrat zu Sitzungen unter seiner Leitung einberufen. Außerdem kann er Gesetze blockieren, eine fast vergessene Maßnahme, da sie der amtierende Präsident Abdullah Gül nicht einsetzte. Trotz dieser potentiellen Machtfülle ist der Übergang in ein Präsidialsystem ohne konstitutionelle Veränderungen ein heikles Projekt. Es setzt voraus, dass der Nachfolger Erdogans im Amt des Ministerpräsidenten seine Befugnisse nicht ausschöpft. Der Ministerpräsident steht der Regierung vor, ihm unterstehen der Geheimdienst, die aufgewertete Religionsbehörde und die mächtige Behörde TOKI, über die der boomende Bausektor gelenkt und Milliarden-Aufträge vergeben werden. Auch unter Ausreizung aller Befugnisse würde der Präsident Erdogan die direkte Kontrolle über solche Machtmittel verlieren. Denkbar ist dennoch, dass Erdogan einen Teil seiner jetzigen Macht an einen Nachfolger abgibt und eine neue Balance innerhalb der AKP gefunden wird, während zugleich das Präsidentenamt unter Ausreizung der Verfassung aufgewertet wird. Außerdem wäre Erdogan für fünf Jahre gewählt und könnte die Parlamentswahlen im nächsten Jahr abwarten, bei denen seine Partei einen neuen Anlauf für das Projekt Präsidialsystem nehmen könnte.
Obwohl die gesamte Entwicklung auf die Person Erdogan zugeschnitten zu sein scheint, ist es nicht allein dessen persönliches Schicksal, das zur Wahl steht. Erdogan steht im Vordergrund, weil seine Popularität der Partei Mehrheiten sichert und somit die Fortführung einer Einparteienregierung ermöglicht. Im Hintergrund stehen die Unternehmernetzwerke, die den Aufstieg des politischen Islam begleiten und die Partei tragen. Bei seiner Rede vor dem Unternehmerverband MÜSIAD anlässlich des Fastenbrechens am ersten Tag des Ramadan hob Erdogan diesen politisch-ökonomischen Zusammenhang kürzlich selbst hervor: „Die neue Türkei wird nicht allein ein Werk der AKP, sondern ein Werk von Stiftungen und Organisationen wie MÜSIAD sein“. Die AKP garantiert eine investorenfreundliche Politik und vor allen Dingen den Erhalt des gesellschaftlichen Konsens in der Arbeiterschaft. Extreme Arbeitsbedingungen, Vertreibung aus Wohnvierteln und massive Umweltzerstörung durch riesige Infrastrukturprojekte und uferlosem Wohnungsbau treten für viele hinter das Versprechen eines sozialen Aufstiegs zurück. So ist der materielle Fortschritt der vergangenen Dekade nicht von der Hand zu weisen. In der breiten Wahrnehmung ist dieser Fortschritt und damit die Aussicht auf einen Aufstieg an die AKP gekoppelt. Selbst die Offenlegung individueller Bereicherung durch Korruption oder solche Desaster wie das Grubenunglück in Soma mit über 300 Toten, die die Kehrseite des Fortschritts aufzeigen, stören diese Wahrnehmung kaum.
„Ein Sack Kohle, eine Packung Nudeln“
Teile der CHP-Anhängerschaft werfen seit langem den Ärmsten der Gesellschaft vor, sie verkauften ihre Stimmen für einen Sack Kohle und eine Packung Nudeln an die AKP. Tatsächlich ist die Anzahl der Einzelpersonen und Haushalte, die Hilfen aus öffentlichen Sozialfonds erhalten, stark gestiegen, nach Schätzungen sind es jährlich 10 Millionen[2]. Da es keinen gesetzlich geregelten Anspruch auf diese Hilfen gibt, empfinden viele Hilfsempfänger Dankbarkeit gegenüber der regierenden Partei, deren indirekte Repräsentanten – Provinzgouverneure oder Landräte (kaymakam) – den Fonds vorstehen. Da die CHP es unterlässt, eine Alternative aufzuzeigen, wie die unter schwierigen Bedingungen lebenden Familien sich ernähren und über den Winter kommen sollen, kann die Beschuldigung des Stimmenverkaufs nur als zynisch bezeichnet werden. Eine zaghafte und bei weitem nicht von der gesamten CHP verinnerlichte Alternative wurde während der Kampagne zu den Kommunalwahlen 2009 vorgebracht. Damals machte die CHP den Vorschlag für eine staatlich finanzierte Familienversicherung und hob die Bedeutung gewerkschaftlicher Organisierung hervor, um prekären Beschäftigungsverhältnissen entgegenzuwirken. Dieses sozial-demokratische Intermezzo ist inzwischen gänzlich rechts-populistischen Hochglanzkampagnen gewichen. Die CHP verspricht nur noch eins: so wie die AKP zu sein, nämlich investorenfreundliche neoliberale Politik zu gestalten.
Einen Anpassungskurs vollzieht die CHP auch auf der kultur-politischen Ebene. Der Kandidat Ihsanoglu verkörpert diese Ausrichtung. Sicherlich würde seine Wahl den Übergang in ein Präsidialsystem mittelfristig verhindern und die AKP-Regierung empfindlich schwächen. Eine Rückkehr zur Konstellation vor Güls Präsidentschaft, als dessen Vorgänger bestimmte Gesetze blockierte und andere Kandidaten für hohe Staatsämter ernannte als der AKP genehm war, ist offenkundig der Beweggrund, gemeinsam mit der nationalistischen MHP und der Gülen-Bewegung anzutreten. Allerdings fällt Ihsanoglu in manchen Belangen sogar hinter die AKP zurück und es drängt sich der Eindruck auf, dass CHP und MHP die türkisch-islamische Synthese zum gemeinsamen Nenner erkoren haben, um sie gegen den islamischen Konservatismus der AKP ins Feld zu führen. Ihsanoglu bedient die türkisch-nationalistischen Erwartungen, wenn er Kurdisch als unreife Sprache bezeichnet, die nicht gleichrangig mit der „Bildungssprache“ Türkisch behandelt werden könne. Danach befragt, was er von der Kritik an der rasenden Stadterneuerung, den aus dem Boden schießenden Einkaufszentren und dem Bau des dritten Flughafens im Norden Istanbuls halte, antwortet er nicht etwa mit sozialen oder ökologischen Bedenken, sondern mit der Sorge um das bauliche Erbe der osmanischen Eroberungszeit Istanbuls im 15. Jahrhundert. Passend dazu definiert sich der Kandidat an erster Stelle über seine Abstammung aus einem gläubigen Elternhaus sowie konservative Werte, während Bürgerrechte ihm offenbar ein Fremdwort sind.
Im Strategiezentrum der CHP scheint jedenfalls die Überzeugung herangereift, dass eine Mehrheit nur über konservativ-religiöse Anrufung zu erreichen ist. Damit wird vor allen Dingen erreicht, dass die Autorität der Religion gestärkt wird. Die Islamisierung der Gesellschaft wird damit nicht mehr als eine politische Herausforderung angenommen sondern als unumstößliche und unveränderliche Tatsache. In dieser religiösen Konjunktur gilt Abtreibung dann als Mord, während Mord als Schicksal bezeichnet wird, wie regelmäßig zur Rechtfertigung von Todesfällen bei Arbeitsunfällen zu vernehmen ist. Während der Konformitätsdruck sich bei religiösen Ritualen wie dem Fasten an Ramadan Bahn bricht – wehe dem, der nicht fastet -, bestimmt das religiöse Bekenntnis immer stärker den Alltag. Schon so kleine Zeichen wie der gewöhnliche Gruß „Merhaba“ (Hallo) anstelle des religiös konnotierten Pendants „Selamün Aleyküm“ (etwa: Friede/Gott sei mit dir) können sich zu einem Nachteil bei der Verfolgung alltäglicher Geschäfte entwickeln, sei es beim Einkaufen auf dem Markt, der Suche nach einer Arbeitsstelle oder dem Gang aufs Amt, um bestimmte Gefälligkeiten zu erwirken oder Hilfen zu erhalten. Es ist diese materielle Anbindung der Religion, die sie so attraktiv und zugleich repressiv macht, indem sie zur Anpassung zwingt. Diese Entwicklung wird nun auch von der CHP durch die Festlegung auf einen Islamisten als Kandidaten befeuert.
Verprellte Säkulare, verprellte Liberale
Die säkulare Basis der CHP fühlt sich verprellt. So lange sie jedoch nicht von ihrem türkischen Nationalismus abrückt und das Festhalten an republikanischen Errungenschaften nicht von einem dogmatischen Bekenntnis zu Atatürk trennen kann, bleibt ihr der Weg zu einer Annäherung an die einzig übrig gebliebene säkulare Bewegung in der Türkei versperrt. Für diese Bewegung steht der Kandidat der HDP, Selahattin Demirtas, der auch für ein alternatives Regierungsmodell wirbt. Die kurdische Bewegung, mit deren Unterstützung er antritt, streitet für eine De-Zentralisierung der politischen Verwaltung, die verschiedene Regionen oder Bundesstaaten vorsieht. Bisweilen wird sogar der Eindruck erweckt, es handele sich um ein basis-demokratisches Projekt. Der Schritt zu einem solchen Vorhaben, das die Entscheidung über gesellschaftliche Ressourcen kollektiviert bzw. der privaten Verfügung entzieht, ist jedoch ein sehr großer. In den von der kurdischen Bewegung regierten Kommunen findet er sich zumindest nicht wieder und ein ausgearbeitetes Übergangsprogramm, das diese Absicht unterstreichen würde, fehlt ebenfalls. Gleichwohl handelt es sich auch nicht um eine Vorstufe zu separatistischen Bestrebungen, wie von nationalistischer Seite angenommen wird. Der real-politische Horizont der Demokratisierung wird viel eher durch eine Installierung parlamentarisch-liberaler Institutionen auf regionaler oder bundesstaatlicher Ebene gebildet. Dieses im Kontrast zur radikal-demokratischen Rhetorik ziemlich eingeschränkt demokratische Projekt würde nichtdestotrotz dem Zentralisierungsprozess unter der AKP entgegenstehen, eine neue Machtbalance zwischen den Regionen oder Bundesstaaten notwendig machen und damit autoritären Tendenzen entgegenwirken können, zumal auch die Abschaffung zentralistischer Institutionen wie des Hochschulrats YÖK gefordert wird.
Trotz der Enttäuschung, keine Frau zur Kandidatur aufgestellt zu haben und zentraler Kritiken aufgrund mangelnder Transparenz bei der Bestimmung des Kandidaten sowie des Fehlens öffentlicher Debatten über politische Inhalte und Strategien unterstützen viele geschlechterpolitische/sozialistische und links-liberale Gruppen die HDP von außen oder organisieren sich direkt innerhalb der Partei. Aus ihrer Sicht vereint sie die fortschrittlichsten sozialen Tendenzen des Landes und umfasst mit der kurdischen Bewegung die einzige organisierte Kraft mit einer Offenheit für sozial-kritische Positionen. Allerdings richtet sich, wie erwähnt, das Programm der HDP nicht auf eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse, wie die sozialistische Rhetorik manchmal nahelegt. Formuliert werden sozial-demokratische Inhalte wie die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und kostenloser Zugang zu Bildung. Im Mittelpunkt stehen die Frage der Anerkennung und Gleichstellung unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse, ethnischer Identitäten sowie eine Geschlechterpolitik, die ebenfalls an Gleichstellung orientiert ist. Forderungen wie die Abschaffung der Religionsbehörde, über die die staatliche Kontrolle und Finanzierung des sunnitischen Islam betrieben wird, gehören zum Programm. Die HDP positioniert sich als liberale Kraft mit sozial-demokratischen Elementen. Nicht zufällig hat auch eine größer werdende Gruppe liberaler Intellektueller, die vormals die AKP unterstützten und von deren repressiv-islamistischen Kurs verprellt wurden, inzwischen ihre Sympathien für Demirtas bekundet.
Eine große Überraschung steht bei dieser Wahl nicht an. Die Anhängerschaft der AKP scheint konsolidiert, während die von der Gülen-Bewegung begleitete Koalition aus MHP und CHP den Schwenk zu einer Islamisierung der Gesellschaft nachvollzieht. Allein die Frage, ob ein Teil der verprellten Säkularen aus der CHP ihre nationalistischen Vorurteile gegenüber dem Kurden Demirtas überwinden und für den einzigen säkularen und liberalen Kandidaten stimmen werden, ist offen.
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[1] Zum Verhältnis AKP-Gülen Bewegung: www.infobrief-tuerkei.blogspot.de/2014/02/vom-juni-aufstand-zur-palastrevolution.html
[2] www.toplumsol.org/kidemle-alip-sadaka-ile-vermek-iktidarin-istihdam-nufus-stratejisi-nazir-kapusuz
* Erol Babacan ist Mitglied der Redaktion von Infobrief Türkei, bei dem es sich um ein dreimal im Jahr erscheinendes Informationsmedium zu den politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Türkei handelt.