Foza Yûsif: Die Autonomieverwaltung ist die einzige Lösung

Was ist vor und nach 2011 in Syrien geschehen und was kennzeichnet die als Syrien-Krise beschriebene Situation? Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) hat in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, einen Dialog mit der Regierung in Damaskus für den Aufbau eines demokratischen Systems für alle Bevölkerungsgruppen aufzunehmen. Einer dieser Schritte war eine aus acht Punkten bestehende Deklaration, die am 18. April veröffentlicht wurde, um Fortschritte auf dem Weg zu einer friedlichen und demokratischen Lösung in Syrien zu erzielen. Die PYD-Politikerin Foza Yûsif hat sich im ANF-Interview zur Syrien-Krise geäußert.

Worum geht es, wenn von der Syrien-Krise oder dem syrischen Problem gesprochen wird?

Das so genannte syrische Problem ist das Fehlen eines demokratischen Systems, von persönlichen und religiösen Rechten sowie von Rechten der Frauen. Das ist das Problem aller Staaten in der Region. Das Fehlen eines solchen Systems ebnete den Weg für viele politische und wirtschaftliche Probleme, was wiederum zu gesellschaftlichen Krisen führte. Die Realität der Nationalstaaten im Nahen Osten sieht so aus, dass die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg Länder auf der Grundlage von Rassismus, Religion und Sexismus gegründet haben. Einer dieser Nationalstaaten war Syrien, das in diesem Krieg auseinandergerissen wurde. Syrien basierte auf dem Nationalstaat. Bevölkerungsgruppen wie die kurdische, armenische und assyrische wurden verleugnet. Das hat im Laufe der Zeit zu großer Unterdrückung sowie zu politischen und religiösen Problemen geführt und in der jüngeren Vergangenheit großen Unruhen in der Gesellschaft und insbesondere unter den Völkern Syriens ausgelöst. Die positiven und negativen Situationen in Syrien und die Unzufriedenheit innerhalb der Gesellschaft mit diesem undemokratischen System führten zum Beginn der Bewegung von 2011. Daher kann man sagen, dass das Hauptproblem Syriens die Frage des Nationalstaates und das Fehlen eines demokratischen Systems ist.

Der Beginn dieser Situation wird auf das Jahr 2011 datiert. Gab es nicht schon vorher ein syrisches Problem?

Es gab schon vor 2011 Probleme, zum Beispiel die 2004 in Rojavayê Kurdistanê [Westkurdistan] hervorgegangene rassistische Politik. Die radikalen Gruppen, die in vielen Regionen auftauchten, hatten ihre Ursache in der religiösen Politik. Es gab ernsthafte Probleme mit Sexismus. Die Situation im Jahr 2011 wurde durch den Bankrott der Nationalstaaten im gesamten Nahen Osten geprägt. Dieser Prozess begann als Arabischer Frühling. Auch in Syrien wurde der Bankrott des Nationalstaates deutlich sichtbar. Der Nationalstaat kann sich nicht mehr selbst verwalten, und es besteht die Notwendigkeit, durch Veränderungen und Transformationen ein neues System zu schaffen. Es gab eine große Blockade, nicht nur für die Kurdinnen und Kurden, sondern für alle Völker Syriens. Interessant ist, dass diese Mobilisierung in Deraa begann. Das zeigt, dass die Probleme in Syrien ein unerträgliches Ausmaß erreicht haben. Dementsprechend kam es 2011 zu einer Volksbewegung und einem Aufstand.

Dieser kann unter zwei Aspekten analysiert werden. Als interner Aspekt basierte dieser Aufstand auf der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Die Menschen hatten viele Forderungen. Die Hauptforderung war Gleichheit. Dazu muss das System geändert werden. Es gab auch Forderungen nach einem Dialog. Denn es herrschte große Armut und Ungerechtigkeit. Es gab keine Freiheit, es herrschte großer Druck. In jeder Region gab es ein Geheimdienst- und Sicherheitssystem. In den kurdischen Gebieten wurde die kurdische Identität verleugnet, es gab wirtschaftliche und demokratische Probleme. In den arabischen Gebieten waren die demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme sehr groß. Gesellschaftliche Identitäten wurden verleugnet. Als all dies zusammenkam, forderten die Menschen die Einrichtung eines Systems, das die Rechte aller Völker in Syrien abdeckt.

Die Verwüstungen brachten eine verwundete Gesellschaft hervor

Welche Schäden haben die Ereignisse seit 2011 verursacht?

Die Krise hat in zwölf Jahren enormes Leid und Zerstörung verursacht. Millionen von Menschen sind geflohen, Hunderttausende wurden getötet und Hunderttausende verletzt. Die syrische Infrastruktur ist verwüstet und einige Städte sind völlig zerstört. Der IS-Krieg und die Verlängerung des Syrienkonflikts haben sich negativ auf die Syrerinnen und Syrer ausgewirkt und sie dazu veranlasst, aus ihrer Heimat zu fliehen. Die Armut hat dies noch verstärkt. Mehr als die Hälfte der Menschen in Syrien lebt in Armut. Auch in den Bereichen Wissenschaft und Bildung hat der Konflikt großen Schaden angerichtet. All diese Zerstörungen haben eine verwundete Gesellschaft geschaffen. Seit zwölf Jahren leben die Menschen mit diesen Problemen, und alle diese Probleme führen zu größeren Krisen.

Wer und welche Kräfte haben in dieser Situation interveniert? Was war die Situation, die zu den ausländischen Interventionen führte?

Hätte die syrische Regierung eine friedliche, demokratische und auf einem Dialog basierende Methode angewandt, wäre die Situation vielleicht anders verlaufen. Die Intervention ausländischer Mächte ist eine Folge des gewaltsamen Vorgehens der Regierung gegen die Volksbewegungen. Bei den ausländischen Interventionen handelten alle nach ihren eigenen Interessen. Die Intervention der Türkei erfolgte über über die Al-Nusra-Front und andere Gruppen. Nach dem Auftauchen des IS griffen die Koalitionstruppen ein. Nach 2015 griff Russland ein. Nach 2014-2015 wandelte sich das syrische Problem eindeutig von einem innenpolitischen Problem zu einem regionalen und internationalen Problem. Da viele Mächte in Syrien vertreten sind, wurde es durch die Beteiligung ihrer Streitkräfte an größeren Konflikten zu einem regionalen und internationalen Problem. Jede Macht wollte den Kräften in Syrien eine Perspektive geben, die ihren eigenen Interessen entsprach. Dies führte dazu, dass sich die Mächte gegenseitig behinderten, was die Krise in Syrien zu einer längeren und schwereren Angelegenheit machte.

In dieser Krise gibt es zwei Seiten, die keinen Willen zeigen, eine Lösung zu finden. Die eine Seite sind die Regierung in Damaskus und die anderen Kräfte innerhalb Syriens. Damaskus hat immer eine Lösung vermieden, und die Kräfte, die sich selbst als Opposition bezeichnen, haben sich mit ihrem ganzen Gewicht hinter ausländische Mächte gestellt. Sie sind unter den Einfluss ausländischer Mächte geraten. Die syrische Koalition, die Oppositionskräfte, Dschaisch al-Hur und die meisten der entstandenen Banden haben sich ins Ausland abgesetzt und betreiben persönliche Politik. Für eine demokratische Lösung der syrischen Krise haben die Kräfte in Nord- und Ostsyrien am meisten getan. Dies wurde jedoch stets ignoriert und außer Acht gelassen. Sie wurden auf keiner internationalen Plattform, auf der über Syrien diskutiert wurde, berücksichtigt. Das führte dazu, dass die Kraft und der Wille für eine Lösung fehlten.

Die zweite Partei sind die internationalen Mächte, die das syrische Dossier für ihre eigenen Interessen nutzen. Sie wollten die Krise mit einer Krise lösen. Die internationalen und lokalen Mächte tragen eine große Verantwortung für das Problem in Syrien. Die Verhandlungen in Genf sind gescheitert, weil sie nicht die richtige Strategie hatten. Astana hat das Problem nicht gelöst, Sotschi auch nicht… Es wurden viele Initiativen entwickelt, aber aufgrund ihrer Eigeninteressen wollen die internationalen Mächte die syrische Krise nicht lösen und verlängern ihre Dauer. Dies hat dazu geführt, dass sich Syrien heute in einer solchen Situation befindet. Aufgrund der Akteure in Syrien und des derzeit fehlenden Willens ist keine Lösung entstanden. Zum anderen spielten die internationalen Mächte eine Rolle; sie wollten das Chaos in Syrien noch vergrößern.

Die Autonomieverwaltung hat ein besseres Modell erschaffen

Inwieweit trägt die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens zu einer Lösungsfindung bei?

Die Autonomieverwaltung hat eine Lösungsinitiative entwickelt. In der aktuellen politischen Situation will sie ihr Lösungsprojekt erneut vorstellen. Die Autonomieverwaltung im Nordosten des Landes ist heute eine wichtige Kraft in Syrien. 30 Prozent der syrischen Bevölkerung befinden sich unter dem Dach der Autonomieverwaltung. Sie haben nicht nur ein Lösungsprojekt, sondern sie haben sich auch durch politischen und militärischen Willen ausgezeichnet. Deshalb ist die Initiative der Autonomieverwaltung wichtig. Die Autonomieverwaltung hat einmal mehr zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht nur für die Menschen in Nord- und Ostsyrien, sondern für das gesamte syrische Volk verantwortlich ist. Sie betont, dass sie selbst auf syrischem Boden lebt und das syrische Problem lösen will.

Die Autonomieverwaltung hat ein fortschrittliches Verwaltungsmodell geschaffen. Dieses wurde jedoch stets ignoriert und missachtet. Es ist offensichtlich, dass eine Lösung ohne eine autonome Verwaltung nicht erfolgreich sein kann. Sie ist das einzige Modell, das allen Völkern Syriens gerecht werden kann, und spielt auch eine wichtige Rolle für die arabischen Länder. Denn aufgrund aller Initiativen und Aktivitäten, die bisher in dieser Hinsicht durchgeführt wurden, hat die Autonomieverwaltung davor gewarnt, die in Astana und Sotschi gemachten Fehler zu wiederholen.