Die türkische Regierung hat den Ko-Bürgermeister von Colemêrg, Mehmet Sıddık Akış, des Amtes enthoben und durch einen Zwangsverwalter ersetzt. Das Innenministerium begründet diesen Schritt damit, dass gegen den DEM-Politiker unter Terrorverdacht ermittelt werde. Ein Prozess wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in einer „Terrororganisation“ sowie „Terrorpropaganda“ gegen den 54-Jährigen ist seit 2014 anhängig. Nun gaben die Behörden bekannt, dass ein neues Verfahren gegen Akış eingeleitet worden sei – ebenfalls wegen der Anschuldigung, der Politiker gehöre einer terroristischen Vereinigung an. Dies sei auch der Grund für die Festnahme des Politikers. Akış wurde am Morgen im benachbarten Wan festgenommen worden. Das Rathaus von Colemêrg war jedoch bereits seit Sonntagabend von einem Großaufgebot der Polizei belagert worden.
Die DEM-Spitze reagierte wütend. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gülistan Kılıç-Koçyiğit sagte auf einer Pressekonferenz in der Parteizentrale in Ankara, die Begründung für die Zwangsverwaltung sei vollkommen erfunden. „Wir haben es mit einem neuerlichen Putsch gegen den Willen des Volkes zu tun. Es liegt keine juristische Legitimation für dieses Vorgehen vor. Das ist ein Angriff auf die Demokratie.“ Kılıç-Koçyiğit teilte zudem mit, dass von heute an vor jedem von der DEM regierten Rathaus sogenannte Gerechtigkeitswachen gegen die Usurpation des Bürgermeisteramtes in Colemêrg stattfinden sollen.
Auch die türkische Oppositionspartei CHP kritisierte die Entscheidung des Innenministers. Ihr Vorsitzender Özgür Özel wertete den Vorgang als „Angriff auf die Demokratie“ und forderte eine sofortige Rücknahme der Entscheidung. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu verurteilte die Absetzung Akışs ebenfalls und kritisierte, dass die Praxis der Zwangsverwaltung ein Todesstoß für politische Selbstverwaltung sei und den Glauben der Menschen in die lokale Demokratie zerstöre. Parteisprecher Deniz Yücel bezeichnete den Schritt als „deutliches Zeichen der Weigerung der Regierung, sich dem Willen des Volkes zu fügen“.
Dritter Putsch gegen kurdische Kommunalpolitik
Der DEM-Politiker Mehmet Sıddık Akış war bei den Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März trotz massiven Betrugsversuchen und des Einsatzes tausender Soldaten als „Geisterwähler“ in Colemêrg mit 48,92 Prozent zum Ko-Bürgermeister gewählt worden. Dass er nun festgenommen und abgesetzt wurde, rufen Erinnerungen an den letzten Kommunalputsch des AKP/MHP-Regimes nach den Wahlen 2019 ins Gedächtnis. Damals waren nahezu alle von der DEM-Vorgängerin HDP regierten Rathäuser unter Zwangsverwaltung gestellt worden, zahlreiche Bürgermeisterinnen und Bürgermeister landeten im Gefängnis. Nach den diesjährigen Wahlen hatte die AKP ähnliches in Wan versucht, indem dort dem Wahlsieger der DEM-Partei die Bürgerrechte entzogen wurden und der unterlegene Kandidat der AKP das Amt übernehmen sollte. Dies scheiterte jedoch an einem massiven Aufstand der Bevölkerung. Die Menschen sind offensichtlich nicht mehr bereit, solche Schritte des Regimes zu tolerieren. In kurdischen Städten und Gemeinden wurden erstmalig 2016 Zwangsverwalter eingesetzt.
Proteste gegen Wahlputsch in Colemêrg
Nach der Festnahme und Absetzung des Ko-Bürgermeisters von Colemêrg (tr. Hakkari) hat es in der kurdischen Provinz und anderen Regionen des Landes wütende Proteste gegeben. In Colemêrg selbst zogen Parlamentsabgeordnete und Verantwortliche der DEM-Partei gemeinsam mit zahlreichen Bewohner:innen sowie Aktiven und Handelnden aus der Zivilgesellschaft mit einem Sternmarsch durch die Stadt, um den „Putsch gegen das Wahlrecht“ anzuprangern und die türkische Regierung zur Rücknahme der Entscheidung aufzufordern. Mehmet Sıddık Akış, der abgesetzte Bürgermeister der DEM, „ist unser politischer Wille“, hallte es in Sprechchören durch Colemêrg. „Wir werden nicht zulassen, dass der Staat das Treuhänderregime erneut gegen die kommunale kurdische Politik als Waffe einsetzt“, sagte der Parlamentarier Onur Düşünmez. Er kündigte eine größere Demonstration für den Abend an, zu der auch die DBP-Vorsitzenden Çiğdem Kılıçgün Uçar und Keskin Bayındır sowie weitere Abgeordnete aus Ankara erwartet werden.