Die Rache Erdogans

Die kurdische Politikerin Sebahat Tuncel hat sich nach ihrer Freilassung in einem Interview mit der italienischen Zeitung “il manifesto” ausführlich zur Bedeutung des “Kobanê-Prozesses” geäußert und erklärt, warum die Freilassung von ihr und ihren Mitstreitern keineswegs eine politische Wende in der Türkei in der Kurdenfrage bedeutet. Im Folgenden dokumentieren wir die Übersetzung des Interviews.

In Ihrer ersten Rede nach Ihrer Freilassung sagten Sie, dass es nicht wichtig sei, aus der Haft entlassen zu werden, und dass es nicht bedeute, frei zu sein. Was haben Sie damit gemeint?

Der „Kobanê-Prozess“ war Teil der antikurdischen Politik des Staates. Die Justiz wurde für politische Zwecke instrumentalisiert und die kurdische politische Bewegung, Freundinnen und Freunde der Kurdinnen und Kurden sowie Sozialistinnen und Sozialisten wurden als Geiseln genommen. Das Urteil des Gerichts bedeutet, dass diese Politik weiterhin von der faschistischen AKP-MHP -Allianz als Waffe gegen die Kurden eingesetzt wird. Der Beschluss des Gerichts zeigt, dass die staatliche Politik gegen die Kurden fortgesetzt wird. Wie Sie wissen, ist die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts, also des 22. Hohen Strafgerichts, nicht endgültig. Der Prozess geht also weiter. Die Freilassung ist also nicht gleichbedeutend mit Freiheit.

Ein weiteres Problem ist die Entscheidung der Türkei, in der kurdischen Frage auf Krieg und Konflikt zu setzen. Die aggressive Politik gegenüber der kurdischen politischen Bewegung und der kurdischen Frauenbewegung hat die politische und wirtschaftliche Krise in der Türkei vertieft, Demokratie und Freiheiten wurden beseitigt. Die chaotische und krisenhafte Situation, in der sich die Türkei heute befindet, kann nicht unabhängig von der kurdischen Frage behandelt werden. Mit der Verleugnungs-, Vernichtungs- und Assimilierungspolitik in der Türkei ignoriert der Staat die Existenz der Kurden und nimmt ihnen ihre Rechte und Freiheiten.

Uns muss klar sein, dass Sondergesetze gegen die kurdische Bevölkerung zur Anwendung kommen. In der Türkei gibt es de facto ein duales Rechtssystem. Dieses schließt die Kurden von der verfassungsmäßigen Staatsbürgerschaft aus. Das wichtigste Gesetz, das gegen die Kurden angewandt wird, ist das Anti-Terror-Gesetz. Alle politischen Aktivitäten, Organisationen und Aktionen der Kurden werden nach diesem Gesetz behandelt und kriminalisiert. Das wird sehr deutlich, wenn man sich die Urteile im Kobanê-Prozess anschaut. Kurz gesagt: Es ist nicht möglich, von Freiheit und Grundrechten zu sprechen, wenn es keine Gedanken-, Meinungs-, Presse-, Organisations- und Aktionsfreiheit gibt. So gesehen bedeutet unsere Freilassung nicht, dass wir frei sind. Sie sollte daher auch nicht bedeuten, dass wir uns mit dieser Situation abfinden. Wir werden weiter für Demokratie und Freiheit, für die Lösung des Freiheitsproblems des kurdischen Volkes und für einen würdevollen Frieden kämpfen.

Ihre Partei nannte all diese Ereignisse einen „Racheprozess“. Was denken Sie, rächt sich die türkische Regierung an der HDP?

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) ist die Partei des gemeinsamen Kampfes der kurdischen politischen Bewegung, der türkischen sozialistischen Bewegung, sowie der demokratischen und freiheitlichen Kräfte. Sie hat eine freiheitliche Perspektive für die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme in der Türkei, insbesondere der kurdischen Frage, der ökologischen Frage und der Frage der Frauenbefreiung. Das Programm der HDP basiert sowohl auf der Demokratisierung der Türkei als auch auf der emanzipatorischen Lösung der kurdischen Frage. Zwischen 2013 und 2015 nahm sie institutionell am Dialog- und Verhandlungsprozess mit Abdullah Öcalan in İmralı teil. Sie hat damit gezeigt, dass sie zu einem Frieden auf dem Verhandlungsweg bereit ist. Die Wahlen im Juni 2015 haben deutlich gemacht, dass die Politik und das Programm unserer Partei eine breite Unterstützung in der Gesellschaft gefunden haben.

Die AKP-Regierung sah in der systemkritischen Haltung der HDP und ihrer friedens- und dialogorientierten Politik eine Bedrohung für ihre eigene Politik, weshalb sie 2015 den Verhandlungstisch für eine Friedenslösung verließ und auf die Kriegspolitik setzte. Während die kurdische Bevölkerung 2014 einen großen Kampf gegen die IS-Banden führte, unterstützten die AKP und ihre Partner dschihadistische Organisationen wie IS und al-Qaida gegen die Kurden. Die türkische Nahostpolitik im Rahmen der neo-osmanischen Politik ist allgemein bekannt. Auch die Unterstützung dschihadistischer Organisationen durch den türkischen Staat in dieser Zeit ist vielen internationalen Mächten bekannt. Die Türkei hat diese Gruppen mit Waffen, wirtschaftlicher und logistischer Hilfe unterstützt. Die Türkei zog die Nachbarschaft mit dschihadistischen Gruppen der mit Kurden vor und verfolgte sowohl innenpolitisch als auch international eine strategische antikurdische Politik, um die Anerkennung des kurdischen Volkes zu verhindern.

Der Dialog der AKP-Regierung mit dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan in İmralı auf der einen Seite und die Unterstützung des IS gegen die Kurden auf der anderen Seite zeigen, dass es der AKP in Wirklichkeit darum ging, die kurdische Politik zu vernichten, anstatt die kurdische Frage zu lösen. Um die wahren Absichten der AKP zu verstehen, wurde noch während des Dialog- und Verhandlungsprozesses ein geheimes Dokument mit dem Namen „Çökertme Planı“ (dt. „Kniefallplan”) ausgearbeitet und in Kraft gesetzt. Dieser Plan zielt nicht darauf ab, die kurdische Frage zu lösen, sondern die kurdische politische Bewegung und die Forderung des kurdischen Volkes nach Gleichberechtigung und Freiheit mit einer Sicherheitsperspektive auszuschalten. Die Nichtanerkennung der Wahlergebnisse von 2015, die Wiederholung der Wahlen am 1. November und die Umsetzung der türkischen Gewaltpolitik gegen die HDP, die kurdische politische Bewegung, die kurdische Frauenbewegung und die demokratische Opposition sind Teil der Nichtlösungspolitik der AKP und des oben genannten Plans. Der Kobanê-Prozess, das Verbotsverfahren gegen die HDP, die Einrichtung von Zwangsverwaltungen in den kurdischen Kommunen und das Isolationsregime gegen Abdullah Öcalan in İmralı werden im Rahmen der Kriegspolitik der AKP fortgesetzt.

Die Solidarität der HDP mit den Menschen in Kobanê und die Befreiung von Kobanê durch diese Solidarität decken sich angesichts dieser Entwicklungen nicht mit den Interessen der AKP. Die Niederlage der IS-Banden in Kobanê bedeutete faktisch die Niederlage der AKP. Aus diesem Grund hat die AKP den Kobanê-Prozess ins Leben gerufen, um die kurdische politische Bewegung und die Sozialisten, die sich mit der Bevölkerung von Kobanê solidarisiert haben, zu bestrafen.

In Ihrer ersten Rede nach Ihrer Freilassung haben Sie über Ihre Gefühle und Gedanken zu Ihren Freunden gesprochen, die noch im Gefängnis sind. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass auch diese in naher Zukunft freigelassen werden?

Damit ihnen und uns allen endlich Gerechtigkeit widerfährt, bedarf es einer neuen Perspektive und einer neuen Strategie des Staates zur Lösung der kurdischen Frage. Ich habe versucht deutlich zu machen, warum die Prozesse gegen die kurdische Bevölkerung politische Prozesse sind. Wenn eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage erreicht werden soll, muss auch die Situation der politischen Gefangenen in den Vordergrund gerückt werden. In allen Ländern der Welt, in denen es nach einem langen Konflikt zu Friedensgesprächen gekommen ist, stand die Frage der politischen Gefangenen ganz oben auf der Tagesordnung.

Derzeit befinden sich mehr als 10.000 kurdische politische Gefangene in türkischen Gefängnissen. Die kurdischen politischen Gefangenen in den Gefängnissen beteiligen sich derzeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Kampagne für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage und für die Freiheit von Abdullah Öcalan. Obwohl die Gefangenen in den Gefängnissen viele Rechtsverletzungen, Unrecht und Ungerechtigkeit erfahren, organisieren sie Aktionen und Aktivitäten, die sich auf die Lösung der kurdischen Frage und nicht auf ihre eigene Situation beziehen. Da sie das Folterregime auf Imrali als Zentrum der Politik der Nichtlösung der kurdischen Frage betrachten, sind sie der Meinung, dass die absolute Isolation, die dem Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, auferlegt wurde, aufgehoben werden muss. Dieser Punkt ist zentral, denn die Aufhebung der Isolation Öcalans und die Aufnahme eines Dialogs mit ihm ist der Schlüssel für einen Perspektivwechsel des türkischen Staates. Da der Staat diesen Schritt aber nicht ohne politischen und gesellschaftlichen Druck gehen wird, kommt der demokratischen Öffentlichkeit und den Freunden der Kurden hier eine große Verantwortung zu. Mit anderen Worten: Wir können die Freiheit unserer Freunde ermöglichen, indem wir gemeinsam diesen politischen Kampf führen und Widerstand leisten.

Welche Rolle haben Frauen bei den jüngsten Versuchen, die kurdische Frage zu lösen, gespielt? Und welche Rolle spielen Frauen Ihrer Meinung nach bei der Demokratisierung der Türkei?

Das Problem der Freiheit der Frauen ist für uns ein strategisch-zentrales Problem. Wir wissen, dass keine Gesellschaft frei sein kann, in der die Frauen nicht frei sind. Deshalb ist es von strategischer Bedeutung, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Teilhabe von Frauen am politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben, ihre Teilnahme an Entscheidungs- und Umsetzungsmechanismen und ihre Rolle bei politischen und sozialen Veränderungen zu gewährleisten.

Die Übergangsphasen vom Krieg zum Frieden sind ein wichtiger Moment für die Befreiung der Frauen. Obwohl sie im Krieg nicht die Entscheidungen treffen, sind Frauen und Kinder die Opfer des Krieges. Die gegenwärtige israelische Kriegspolitik in Palästina führt uns diese Realität schmerzlich vor Augen. Die Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen ist von entscheidender Bedeutung, nicht nur um die durch den Krieg verursachten Zerstörungen zu beseitigen und die Wunden zu heilen, sondern auch um ein neues Leben auf der Grundlage der Freiheit der Frauen aufzubauen.

Für Frauen, die im männerdominierten kapitalistischen System leben, bedeutet jeder Tag ihres Lebens Kampf und Krieg. Das männlich dominierte System lässt Frauen keinen Lebensraum zum Atmen, keinen sicheren Lebensraum ohne Gewalt. Kriegs- und Konfliktprozesse verschärfen die Probleme von Frauen und führen zu einer Systematisierung von Gewalt gegen Frauen, Armut, Zwangsmigration, Belästigung und Vergewaltigung. Der organisierte Kampf von Frauen spielt eine wichtige Rolle bei der Beseitigung der Kriegsschäden und beim Aufbau eines gesunden Lebens. Der Kampf für den Frieden bezieht sich auch auf den Prozess des Aufbaus eines neuen Lebens, der Beseitigung aller durch den Krieg verursachten Schäden und der Heilung der Wunden. Dieser Prozess ist ein schwieriger und langwieriger Kampf.

Als kurdische politische Bewegung und kurdische Frauenbewegung wissen wir, dass sich der Prozess des Friedensaufbaus ohne den organisierten Kampf der Frauen nicht entwickeln kann. Unsere Erfahrungen als kurdische Frauen haben gezeigt, dass der organisierte Kampf der Frauen für die Entwicklung des gesellschaftlichen Friedens unerlässlich ist.

Als Frauenbewegung haben wir trotz aller Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik des Staates bedeutende Erfolge in unserem politischen, sozialen und kulturellen Kampf erzielt. Das System der Ko-Vorsitzenden, die einzigartige und autonome Organisation der Frauen mit gleichberechtigter Vertretung, hat nicht nur das Leben der Frauen verändert, sondern auch zu bedeutenden Veränderungen in ihrem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben geführt. Wir müssen hier die Bemühungen von Abdullah Öcalan hervorheben, der in der kurdischen Freiheitsbewegung der Freiheitsfrage der Frauen stets eine große Priorität eingeräumt hat.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass es nicht möglich ist, Frauen durch Mechanismen zu schützen, an denen sie nicht selbst beteiligt sind und über die sie nicht selbst entscheiden können. Als kurdische Frauenbewegung sind wir uns dieser Tatsache bewusst und versuchen, die Zukunft der Frauen zu sichern, indem wir uns in politischen Parteien, gemischten Organisationen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen, kurz in allen Lebensbereichen, organisieren. Das ist das Ergebnis des Kampfes und der Arbeit der Frauen und der Linie der kurdischen politischen Bewegung für die Freiheit der Frauen.

Gibt es abschließend noch etwas, was Sie der internationalen Gemeinschaft und der Öffentlichkeit sagen möchten?

Wie Sie wissen, ist Kurdistan geographisch in vier Teile zwischen den Nationalstaaten Iran, Irak, Syrien und Türkei aufgeteilt und das kurdische Volk ist der Unterdrückungs- und Gewaltpolitik dieser vier Nationalstaaten ausgesetzt. Europäische Länder, insbesondere Großbritannien und Frankreich, haben eine wichtige Rolle bei der Aufteilung des Mittleren Ostens in Nationalstaaten gespielt und damit den Mittleren Osten zu einem Zentrum von Gewalt und Konflikten gemacht. Die Kurdenfrage ist daher auch ein internationales Problem. Und ihre Lösung kann nur auf internationaler Ebene gefunden werden. Das von den Kurden zur Lösung des Problems vorgeschlagene demokratische autonome Kurdistan, die demokratische Republik, die demokratische Konföderation des Mittleren Ostens ist ein wichtiges Projekt sowohl für die Lösung der kurdischen Frage, für die Demokratisierung der Staaten, in denen die Kurden leben, als auch für Frieden und Demokratie unter den Völkern des Mittleren Ostens. Dieses Projekt wird sowohl die Lösung der kurdischen Frage als auch den Frieden im Mittleren Osten als auch das solidarische Zusammenleben der Völker des Mittleren Ostens ermöglichen.

Die Türkei bringt bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck, dass sie der Europäischen Union beitreten möchte. Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ist nur mit einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage möglich. Wenn also die europäischen Staaten und die internationalen Mächte die Türkei zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage und zur Demokratisierung auffordern und sie dabei unterstützen, kann dies ein Anreiz für die Türkei sein, Schritte in diese Richtung zu unternehmen.

Die Anerkennung der Existenz der kurdischen Bevölkerung durch die internationale Gemeinschaft und die Wiederherstellung seiner Rechte sowie die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Kurden als grundlegendes Menschenrecht werden zur Lösung der kurdischen Frage in allen vier Teilen beitragen. Insbesondere die Anerkennung des Status von Rojava, also von Nord- und Ostsyrien, würde auch die Türkei dazu drängen, neue Schritte für die Lösung der kurdischen Frage zu tätigen.

Das Interview ist zuerst am 8. Juni bei il manifesto erschienen.