Das Selbstbestimmungsrecht der Völker neu definieren

Abdullah Öcalan analysiert selbstkritisch die etatistische Interpretation des Selbstbestimmungsrechts der Völker, 11.07.2017

Ein (…) bedeutender Fehler der PKK rührte von ihrer Definition der Nation und des nationalen Befreiungskampfes her. Wie ein quasi-religiöses Gebot hatten wir auswendig gelernt, dass der Weg zur Bildung einer Nation über einen nationalen Befreiungskampf führt. Die Klassiker des Sozialismus und die zeitgenössischen Kriege befahlen dies. Ohne Nation zu sein, würden wir weder Freiheit noch Gleichheit erlangen, der Weg in die Moderne bliebe versperrt. Der Weg dahin führte über einen mit ganzer Kraft geführten nationalen Befreiungskrieg in drei Stufen: Strategische Verteidigung, strate­gisches Gleichgewicht und strategischer Angriff. Mit diesem Ziel vor Augen machten wir uns auf den Weg ins Ausland, in die Berge, ins Gefängnis, in die Dörfer, Städte, überallhin. Da wir mit einem Dogmatismus an die Sache herangingen, wie er den mittelöstlichen Menschen quasi in Fleisch und Blut übergegangen ist, würden wir schließlich einen nationalen Befreiungskrieg führen. Es erschien uns als der einzig würdevolle Weg, um zur Nation zu werden. Krieg war zu einem heiligen Begriff geworden, der für uns wichtiger war als der dschihad für die Muslime. Offenbar waren wir hier wie auch in anderen Punkten der Krankheit des Dogmatismus erlegen.

Wenn wir den Krieg als Phänomen analysieren, so ist er eine Krankheit, die eigentlich nicht mit der menschlichen Gesellschaft zu vereinbaren sein sollte. Außer erzwungener Verteidigung ist keine Art des Krieges akzepta­bel. Seinem Wesen nach ist er böse und räuberisch. Egal, hinter welchen Masken man ihn auch verstecken mag, Diebstahl, Herrschaft und Plün­derung gehören zu seiner Natur. Er beruht auf der Überzeugung, durch Eroberung jegliches Recht zu erwerben. Insofern stellt der Krieg die größte Katastrophe und die größte Geißel der menschlichen Gesellschaft dar. Wir hatten nicht in seiner ganzen Tragweite erkannt, dass Krieg überhaupt nur dann einen Sinn haben kann, wenn es keinen anderen Weg mehr gibt, die Existenz, die Freiheit und die Würde zu wahren. Was wir unter nationalem Befreiungskrieg verstanden, beinhaltete einmal mehr die Eroberung. Nur allzu leicht konnte er über die legitime Verteidigung hinausgehen und sich in einen Rachefeldzug und einen gegenseitigen Schlagabtausch verwandeln. Darüber machten wir uns damals keine Sorgen. Wenn wir uns jedoch über den legitimen Selbstverteidigungskrieg mehr Gedanken gemacht hätten und zwischen seiner Theorie, Strategie und Taktiken und allen anderen Arten des Krieges unterschieden hätten, hätten zweifellos viele Fehler, Verluste und Leid vermieden werden können. Objektiv gesehen sprach vieles dagegen, alle Hoffnung in einen nationalen Befreiungskrieg zu setzen, den wir dann gewinnen mussten.

Wenn man die Weltlage, die Kräfteverteilung und Faktoren wie die Logistik betrachtet, so war die Chance, einen riskanten nationalen Befrei­ungskrieg zu gewinnen, von Zufällen abhängig. All dies sahen wir nicht, und so dauerte der Krieg 15 Jahre an, wobei er sich nach 1995 in extremer Weise selbst wiederholte. Man kann nicht sagen, dieser Krieg habe nichts Positives hervorgebracht. Aber dass wir ihn als einzigen Weg dachten und praktizierten, brachte viele sinnlose Verluste und das Scheitern andersartiger Bemühungen mit sich. Die Drei-Stufen-Strategie war dabei ein Musterbei­spiel für Dogmatismus. Ein realistisch angelegter Verteidigungskrieg mit der geographischen Lage Kurdistans und den Beziehungen zur Bevölke­rung angemessenen Stützpunkten und Taktiken hätte zwar sicherlich nicht zu einem Staat, aber zu einer konsequent demokratischen Lösung führen können. (…) Der Krieg ist ohnehin ein schmutziges Handwerk, und insbesondere sein dogmatischer Einsatz für die nationale Befreiung brachte diese Erscheinungen hervor. Es entstand die Gefahr, dass alle Arten von Nationalismus geschürt werden, Tendenzen zu Separatismus und blinder Gewalt zunehmen und sich das gesellschaftliche Chaos verschlimmern könnten.

Wenn wir dagegen den Nationenbegriff nicht fetischisiert hätten, ihn als eine lockere gesellschaftliche Form definiert und uns auf den viel entschei­denderen Punkt konzentriert hätten, nämlich als demokratische, egalitäre und freie nationale Gemeinschaft zu leben, hätten wir zu Resultaten kom­men können, die mehr Verständnis für die Wirklichkeit hätten erkennen lassen. Eine vereinte Nation, einen kompletten Staat zu besitzen konnte nicht das größte Ideal sein. Die Frage nach der Demokratie sollte Vorrang vor dem Leben unter dem Dach eines Staates haben. Der Krieg wäre nicht der einzige Weg zu diesem Ziel gewesen, allenfalls ein Verteidigungskrieg wäre sinnvoll gewesen. Vielmehr wären die verschiedensten Arten von Or­ganisierungen und Solidarität möglich gewesen. So hätte man Freiheit und Gleichheit verwirklichen können, ohne entweder dem Nationalismus der unterdrückenden oder der unterdrückten Nation zu verfallen und ohne Separatismus und Gewaltexzesse zuzulassen. Aber die dogmatische Interpre­tation des Selbstbestimmungsrechts der Völker verhinderte, die Vielfalt der möglichen Lösungsalternativen zu sehen. Der oligarchische Nationalismus wurde fürchterlich angefacht, und seine Protagonisten betrachteten dies als unvergleichliche Gelegenheit, ökonomisch und politisch zu profitieren.

Es hätte zu einer für beide Seiten positiven Lösung führen können, wenn die Kurden durch ihre Politik und ihre Aktionen bewiesen hätten, welch strategisch unverzichtbares Element sie als eine freie nationale Gemeinschaft in einer gemeinsamen Heimat und unter dem Dach desselben Staats für die Einheit des Landes und für den Nationalstaat Türkei sind. Dass von Anfang an derartige Varianten einer Lösung nicht in Betracht gezogen wurden, hängt mit dem hier geschilderten Verständnis von Partei, Macht, Staat, Nation und dem Krieg für diese Ziele zusammen.

Während der Zeit auf Imrali hatte ich Gelegenheit, alle diese Fragen mit einem gewissen Abstand neu zu durchdenken. Ich habe den Marxismus von Neuem analysiert, genauso wie andere Utopien von Freiheit und Gleich­heit und die Begriffe Staat, Demokratie, Macht und Krieg. Ich hoffe, den Dogmatismus weitgehend überwunden zu haben, heute realistischere Definitionen von Staat, Macht, Krieg, Nation und Nationalstaat zu verwenden und so auf einen Lösungsweg für eine demokratische Gesellschaft verweisen zu können. Dabei handelt es sich nicht nur eine strategische und taktische Wende. Dahinter stehen paradigmatisch-theoretische Überlegungen, die fest im wissenschaftlichen Denken verwurzelt sind und ein reicheres politisches Denken und eine andere Art des Parteiaufbaus ermöglichen. Dazu gehören die Überwindung der Krankheit des Etatismus, die einhundertfünfzig Jahre lang den Sozialismus prägte, die Abkehr vom bürgerlichen Nationenbegriff, der grundlegende Bezug auf die kommunale und demokratische Gesell­schaftlichkeit und die entsprechende Neuausrichtung des Ideals von Freiheit und Gleichheit durch diese radikale Wende.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.


Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.