Der Journalist Veysi Sarısözen zu den deutsch-türkischen Beziehungen im Kontext des PKK-Verbots, für den Kurdistan Report Juli/August 2017
Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel klopfte seinerzeit oft an die Tür der Türkei, saß zusammengekauert auf dem großen goldenen Thron und kultivierte die Freundschaft zu Tayyip Erdoğan. In letzter Zeit kommt sie nicht mehr in die Türkei. Was ist der Grund für ihr »Fernbleiben«? Ich denke, Deutschland steht unter dem Druck der Öffentlichkeit. Der deutsche Staat, die oppositionellen Parteien und Kreise innerhalb der CDU und in ihrem Umfeld scheinen trotz der ganzen Interessenpartnerschaft den Glauben an Erdoğan verloren zu haben. Die Krise um Incirlik wie die Unterstellung der Agententätigkeit des Journalisten Deniz Yücel scheinen als letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Was passiert in der Türkei? Diese Frage scheint gegenwärtig etwas verfehlt zu sein.
Denn unsere erste Frage müsste lauten: Was passiert in Deutschland? Mir stellt sie sich aufgrund des Statements des deutschen Außenministers Gabriel in der Bild am Sonntag vom 4. Juni, kurz vor seinem Türkei-Besuch: »Die PKK ist auch bei uns eine verbotene Organisation, weil sie in Waffen- und Drogenhandel und Schutzgelderpressung tief verwickelt war. Es ist also durchaus auch in unserem Interesse, deren Finanzströme trocken zu legen und ihr auf deutschem Boden keine Spielräume zu lassen. Das ist ein Punkt, den die Türkei zurecht anspricht.« Es hieß, er gehe zum »letzten« Gespräch, um die Incirlik-Krise zu lösen. Er spielte am Verhandlungstisch den Trumpf aus, der PKK die »Finanzströme trocken zu legen und ihr auf deutschem Boden keine Spielräume zu lassen«. In dem Handel »Gib mir die Besuchserlaubnis für meine Soldaten und ich vernichte deinen Hauptfeind« hat der deutsche Außenminister den »PKK-Trumpf« ziemlich »billig« abgelegt. »Die Vernichtung der PKK gegen die Besuchserlaubnis« wirkte auf mich wie ein ziemlich lächerlicher Handel.
Denn das wird ein Deal, der den deutschen Staat in Schwierigkeiten bringen wird. Das PKK-Verbot in Deutschland wurde am 26. November 1993 verhängt. Und in diesem knappen Vierteljahrhundert ließ sich nicht die kleinste »Terror«-Aktivität der PKK gegen den deutschen Staat oder seine Staatsbürger beobachten. Und den vom deutschen Verfassungsschutz veröffentlichten Statistiken zufolge hat die PKK trotz Verbot ihren Einfluss und ihre Mitgliederzahl ausgebaut.
In dieser Situation hat der deutsche Staat entweder in seinem »Kampf« gegen die »Terrororganisation« PKK eine ziemliche Niederlage erlitten, oder er hat keine Gefahr darin gesehen, ihr auf seinem Territorium »Spielraum« zu lassen, da er wusste, dass es nicht der Realität entsprach, sie in die »Liste der Terrororganisationen« aufzunehmen.
Der türkische Staat behauptet, Letzteres sei der Fall. Doch es ist offensichtlich, dass die Regierung Merkel über genug Erfahrung verfügt, um zu erklären: »Wir versuchen seit einem Vierteljahrhundert, der PKK auf deutschem Boden keinen Spielraum zu lassen, aber da wir das nicht bewerkstelligen konnten, hat unser Außenminister nun für die Zukunft Erfolg versprochen.« Kein Staat in Europa würde eine solche Niederlage einräumen wollen. Und vorerst würde auch keiner sagen: »Wir wissen, dass die PKK keine Terrororganisation ist, deshalb drücken wir ihrer Existenz gegenüber ein Auge zu, wenn auch nicht offiziell, aber de facto.«
… ein »an beiden Enden verdreckter Stock«
Es ist, wie es ein türkischer Ausdruck umschreibt, ein »an beiden Enden verdreckter Stock« … Am einen Ende steht geschrieben »Wir haben die PKK nicht besiegen können«, am anderen Ende »Wir wissen, dass sie keine terroristische Organisation ist, darum lassen wir ihr in unserem Land Bewegungsfreiheit«. Ich persönlich denke, dass beide Notizen richtig sind. Lasst uns noch einmal zum Anfang zurückkehren.
Welches Ergebnis hatte der Handel des deutschen Außenministers mit Erdoğan? Ein vollständiges Fiasko. Die türkische Regierung hat mit großer Gelassenheit Deutschland hinauskomplimentiert: »Macht, was ihr wollt.« Und nun wird die Incirlik-Krise höchstwahrscheinlich mit dem Abzug der deutschen Soldaten aus dem Stützpunkt enden. Erdoğan scheint das Versprechen »kein Spielraum für die PKK« nicht geschluckt zu haben. Die Schmach dieses schmutzigen Deals fällt der Regierung Merkel zu. Allein diese aktuelle konkrete Entwicklung spiegelt sehr gut wider, was in der Türkei passiert. Wenn auch nicht der türkische Staat, so doch die türkische Regierung und die Clique um Erdoğan lösen sich schnell vom Westen. Ihr denkt doch wohl nicht, dass die Incirlik-Krise wegen des Besuchsverbots für deutsche Abgeordnete ausgebrochen ist? Sie ist eine der unausweichlichen Folgen des Krieges in Syrien. Die in den »Tiefen« des Staates eingenistete »eurasische« Clique schleift die Türkei statt in das NATO-Bündnis zur russisch-chinesisch-iranischen Achse. Dabei ist die »große Angst« Erdoğans, von den »globalen Kräften« früher oder später bestraft zu werden, ein subjektiver treibender Faktor. So ist er, der seit geraumer Zeit die Wirtschaftskrisenmedizin von »Katar« erhielt, nun mit einer großen »Gefahr« konfrontiert, die diese Präferenz mit sich brachte. Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich in Begleitung von Trumps »Säbelrasseln« gegen Katar in Bewegung gesetzt. Thema ist die Unterstützung Katars für die »Muslimbruderschaft«. Die wird bekanntlich von den Saudis, den Golfstaaten und Ägypten als »Terrororganisation« definiert. Und die ganze Welt ist informiert über die engen Beziehungen Erdoğans zu den Muslimbrüdern.
Republik Türkei als »trojanische Pferd Russlands«
Der türkische Staat fiel auf den »verfrühten arabischen Frühling« wie ein dummer Pflaumenbaum herein, öffnete all seine Blüten, die dann mit dem folgenden Frost des Islamischen Staates (IS) ruiniert worden sind. (Der Pflaumenbaum ist ein früh im Jahr blühender Baum, daher wird er naiver, dummer Baum genannt, weil die Blüte durch die dann oft folgende Kälte ruiniert wird.)
Als hingegen die solche Kälte gewöhnte Rojava-Revolution bewiesen hatte, dass sie die erste Alternative gegen den IS-Terror im Mittleren Osten ist, verlor Erdoğan alle seine Ansprüche in Syrien und dem ganzen Mittleren Osten. Das bedeutete gleichzeitig auch den Zusammenbruch der »südöstlichen Flanke«. Nun versetzen Sie sich mal in die Lage der Staaten, die die »Spitze« der NATO bilden. Was würden Sie von einem NATO-Mitgliedsstaat halten, der die NATO im Mittleren Osten in eine unvorstellbare Krise stürzte, sich damit nicht begnügte und bei Putin die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis gegen die NATO namens »Schanghai 5« beantragte und, noch schlimmer, russische Flugabwehrraketen vom Typ S-400 kaufen wollte, die gegen die NATO-Stützpunkte, Incirlik mit eingeschlossen, entwickelt worden waren?
Die USA und ihre Verbündeten, die immer wieder Vorkehrungsmaßnahmen gegen die »Nuklear«-Waffen Nordkoreas treffen, betrachten die Türkei nun als das »trojanische Pferd Russlands« in der NATO. Nun versetzen Sie sich mal in die Lage Erdoğans. Was würden Sie an seiner Stelle unternehmen, unter Einbeziehung des oben Geschriebenen?
Wenn ich an seiner Stelle wäre und einen Kopf wie Necip Fazıl hätte, der aus antizionistischen und antiwestlichen Ideologiegespinsten gestrickt wäre, würde ich genau all das auch machen, was Erdoğan macht.
Zuerst hat er der revolutionärsten und demokratischsten Kraft des Landes, der kurdischen politischen Bewegung, den »Krieg erklärt«. Als seine Partei bei der Wahl vom 7. Juni 2015 die Mehrheit verlor, warf er all seine »Lösungsschritte« auf den Müll und brach den Krieg vom Zaun. Unter Kriegsbedingungen gewann er die Wahl am 1. November 2015, indem er die Gesellschaft terrorisierte. Nicht genug damit, anschließend etablierte er mit einer »Putsch«-Provokation analog zum Berliner Reichstagsbrand von 1933 das Ausnahmezustandsregime, das der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kılıçdaroğlu zu Recht als »Putsch der AKP« charakterisiert.
So wie die Türkei mit der Provokation des »Polizistenmordes in Ceylanpınar« die Wahl vom 1. November 2015 angetreten hatte, so ging sie mit der »Putschprovokation« vom 15. Juli 2016 in das vom »Ein-Mann«-Regime aufgezwungene Referendum. Alle Welt weiß, dass Erdoğan seine Macht mit illegalen Methoden sichert. Und er weiß auch, dass diese »orientalischen Spielchen« bekannt sind. Wären Sie an seiner Stelle, dann würden Sie leicht verstehen, dass Ihnen keine andere Option außer dem Faschismus bleibt. Alles wird so, wie es sein muss. Noch ist nicht bekannt, wie das »Ende« aussehen wird. Staaten sind für moralische Werte unempfänglich. Der Handel wird weiter andauern. Ich erwarte Folgendes: Die Möglichkeiten Erdoğans für einen »Kompromiss« mit dem Westen sind verbraucht. Sobald er sich einigt, wird er zusammenbrechen. Selbst wenn er das nicht weiß, seine Berater wissen, dass dieses Ende schicksalhaft ist. Aus diesem Grund erklärt diese Clique, dass es auf dem Weg des »Ein-Mann«-Systems keinen Stopp gibt, sondern immer weitergehen muss. Ich finde, sie liegen richtig. Ich erinnere mich an den Roman des österreichischen jüdischen Schriftstellers Stefan Zweig »Der Amokläufer«. Erdoğan und seine Gehilfen sind die Amokläufer, die »auf das Fahrrad gestiegen« sind. »Wenn sie stehen bleiben, werden sie fallen und sterben, wenn sie weiterfahren, werden sie sterben, ohne den Bestimmungsort erreicht zu haben.« Wie heißt es an den Pforten türkischer Friedhöfe: »Jeder wird den Tod schmecken.«