Eine Analyse von Harun Ercan zu dem Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan (Nordirak), 29.06.2017
Im Grunde befinden wir uns in einer „Staats“-Gründungsphase, die wir als dritte Welle bezeichnen können. Beginnen wir mit der Frage, warum wir das Wort “Staat” in Anführungszeichen gesetzt haben. Es geht nicht um den Zerfall und Aufbau des Nationalstaates im klassischen Sinne. Mit “Staat” meinen wir das Herausbilden von neuen Gebilden und politischen Bauten, die über einen bestimmten Teil Boden souverän sind und de facto die Souveränitätskarte der Welt verändern – ob sie vom internationalen System anerkannt oder nicht anerkannt werden. Wir befinden uns in einer Phase, in der Völker ohne irgendeinen Status Autonomie und diejenigen, die einen Status haben, noch mehr Unabhängigkeit fordern. Die Initiative für das Hervortreten dieser Welle liegt nicht bei einer internationalen Kraft. Dort lag sie auch nie. Es ist keine Phase, die verhindert, sondern nur geleitet werden kann. Natürlich nur, wenn keine großen Kriege auftreten.
Die erste Welle begann nach dem Ersten Weltkrieg. Die imperialen Regime stürzten nacheinander zusammen. Die zweite Welle ereignete sich während des Kalten Krieges (1945-91). Die Hauptdynamik, die diese Wellen auslöste, waren die Phasen des Aufstiegs, der Konsolidierung und des Abstiegs, welche die Kraft, die mit ihrer Hegemonie das Weltsystem formte, in Hinsicht auf Politik und Wirtschaft erlebte. Diese Wellen werden durch das militärische Wachsen, die aggressive Politik und die wirtschaftliche Schrumpfung der hegemonialen Kraft erzeugt, die sich im Niedergang befindet. Wir wollten anmerken, dass sich historisch betrachtet die Phasen des Abfall und der Dämpfung nicht in ein paar Jahren, sondern in einer Zeit von 10 Jahren ereignen. Die erste Welle war die Phase des Übergangs der Welthegemonie von England zu den USA. Die zweite Welle war der Höhepunkt der US-Hegemonie. Zu Beginn dieser Zeit gab es 50 Mitglieder der UN, am Ende dieser Phase hingegen 179. Es ereignete sich eine revolutionäre Phase in der sich nationale Befreiungsbewegungen wie niemals zuvor in der Weltgeschichte ausbreiteten. Diese Phase hat die USA eigentlich so geleitet ohne die von den USA, der Sowjetunion und den Kolonialisten gezeichneten Grenzen zu stören. Die dritte Welle hingegen ereignet sich in dieser Phase, in der sich Jahr für Jahr die politische und ökonomische Macht zwischen USA und China zunehmend verschiebt. Folglich werden die Tendenzen zur Autonomie und Unabhängigkeit von ethnischen oder religiösen Gruppen, die sich auf der ganzen Welt zeigen, den kommenden zehn Jahren ihren Stempel aufdrücken.
Man kann die Unabhängigkeitsreferenden in Europa, aber auch die die Transformationen der Kurden in den vier verschiedenen Nationalstaaten auf dieser Makroebene verordnen. Im Iran nutzen die Kurden, denen dort keinerlei politische Tätigkeit erlaubt ist, politische Möglichkeiten für einen Kampf um einen Status. In Syrien wurde mit der Rojava-Revolution eine de-facto-Souveränität aufgebaut. In der Türkei dauert der Kampf der Kurden für demokratische Autonomie weiter an und im Irak ist die Stufe von einer anerkannten Autonomie in Richtung Unabhängigkeit erreicht.
Genau an diesem Punkt gibt es einige Fragen, die sich die Kurden stellen müssen: Wie muss der politische Überbau der Freiheit aufgebaut werden? In Form von Autonomie oder des Nationalstaats? Es ist wichtig anzumerken, dass dies keine Prinzipienfragen sind, sondern konjunkturelle.
Denn es kann keine Grundsatzdiskussion über das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes geben, das in beiden Wellen keine Freiheiten erlangen konnte, dessen Identität nicht anerkannt wird, das andauernd der Gewalt ausgesetzt ist und in jedem Teil verschiedene Massaker und Genozide erlebt hat. Deshalb stellen wir eine konjunkturelle Frage: Wofür, für wen und wann muss die politische Form der Freiheit aufgebaut werden?
Wenn wir von der Möglichkeit der Unabhängigkeit sprechen, geben uns die Erfahrungen der Völker, die den heutigen Weg der Kurden in der zweiten Welle beschritten haben, viele wichtige Auskünfte. Es ist ein sehr erleichternder Faktor, wenn der Überbau, der die bürokratischen Institutionen und Mechanismen steuert und der Gesellschaft eine bestimmte Repräsentationsmöglichkeit gibt, bereits vor der Unabhängigkeit aufgebaut wird. Sonst kann die Unabhängigkeit, aufgrund von Bürgerkrieg mittelfristig einem Chaos gleichkommen. Zudem muss gewährleistet sein, dass eine wirtschaftliche Ordnung vorhanden ist, die sich selbst genügt, um nach der Unabhängigkeit nicht von äußeren Kräften abhängig zu sein. Außerdem darf diese Ordnung keine Grundlage für eine Politisierung des Glaubens bieten. Die Ordnung darf keine Grundlage für Korruption bieten und muss einen neuen Bürgerkrieg verhindern. Der Überbau muss zudem über ein Wertesystem bzw. eine Legitimationsquelle verfügen, um den Zusammenhalt der Gesellschaft über ethnische und religiöse Bindungen hinaus sowie eine Sicherheitsventilfunktion in Gefahrsituationen zu bieten – oder zumindest der Gesellschaft glaubhaft versichern, dass es so etwas in naher Zukunft geben wird. Es gibt sehr wenige historische Beispiele, in denen diese Phase ordentlich überstanden wurde. Und wenn es nur darum geht im internationalen Staatensystem anerkannt zu werden, ist davon keiner der oben genannten Punkte eine Bedingung. Wo lässt sich das Unabhängigkeitsreferendum in diesem Lichte verorten?
Im Wesentlichen gab es für den politischen Willen in Kurdistan seit der Verabschiedung der neuen irakischen Verfassung im Jahr 2005 ernsthafte Chancen und Ressourcen, um die ersten beiden Bedingungen zu erfüllen, also in der Praxis ein Land aufzubauen. Diese Aufbauphase, die gewährleistet, dass die Unabhängigkeitsphase unproblematisch und ohne Konflikte verläuft, wurde mit einer teilweisen Erhöhung der bürokratisch-militärischen Kapazität, einer Spezialisierung im Mietmanagement und einem unstabilen Bauprozess durchlaufen. In der dritten Dynamik, also der eigenen Gesellschaftswerdung, hat sich das schlechte Zeugnis der südkurdischen Regierung während der Angriffe des Islamischen Staates am klarsten gezeigt. Kurz gesagt fällt es, wenn man das Phänomen der Unabhängigkeit nicht als ein “Ereignis” oder einen “Moment”, sondern als eine “Phase“ bewertet, einem schwer zu sagen, dass die verfügbaren Quellen und Bündnisse in Südkurdistan erfolgreich genutzt wurden. Deshalb schreitet dieser Prozess auf eine ziemlich zerbrechliche Art und Weise im Mittelpunkt des regionalen politischen Chaos und ohne genügende diplomatische Legitimität, also risikoreich und intensiv voran. Wenn das Referendum abgehalten werden sollte, wird sich am nächsten Tag an diesem Durcheinander nicht viel verändert haben.
Heute hat die UN 193 Mitglieder. Wenn nach dem Referendum alles wie geplant läuft, wird die Zahl mit Südkurdistan 194 betragen. Das wird für die Südkurden die Erfüllung des jahrhundertelangen Traums aller Kurden bedeuten. Unsere aktuell wichtigste Angelegenheit ist unser Unwissen darüber, ob sich die südkurdische Regierung über die Ernsthaftigkeit und Schwere dieses Traums im Klaren ist. Es wird sich in nicht allzu langer Zeit zeigen, ob das scheinbar Mögliche im Grunde ein Risiko ist oder nicht.
Im Original ist die Kolumne am 26.08.2017 unter dem Titel “Bağımsızlık referandumu: Fırsat mı, risk mi?” in der Tageszeitung Yeni Özgür politika erschienen.